Sind die Deutschen noch deutsch?

Nicht nur Hans-Dieter Gelfert wundert sich über die heutigen Deutschen. Sie selber wundern sich auch - aber nicht zu sehr

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, was "deutsch" sei, bleibe immer aktuell. Meinte der große Nietzsche. Sinngemäß jedenfalls. Sechzehn Jahre nach der staatlichen Einheit scheint sie mal wieder höchst aktuell. Man muss nur deutsche Zeitungen lesen. Besinnungsaufsätze allerorten - oft Befreiungsversuche von "Deutschland peinlich Vaterland" hin zu einer "Normalität", vor der niemand mehr Angst haben müsse. In den Buchhandlungen liegt Neues zum Thema: "Das Deutschlandgefühl. Eine Heimatkunde", "Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet", "Bei Hempels auf dem Sofa. Auf der Suche nach dem deutschen Alltag" und noch hundert Bücher mehr. Sollte man alles mal lesen. Beginnen könnte man mit einem Taschenbuch: "Was ist deutsch?" von Hans-Dieter Gelfert.

Es sei gleich ausgeplaudert: Das Buch ist gut und jeder Diskussion wert, es ist anregend geschrieben und informiert, wie sein Untertitel "Wie die Deutschen wurden, was sie sind" zutreffend ankündigt, auf knappem Raum über historische Zusammenhänge, zu denen man ganze Bibliotheken schreiben könnte. Im Anhang auch darüber, dass zum Thema "Was ist deutsch?" bereits ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden sind - und dass der Tübinger Volkskundler Hermann Bausinger erst vor fünf Jahren mit "Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?" ein exzellentes Buch zum Thema vorgelegt hat. Wie Bausinger bezieht sich auch der Berliner Anglist, Übersetzer und Sachbuchschreiber Hans-Dieter Gelfert, unter anderem Verfasser der Bücher "Typisch amerikanisch" und "Typisch englisch", auf zahlreiche Vorgänger, vor allem auf Schriftsteller und Gelehrte aus aller Herren Länder. Aber er traut deren Urteilen nicht unbesehen. Die deutsche Gegenwart ist ja oft wenig deutsch. Sind auch die heutigen Deutschen ein Volk von Pflichtbewussten, Pünktlichen und Fleißigen? Oder die Faulsten der Welt, mit zahlreichen Feiertagen, wochenlangen Urlauben, kräftigen Gehaltszulagen für nichts und wieder nichts und üppigen Beamtenpensionen? Oder stimmt am Ende beides? Sympathisch ist, dass Gelfert gleich auf der ersten Seite verdeutlicht, dass alle Aussagen über die Mentalität eines Volkes "auf schwankendem Boden" stehen und allen Versuchen einer historischen Erklärung typischer Merkmale einer Nation "etwas Spekulatives" anhaftet. Trotz dieser grundlegenden Vorbehalte aber könne man durchaus zu zeigen versuchen, "dass Reste einer jahrhundertelangen Prägung auch heute noch das deutschen Denken und Fühlen beeinflussen". Und genau das macht Gelfert dann auch - und er macht es gut.

Erst einmal räumt er mit altmodischem Unsinn auf, den speziell Briten bis heute gerne von sich geben, der aber auch anderen europäischen Nachbarvölkern nicht fremd ist. Autoritätshörigkeit sei den heutigen Deutschen kaum noch nachzusagen, mit der Arbeitswut stehe es nicht zum Besten, Militarismus und Nationalismus spielten kaum noch eine Rolle, und Humorlosigkeit kennzeichne dieses Volk bestimmt nicht. Vielmehr hielten sich die Deutschen, denen das dem Gedächtnis der Welt unauslöschlich eingeprägte Bild vom bösen Hitler-Deutschland sehr wohl bewusst sei, heute für ganz normale Europäer, die in Frieden ihr Geld verdienen und es ausgeben wollen. Der deutsche Michel mit der Zipfelmütze habe zur Charakterisierung deutscher Mentalität ebenso ausgedient wie Faust oder Hamlet. "Das gesamte deutsche Alltagsleben ist geprägt von der nüchternen Beschränkung auf das Zweckmäßige und Lebensnotwendige sowie durch das weitgehende Fehlen von Konventionen und Ritualen". Und allen gesellschaftlichen Missständen und politischen Fragwürdigkeiten zum Trotz müsse auch der letzte Skeptiker anerkennen: "Deutschland ist heute eine der freiesten, gerechtesten und modernsten Demokratien der Welt". Das musste wohl einmal deutlich gesagt werden, und hoffentlich stimmt es denn auch.

Jetzt aber kommt der interessanteste Teil des Buchs, sechzig mit "Urworte, deutsch" überschriebene Seiten. Hier werden "Wertbegriffe, die für eine Nation typisch sind, ohne dass sich deren Angehörige dessen bewusst sind", mit ständigen Seitenblicken auf Franzosen, Briten und Nordamerikaner aufgespießt, hinreichend erklärt und aus der spezifisch deutschen Geschichte hergeleitet. Wer nur das Pizza- und Döner-Deutschland mit vielem oft unerhört unhöflichen Volk vor Augen hat, mag sich ein wenig wundern über die Auswahl dieser Begriffe. Doch Gelferts hervorragende, mit guten Beispielen plausibel gemachte Skizzen über Heimat, Gemütlichkeit, Geborgenheit, Feierabend, Verein, Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, Tüchtigkeit, Fleiß, Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit, Pflicht, Treu und Redlichkeit, Schutz und Trutz, Innigkeit, Einfalt, Weltschmerz, Sehnsucht, Tiefe, Ursprung, Wesen, Ehrfurcht, Tragik, Totalität, Das Absolute, Staat, Wald und Weihnacht führen ins Zentrum dessen, was zum Thema zu sagen ist.

Man erfährt, warum der deutsche Arbeitnehmer nicht so mobil ist wie der amerikanische, woher "das irrationale Verlangen der Deutschen" kommt, "sich in ein bergendes Ganzes wie in den Schoß einer Großen Urmutter zu flüchten" oder dass Friedrich Schillers "Heilge Ordnung, segenreiche" etwas ganz anderes meint als das den Deutschen oft nachgesagte strikte und pedantische, unflexible und Kompromissen kaum zugängliche Einhalten einmal festgelegter Regeln. Gibt es zu viele ordentliche Deutsche? Bei Gelfert steht auch: "Da heute die Ordnung auch für die Deutschen nichts Ersehntes mehr ist, sondern ein lästiger Zwang, breitet sich nun auch bei ihnen immer mehr Unordnung aus". Viele heutige Deutsche hielten sich für viel ordentlicher, als sie eigentlich sind. Mit der deutschen Pünktlichkeit stehe es auch nicht zum Besten, wenngleich das effiziente Arbeiten immer noch einen Standortvorteil im globalen Wettbewerb darstelle. Deutsche Autos! Aber nicht alle haben Arbeit. Welcher Deutsche kann Untätigkeit wirklich als Muße genießen? Der Autor beobachtet eine bedenkliche "Aufspaltung in Leistungserbringer und Jammerer", wozu zu sagen wäre, dass die deutschen Leistungserbringer auch ständig jammern, über andere Dinge allerdings als die Nur-Jammerer. Schon mal einen nicht-jammernden Deutschen gesehen? Na, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Abwegig ist es nicht. Das Büchlein jedenfalls regt an zu solchen Spekulationen, was erst einmal nichts schadet. Aber Hans-Dieter Gelfert kann ziemlich präzise erklären, aus der deutschen Geistesgeschichte heraus und mit Hilfe der Soziologie, warum viele jüngere Deutsche heute eher "cool" sein wollen und angeblich deutsche Werte wie "Innigkeit" oder "Einfalt" fast verschwunden sind, trotz wunderschöner einschlägiger Gedichte von Angelus Silesius, Matthias Claudius oder Clemens Brentano. Überhaupt scheint nicht viel übrig geblieben zu sein von den angeblich so typisch deutschen Werten, die vor allem das romantisch-biedermeierliche 19. Jahrhundert propagiert hat.

Was davon aber immer noch nachwirkt, führt Gelfert dem Leser sehr einleuchtend vor Augen. Beispiel Staat: "Heute stehen die Deutschen der staatlichen Autorität mit gleichem Misstrauen gegenüber wie ihre westlichen Nachbarn, erwarten aber", und jetzt kommt's, "erwarten aber immer noch mehr von ihr als diese und sind tiefer enttäuscht, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden". So ist es wohl - und welcher Engländer, Italiener, Spanier oder gar US-Bürger wunderte sich nicht über die immer noch latente deutsche Sehnsucht nach dem allseits gerechten "Vater Staat"? Aber keine Bange - es gilt als ausgemacht, ja geradezu unvermeidlich, dass die nationaltypischen Traditionen mehr oder weniger schnell verblassen und in einer globalisierten Weltkultur aufgehen. Und dass Gelferts "Urworte, deutsch" rasch zu Begriffen mit nur noch antiquarischem Beigeschmack werden. Ohne Geborgenheit oder Innigkeit in die Zukunft? "Das könnte aber auch eine gegenläufige Entwicklung auslösen", schreibt der Autor. "Die Frage ist nur, ob man sich das wünschen sollte".

Der Rest des Buchs umkreist und variiert das Thema, recht knapp oft und doch nicht ganz ohne Überschneidungen. Von den deutschen Mythen und Helden über die deutschen Frauen, die sich heute "nüchterner und tatkräftiger" präsentierten als die Männer, streift man bis zum deutschen Kitsch, Humor oder Ungeist. Die Frauen übrigens kommen im ganzen Buch zu kurz. Aber, wie gesagt, überall Gescheites und Gelehrtes, einleuchtend verbunden mit dem, was man heute hört und sieht, wenn man in den Supermarkt um die Ecke geht, fidelen deutschen Frührentnern mit ihren nicht selten asiatischen Zweit- oder Drittfrauen begegnet, deutsche Autowaschanlagen aufsucht oder deutsche Fernsehsendungen verfolgt: Skizzen zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen, mit tiefem Blick in die nationale Geschichte und weitem Blick in die heutige Welt. Hans-Dieter Gelfert schließt mit einem Ausblick - die Deutschen, vereinigt, nationalstolz und dennoch verzagt, in der Mitte Europas. Vernünftig sei es, die alte deutsche Sehnsucht nach dem großen Ganzen auf das sich einigende Europa zu lenken, meint er. Da hat er wahrscheinlich recht.

Ist Gelferts Buch mehr als eine geschickte Zusammenschau dessen, was man irgendwie doch schon wusste oder mindestens geahnt hat? Ja. Aber: Wird man der Frage "Was ist deutsch?" allein mit Soziologie und Kulturgeschichte gerecht? Würde "typisch Deutsches" einem nicht-deutschen Europäer heute noch auffallen? Und wenn ja: Was genau? Man sollte der Sache endlich auf den Grund gehen! Nietzsche lesen vielleicht?


Titelbild

Hans-Dieter Gelfert: Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
211 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3406528317

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