Unzeitgemäße Betrachtungen

Hallgrímur Helgasons Außenseiter-Roman "Rokland" beklagt die Verblödung Islands

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

480 Seiten. Das sind zwischen 10 und 12 Stunden Lesezeit. Zwei lange Abende. Oder ein verregneter Sonntag, der sich ausschließlich zwischen Couch, Bad und Küche abspielen wird. Würden Filmemacher oder Friseure, Anlageberater oder Patenkinder dieselbe Zeit für sich in Anspruch nehmen, wimmelten die Fußgängerzonen bald vor schlecht frisierten Onkels und Tanten ohne Altersvorsorge, die missmutige, ihnen völlig entfremdete Knirpse an den Warteschlangen vor dem Multiplex vorbeizerren. Nur für Lesende scheint Zeit keine Rolle zu spielen: eine Woche Liegekur mit Thomas Mann? Zehn Tage Pfadfindertraining mit Onkel Tolkien? Oder Anthony Powells Mammutwerk "Dance to the Music of Time" - auch wenn man in derselben Zeit schon drei Tanzkurse hätte absolvieren können? Kein Problem! Leser lesen, weil sie hoffen, etwas zurückzubekommen für die unzähligen Stunden, die sie investieren.

Was ist mit Autoren? Schreiben auch sie im ständigen Bewusstsein, dass jeder ihrer Titel die Lebenszeit von Tausenden von Menschen in Anspruch nimmt? Dass allem, wovon sie erzählen, mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als auch dem geschwätzigsten Friseur im Lauf seiner ganzen Karriere? "Keine Panik, dauert nicht lange!", steht zwischen den Zeilen der Klappentexte. Oder eben: "Doch, dauert sehr lange. Lohnt sich aber auch!" Und dann gibt es eine dritte Kategorie. Erzähler wie Hallgrímur Helgason, die überhaupt keinen Grund sehen, sich zu rechtfertigen. Die einfach erzählen. Immer weiter, immer länger. Ohne Rücksicht auf Verluste.

In Deutschland liegen bisher drei Romane des 1959 geborenen Isländers vor: die Pop-Groteske "101 Reykjavik", in der ein pornosüchtiger Nesthocker der Partnerin seiner lesbischen Mutter nachstellt. Das sperrige Meisterwerk "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein", in der ein greiser Bestsellerautor in seinem eigenen Heimatroman aufwacht. Und jetzt eben "Rokland", ein Provinz-Panorama aus der Perspektive eines notorischen Quertreibers. Helgasons Romane sind immer ein wenig zu lang. Immer ein wenig zu grell. Immer ein wenig zu prätentiös. Und je mehr man davon liest, desto augenfälliger wird: er weiß das selbst, er weiß das ganz genau. Doch offenbar ist es ihm scheißegal.

Entsprechend symptomatisch die Eröffnungsszene seines neuen Romans: "Rokland" beginnt mit einem Schulterzucken. Böðvar "Böddi" Steingrímsson arbeitet als Lehrer in Sauðárkrókur, einem frostigen 2000-Seelen-Kaff im öden Nordland. Der Winter ist gerade vorbei, und Böddi steht vor dem Schulleiter: beim Wandertag hat sich seine halbe Klasse unterkühlt. Ein Mädchen brach sich das Bein, am Ende musste der Rettungshubschrauber gerufen werden. Lokalphilosoph Böddi ist sich keiner Schuld bewusst: "Fucking bullshit! Als wenn es den Schülern nicht gut täte, das Leben einmal so kennen zu lernen, wie es früher war. Und noch immer ist. Wenn man nur endlich einmal aus dieser Fernheizungshölle ausbricht, zu der sich unsere Gesellschaft entwickelt hat!" Der Mittdreißiger, der in Berlin Philosophie studiert hat und jetzt wieder bei Mutti wohnt, ist weder Asket noch Masochist. Aber er schätzt die Annehmlichkeiten eines Lebens ohne Schutzumschlag. Böddi hat es sich bequem gemacht in seiner Rolle des ewig Unbequemen.

"Krókur hat genauso viele Friseursalons wie weibliche Einwohner", flötet hingegen der erste Satz des Klappentexts. Auf dem Cover schüttelt ein fesches blondes Mädel ihr Haar. Und dem Buchrücken hat Photoshop ein sattes Himmelblau verpasst. "Fucking bullshit!", ruft der gefoppte Leser nach wenigen Seiten: "Rokland" ist viel, viel unbequemer, als seine sonnige Verpackung suggeriert. Denn Halgrímur Helgason ist keiner, der sein Publikum mit perfektem Spannungsbogen und kuschelweichen Identifikationsfiguren durch die Handlung seiner Romane schleust. Er schweift ab, peitscht seine Erzählstimme durch verschiedenste Tonlagen, hat keine Angst vor Langeweile, Experimenten und Provokationen. Und er vertraut seinen Charakteren zu sehr, als dass er sie stets gut ausgeleuchtet und von ihrer Schokoladenseite zeigen würde. Wäre Helgason ein Märchenonkel, er hätte keine Armbanduhr. Es wäre ihm egal, wenn das Kaminfeuer erlischt. Und falls seine Zuhörer immer müder werden, aufs Klo müssen, irgendwann anfangen, zu plärren, würde er nur sagen: "Was uns nicht umbringt, macht uns klüger."

Das Spannende an "Rokland" ist weniger der Plot als die Unklarheit darüber, was für eine Art Buch das überhaupt sein soll: Böddi feiert Nietzsche und wohnt im Keller seines alten Elternhauses - genannt "Rokland", zu deutsch: "Sturmland". Er übersetzt Hölderlin und vögelt die Tochter des Schulleiters. Und er betreibt einen Blog, auf dem er in viel zu langen, schauderlich schlechten Schmähschriften den Tyler Durden Islands gibt, ohne jede Selbstironie: "Ausgerüstet mit den Waffen eures Wohlstands versucht ihr, euch die drei inneren Feinde der westlichen Lebensweise vom Leib zu halten: die Dunkelheit, das Schweigen und die Einsamkeit. [...] Und die Zeit, den guten alten Feind, der uns vormals beherrschte. Wir tun alles, was wir können, um die Zeit totzuschlagen. Denn sie steht noch immer wie eine Mauer aus Leere und Langeweile am Horizont. Wir stehen am Ufer, mit der Fernbedienung in der Hand, und ballern sie wieder und wieder nieder."

"Über allen Gipfeln ist Rock und keine Ruh": Böddi ist ein faszinierend dilettantischer Kulturkritiker, der die Werkzeuge von Goethe, Nietzsche und Hölderlin auf eine neue Epoche anzuwenden versucht und sich doch nur in Sophismen ergeht. Oft erinnert das an die französische Popliteratur: die ungeschlachte Sprache Beigbeders; oder Houellebecqs gallige Cocktails, in denen er sämtliche Reizthemen der Gegenwart verrührt. Doch während sich in Frankreich Meta-Ebenen bis ins Absurde stapeln, ironische Brechungen jede Interpretation unmöglich machen ["Ist das, was man uns hier vorführt, jetzt extrem moralisch, oder völlig unmoralisch?"], bleibt der Isländer Helgason an der Oberfläche: Er präsentiert eine vermeintlich simpel gestrickte Figur, treibt sie durch ein Szenario, das immer komplexer wird, doch entzieht sich dabei jeder Wertung.

Um diese krude Tour de Force durchzuhalten, braucht man einen langen Atem. Als Erzähler, und auch als Leser. Aus diesem Grund hinterließ schon Helgasons zuletzt in Deutschland erschienener Roman, "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein", bei der Kritik einen faden Nachgeschmack: Helgasons Plots wirken zunächst stets wie das, was Hollywood-Produzenten als "high concept" bezeichnen. Geschichten, die sich in wenigen Worten, idealerweise bereits im Titel (Stichwort "Snakes on a Plane") zusammenfassen lassen. Und in der Tat: das "zweifelhafte Vergnügen" war ein zweifelhaftes Vergnügen: Zunächst musste man die Prämisse schlucken, dass Helgason eine Karrikatur eines (realen) isländischen Autoren sterben und anschließend in einem seiner Romane, 50 Jahre in der Vergangenheit, wieder aufwachen ließ. Dann wurde dieser Roman im Roman plötzlich immer gewichtiger, epischer, franste in die undenkbarsten Richtungen aus: ein vermeintlich rotzig-leichter Spaziergang durchs 20. Jahrhundert, bei dem unvermittelt Nebel aufzog. Helgason setzt sein Publikum extrem rauen Winden aus. So rau, dass es bald völlig vergisst, wieso es sich überhaupt auf Bücher einließ, in denen man Hunderte von Seiten orientierungslos herumhumpelt. Erst in diesen Momenten, Momenten völliger Richtungslosigkeit, holt Helgason dann aus und schlägt zu - aber wie!

"Rokland" ist ein Wandertag, bei dem man erst spät begreift, wie weit man schon vom Weg abgekommen ist. Der Roman beginnt als Zuckerschlecken und geht so lange weiter, bis man kotzen möchte. Denn über weite Strecken wird selbstverliebt, thematisch eher klischiert und stilistisch eher schludrig eine recht banale Geschichte erzählt. Seite für Seite wächst der Verdacht, dass der Autor den totalen Ego-Trip fährt. Großmäulig und unverhältnismäßig umständlich in einer Literaturgattung dilettiert, deren Mechanismen er schlicht nicht beherrscht (Dorfroman? Schelmenroman? Familienroman? Single-Roman? Ideenroman?). Ein Schmalspur-Popliterat, der sich im Kopf und Kragen schreibt und vor lauter Selbstherrlichkeit sein Publikum völlig vergisst.

Und dann kommt plötzlich der Punkt, an dem man nicht länger gähnt. Sondern hyperventiliert. "Ein liebenswerter Antiheld, der gegen sich an der Beschränktheit seiner Welt einer blutige Nase holt". Das wäre die High Concept-Zusammenfassung. Und in etwa so treffend, als würde man über "Berlin, Alexanderplatz" oder "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" schreiben: "Der Flaneur und die Stadt: ein interessantes Wochenende in der Metropole". Leser lesen, weil sie hoffen, dass sie etwas zurückbekommen. "Rokland" gibt ihnen Dinge, mit denen sie nicht im Traum gerechnet hätten. Aber mit denen sie unter Umständen auch gar nichts anzufangen wissen. Erzählen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Ein bequemer Autor ist Hallgrímur Helgason nicht. Und ganz sicher auch kein Geschenktipp. Sondern etwas viel, viel Größeres. Das spürt man. Und Helgason selbst spürt es auch; das macht ihn so unsympathisch. "Rokland" ist einfach kein Buch für Leser. Sondern Helgasons mittlerweile viertes Bewerbungsschreiben für die aller-aller-erste Liga: Tolstoj, Proust, Mann, Nabokov. "Je höher wir streben, desto kleiner erscheinen wir denjenigen, die nicht fliegen können", tönt ein vollmundig dem Roman vorangestelltes Nietzsche-Zitat. Es wäre einfacher, das für ein Spiel halten zu können, ein kleines, selbstironisches Zwinkern.

Doch dieser Kerl schreibt schon längst nicht mehr für ein Publikum. Lesererwartungen? Fucking Bullshit! Hallgrímur Helgason sucht sich (schon fast geschmacklos) bekannte Themen. Und macht aus ihnen etwas gnadenlos Fremdes, gnadenlos Gutes, gnadenlos Kaltes, gnadenlos Eigenes. Literatur, nicht für den Leser, sondern für die Literaturgeschichte. Noch drei, vier Romane und er ist am Ziel. Ob wir mitkommen, ist unsere Entscheidung: Großen Wert scheint er nicht darauf zu legen.


Titelbild

Hallgrimur Helgason: Rokland. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
479 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3608937668

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