"Das lüsterne Auge"

Erhellende Schriften Horst Janssens über sein Leben und seine Kunst

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oft halten Betrachter die Schriftzüge auf Bildern von Horst Janssen für eine bloße dekorative Zutat. Dabei war ihm die Sprache fast genau so wichtig wie Linie, Farbe und Proportion. Von einer seltenen Doppelbegabung sprachen neidvoll große Kollegen wie Peter Rühmkorf.

So sehr sich Janssens Wortkunst von seiner Mal- und Zeichenkunst unterscheidet, so ähneln sie sich doch in dem Punkt, dass beide wirkliche Wahrnehmung provozieren. Um Verfremdung geht es dabei weniger, mehr um Irritation, vor allem aber um ein Sehen, das nicht durch Wissen blind geworden ist.

In der Janssen-Anthologie "Summa summarum" kann man deshalb nicht nur erhellende Kunst-Gedanken lesen. Gesche Tietjens hat - nach der Herausgabe von zwei Reisebüchern und einem Band mit Briefen von Janssen an sie - in diesem "Lebenslesebuch" Kindheits- und Jugenderinnerungen versammelt, erbarmungslose Selbstabrechnungen, Brieftexte, Polemiken und drei Märchen. Das alles ist im Einzelnen nicht neu, doch mit seinem glücklichen Arrangement von Texten, Zeichnungen, Radierungen und Fotos ermöglicht dieses Buch, den einzigartig anregenden und eigenwilligen Künstler in seiner verwirrenden Vielfalt kennen zu lernen.

Lebenslang beschäftigt Janssen das Wunder des Augenöffnens. Seine Kunst legt in Bild und Wort Zeugnis ab von dem Wechselspiel zwischen sehendem Ich und der Natur, wobei möglichst beide gleichzeitig erkennbar bleiben sollten. Deshalb überspielte er das Gemachte nicht, sondern integrierte es organisch in die Darstellung: "Die Ferne wird zu Tusche und erfüllt uns dennoch mit Sehnsucht, und Wasser bleibt weißes Papier und ist dennoch nass."

Das lässt sich auf seine autobiografischen Texte übertragen, denn der fast überklare Kinderblick - atemlos staunend im morgendlichen Hausflur, Trost im Küchenschürzen-Muster der Oma suchend, euphorisch auf Mädchen-Oberarmen reitend - ist hier genauso wahr wie die in die Erinnerungen gewobene Interpretation des Erwachsenen.

Janssen schonte sich äußerst selten, erst recht nicht in den Bekenntnissen, die seinen Alkoholmissbrauch oder die eigene Produktion betreffen. Illusionslos klassifiziert er seine gepriesene Zeichenkunst in "Marktzeichnungen, Präsentzeichnungen, Selbstbildnisse und Allerleizeichnungen", woraufhin er, scheinbar wegwerfend, deren Entstehungsprozess entmystifiziert.

Überall ist in diesen Texten "das lüsterne Auge und das sprungbereite Assioziationsfederchen" spürbar, ein Witz zudem, der Emotion und Kalkül zusammenbringt, um Funken zu schlagen. Neue Wörter bildet Janssen mit Fleiß; gern verbindet er geläufige Begriffe zu plötzlich quicklebendigen Ausdrücken. Und durchweg ist da eine geradezu greifbare Deutlichkeit in seinen Texten; aber nicht nur das.

Ob er seinem "Tantchen" oder seinem Zeichenlehrer ein kleines sprachliches Denkmal setzt, ob er gegen die "Verteidigungsgeilheit" der Politik oder das verquaste Gequatsche des Feuilletons wütet, ob er über das Zeichnen an sich oder von Landschaften, Porträts und Stillleben schreibt, in den Zeilen ist ein beinahe schmerzlich lebendiges Ich zu spüren, dessen Beobachtungen, Fragen und Widersprüche den Leser produktiv aufstören.

Der Hase kommt nicht von ungefähr immer wieder in Janssens Texten vor, denn dem Künstler war das Hakenschlagen quasi eine zweite Natur. Greifbar wollte und konnte er als Künstler und Mensch nicht sein, gleichwohl wollte und konnte er selbst ergreifen.


Titelbild

Horst Janssen: Summa summarum. Ein Lebenslesebuch.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
283 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3498065211

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