Tragischer Tyrann oder würdevoller Wüstling?

Vor 900 Jahren starb Kaiser Heinrich IV. Gerd Althoff rückt allerlei Mythen über den umstrittenen Herrscher zurecht

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Shakespeare hätte sich diesen Helden nicht entgehen lassen. In der Lebensgeschichte Heinrichs IV. (1050-1106) stecken ja genügend Schreckenstaten für Tragödien wie "Richard III.", "Macbeth", ja "König Lear". Als Kleinkind wird er 1054 zum König gewählt, zwei Jahre später stirbt plötzlich der Vater und seine Mutter Agnes übernimmt die Regentschaft für ihn. In einer dreisten Aktion wird er im Jahre 1062 von Erzbischof Anno von Köln auf ein Rheinschiff entführt. Bei einem Fluchtversuch ertrinkt er beinahe. Unterschiedliche, in der Regel egoistische Ratgeber lehren den jungen Mann, den meisten Menschen zu misstrauen. Als jugendlicher König - 1065 wird er mündig - herrscht er nicht wie seine Vorfahren im Bemühen um einen Kompromiss mit den Großen im Reich. Vielmehr umgibt er sich mit Vertretern des niederen Adels, trifft einsame Entscheidungen und brüskiert allgemein mit diesem Verhalten. Dann bringt er die Sachsen mit dem Bau von Zwingburgen in ihrem Land auf: Sie fürchten Unterdrückung, ja Knechtung, und die Folge ist ein Jahrzehnte währender Konflikt.

Dazu kursieren fürchterliche Geschichten über die Unmoral des Herrschers: Dass er sich 1069 von seiner zwangsangetrauten Frau Bertha trennen will, obwohl er keine akzeptablen Gründe hat, verwundert nur. Aber er soll sogar seine eigene Schwester, die Äbtissin von Quedlinburg, von einem anderen vergewaltigen haben lassen, während er selbst sie festhielt. Auch seine zweite Frau, Kaiserin Adelheid, berichtet nach der Flucht aus ihrem herrscherlichen Gefängnis öffentlich vor europäischen Adligen und dem Papst, Heinrich IV. habe sie immer wieder vergewaltigen lassen.

Im Streit mit der Kirche, vor allem mit seinem mächtigsten Gegenspieler Papst Gregor VII., verfällt der König dem Bann. Niemand darf mehr mit ihm, dem Ketzer, Gemeinschaft halten. Er überquert, da seine Bundesgenossen sich von ihm abwenden, in dramatischer Aktion die Alpen, um den Papst zu treffen. In Canossa gelingt es ihm. Er harrt dort vor der Burg drei Tage barfuß im Schnee aus und zwingt den Papst mit dieser Bußübung zur Bannlösung: ein Geniestreich, der ihn wieder handlungsfähig macht. Zwei Gegenkönige erheben sich gegen ihn, einem davon, Rudolf von Rheinfelden, wird 1080 in der Schlacht die Schwurhand abgeschlagen - eine tödliche Wunde. Auch ein Gottesurteil? Heinrich IV. und seine Zeit sahen es so.

Zweimal laufen die eigenen Söhne, die gleichzeitig Mitkönige sind, zu den Gegnern über. Das zweite Mal sperrt Heinrich V. seinen Vater in strenge Haft, um die Reichsinsignien und eine Abdankungserklärung von ihm zu erpressen. Zwar kann der Kaiser fliehen und ein Heer gegen den treulosen Sohn aufstellen, doch vor einer Entscheidung stirbt er am 7. August 1106. Selbst seine Leiche findet nicht gleich die ewige Ruhe, verbietet doch der mehrfach erneuerte Kirchenbann die Bestattung in geweihter Erde. Heinrich V. lässt den Vater ausgraben und aus der Lütticher Kathedrale in eine ungeweihte Kapelle überführen. Erst 1111 entspricht er dem Wunsch des Verstorbenen, im Dom zu Speyer beigesetzt zu werden.

Unerklärlich, warum nur zweit- oder drittrangige Dramatiker Heinrich IV. als Helden wählten, aber Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist oder Heiner Müller sich diesen kaiserlichen Wüstling, diesen taktisch Fußfälligen, diesen tragischen Tyrannen als Bühnenfigur entgehen ließen. Immerhin gibt es "Enrico Quarto" von Luigi Pirandello, doch da spielt der Protagonist einen Wahnsinnigen, der sich für Heinrich hält.

Wie gut, dass mit Gerd Althoffs "Heinrich IV." endlich ein Buch vorliegt, in dem - durchaus auch für Nicht-Historiker - diese zentrale Herrschergestalt des Hohen Mittelalters in ihrem ganzen Widerspruch lebendig wird. Ganz allgemein, nicht nur in deutschen Landen, hatte sich in der Geschichtswissenschaft eine Art Mythos um den Kaiser gebildet. Zu Bismarcks Zeiten wurde Heinrich IV. als Kämpfer wider päpstliche Einmischung in weltliche Angelegenheiten berühmt. Der Reichskanzler formulierte Richtung Rom: "Nach Canossa gehen wir nicht!" Doch Heinrich ist viel mehr als das Ereignis Canossa - dem in Paderborn gerade eine große Ausstellung und bei C. H. Beck eine Monografie von Stefan Weinfurter gewidmet wird.

Viele Vorwürfe gegen den Herrscher, vor allem die Vergewaltigungen tat man bis in die jüngste Zeit ab als gegnerische Propaganda oder als böswillige Verleumdung hysterischer Frauen. Dagegen stützt sich Althoff, Münsteraner Professor für mittelalterliche Geschichte, auf alle Quellen, wobei er sie natürlich kritisch befragt und immer den Zeithintergrund klärt. Wer will, kann meistens den lateinischen Text der zahlreichen Zitate überprüfend mitlesen. Da die Vorwürfe gegen den Herrscher öffentlich erhoben wurden und man sich zutraute, sie in einer Untersuchung zu belegen, sieht Althoff darin wesentlich mehr als Propaganda.

Heinrich erscheint in dieser Darstellung auch als tragischer, mehr noch als schwieriger Charakter. Gerade zu Beginn seiner Herrschaft missachtete er gewohnte Regierungspraxis und allerlei hoch bedeutsame Rituale. Als Taktiker spielte er häufig auf Zeit. Auf sein Wort oder seinen Eid konnte man sich nicht verlassen. Von Beginn an verstärkte sich so eine Atmosphäre des Misstrauens, die schon zu Zeiten der Regentschaft entstanden war.

Lange nicht alle Fragen, die Heinrichs schwierige Persönlichkeit und schwer greifbare Politik aufwirft, kann Althoff beantworten, aber er bietet - kritisch und vor allem gut lesbar - ein sehr überzeugendes und überraschend neues Bild eines der interessantesten Herrscher des Mittelalters.


Titelbild

Gerd Althoff: Heinrich IV.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2006.
336 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3534112733

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch