Institution mit großer Bedeutung – und neuen Herausforderungen

Die Leiterin des Literaturhauses Wiesbaden, Susanne Lewalter, im Interview über die gesellschaftliche Rolle und die Zukunft der Literaturhäuser

Von Mario WiesmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wiesmann

 

Literaturhaus Villa Clementine (c) Katharina Dietl

Susanne Lewalter ist Leiterin des Literaturhauses Wiesbaden und hat vorher lange als Journalistin unter anderem für den SWR, die FAZ und die Frankfurter Rundschau gearbeitet. Das Literaturhaus Wiesbaden hat seinen Sitz in der historistischen Villa Clementine und wird von der Stadt getragen.

 

literaturkritik.de: Lassen Sie mich mit einer ketzerischen Frage beginnen. Wofür brauchen wir überhaupt Literaturhäuser? Kümmern sich nicht die Verlage darum, dass ihre Neuerscheinungen bei meiner Buchhandlung im Schaufenster stehen?

Lewalter: Die ersten Literaturhäuser sind in den 80er und 90er Jahren gegründet worden, um Orte einzurichten, an denen über aktuelle Literatur, über gesellschaftliche Themen und ästhetische Fragen diskutiert werden kann. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Literaturhäuser sind keine kommerziellen Werbeplattformen für Verlage und im Gegensatz zu Buchhandlungen beschränken sich die Literaturhäuser in ihrem Programm nicht auf die Präsentation von Neuerscheinungen. Das Besondere ist, dass hier literarische Reihen kuratiert werden, dass Autorinnen und Autoren miteinander ins Gespräch gebracht werden oder auch mit Künstlerinnen und Künstlern anderer Kunstsparten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder auch mit den Leserinnen und Lesern im Publikum.

Und ganz wichtig finde ich: Die Literaturhäuser leisten eine bedeutende Vermittlungsarbeit für Kinder und Jugendliche und arbeiten mit Schulklassen oder auch Kindergärten zusammen. Aber auch in der kulturellen Bildung Erwachsener spielen sie eine große Rolle.

Außerdem beschränken sich die Formate seit einiger Zeit nicht mehr nur auf die klassische Wasserglas-Lesung, sondern die Performance und die Verbindung von Literatur mit anderen Künsten gehört auch zur Vermittlungsarbeit von Literaturhäusern.

Vor einigen Wochen haben die Literaturhäuser in Deutschland Alarm geschlagen, weil sie die Finanzierung Ihres Angebots kaum noch stemmen können. In der gemeinsamen Erklärung, die Sie mitunterzeichnet haben, ist von einem „massive[n] Einbruch des literarischen Lebens und Kulturangebots“ die Rede. Worum geht es da genau?

In der Politik fallen die Literaturhäuser gerne hinten runter, es wird immer viel von Museen, Theatern oder Opernhäusern gesprochen, wenn es um Kultur geht. In der Buchbranche melden sich vor allem die Verlage und der Buchhandel zu Wort. Doch während der Corona-Pandemie waren es die Literaturhäuser, die ganz wesentlich den Literaturveranstaltungsbetrieb durch digitale Angebote, Streaming und neue Lesungsformate am Leben gehalten und den Autorinnen und Autoren Gehör verschafft haben. Während der Corona-Pandemie gab es viele Förderprogramme vom Bund, den Ländern und Kommunen. Nur so konnten viele Kultureinrichtungen und der Buchhandel überleben. Doch diese laufen nun aus. Das Netzwerk möchte mit dem Appell darauf aufmerksam machen, dass im Literaturbereich die finanzielle Ausstattung im Vergleich zu anderen Kunstsparten seit jeher sehr gering ist und dass wir die Kostensteigerungen, die wir derzeit überall erleben, nicht auffangen können, ohne dass die Vielfalt und das Angebot der Veranstaltungen sich reduzieren würden.

Einsparungen würden zu Lasten genau jener gehen, für die wir uns im Auftrag sehen, sie zu fördern: der Autorinnen und Autoren, der Schauspielerinnen und Schauspieler oder Übersetzerinnen und Übersetzer. Genau da können und dürfen wir aber nicht einsparen. Wir erleben vielmehr das Gegenteil: Die Honorarforderungen der meisten Autorinnen und Autoren sind nun um 20 bis 40 % gestiegen. Eben weil auch die Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit der Inflation leben müssen. Die meisten konnten nie allein vom Verkauf ihrer Bücher leben, ihre Einkünfte bestehen ganz wesentlich aus den Honoraren von Lesereisen. Wenn die Politik hier nicht gegensteuert, hat das massive Auswirkungen auf eine ganze Branche.

Im Appell heißt es: „Kostenexplosionen werden durch Reduktion von Vielfalt kompensiert.“ Wie sieht dieses Szenario aus, auf das wir zusteuern, wenn die Förderung nicht ausgeweitet wird?

Ganz konkret bedeutet dies, dass wir angesichts der Inflation und Kostensteigerungen bei gleichbleibenden Etats nicht mehr so viele Veranstaltungen anbieten können wie bisher und dass die Literaturhäuser stärker gezwungen sind, ihr Programm nach kommerziellen Gesichtspunkten zu gestalten. Als erstes wird also da gespart, wo auch weniger Einnahmen zu erwarten sind: bei Nachwuchsautorinnen und Nachwuchsautoren, in der kulturellen Bildung, bei der Literaturvermittlung für Kinder, Jugendliche oder Menschen mit Migrationshintergrund – kurzum in genau dem Bereich, um den sich eine Gesellschaft gerade in Krisenzeiten besonders kümmern sollte. Die Vielfalt des Angebots wird reduziert. Wir sehen es aber als unsere Aufgabe an, die Vielfalt zu fördern.

Hat sich seit Veröffentlichung des Appells schon etwas getan? Gab es ein Zeichen aus Berlin?

Es gibt Gespräche des Netzwerkes der Literaturhäuser mit dem Büro von Claudia Roth und auch auf der Ebene der Bundesländer. Ich denke, die Diskussion hat jetzt erst begonnen. Die Literaturbranche sollte mit der Politik im Gespräch bleiben.

Auf den Appell gab es auch kritische Reaktionen. Im Börsenblatt spricht der Augsburger Buchhändler Kurt Idrizovic von „Krokodilstränen der Literaturhäuser“. Er stört sich daran, dass die Buchhandlungen im Appell der Literaturhäuser nicht erwähnt werden, obwohl sie flächendeckender Literatur vermittelten und ohne Fördergelder auskommen müssten. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf? Und wie sehen Sie die Rolle des Buchhandels bei der Literaturvermittlung?

Der Vorwurf des Augsburger Buchhändlers ist aus meiner Sicht nicht ganz richtig. Denn im Appell heißt es explizit: „Alle Literaturveranstalter verstehen sich als Partner von Autor:innen und Verlagen […].“ „Alle Orte für die Begegnung mit Literatur sind unerlässlich […].“ Das Netzwerk der Literaturhäuser meint in seinem Appell alle, die Literatur vermitteln: den Buchhandel, die Literaturvereine, Dichterhäuser, Bibliotheken, die Lesungen veranstalten usw. Mit den Buchhandlungen arbeiten wir bei Lesungen eng zusammen. Natürlich müssen wir in der Literaturbranche alle an einem Strang ziehen.

Es wird ja an verschiedenen Stellen immer wieder über ein schwindendes Interesse am Lesen und an Literatur spekuliert. Wenn man solchen Prognosen glaubt, ist die Generation Z nur noch auf TikTok unterwegs und die Älteren gucken lieber eine Netflix-Serie als zum Buch zu greifen. Wie erleben Sie das? Verändert sich etwas an Ihrem Publikum? Schwindet das Interesse an analogen Formaten wie Lesungen und Autor*innengesprächen?

Die Besucherzahlen beim älteren Publikum sind bei den Literaturhäusern nach wie vor geringer als vor der Pandemie. Ich denke, dass sich bei dieser Altersgruppe das Freizeitverhalten etwas verändert hat. Viele gehen nicht mehr so viel aus wie früher. Ich glaube aber nicht, dass generell das Interesse an analogen Formaten wie Lesungen schwindet. Gegen Ende der Corona-Pandemie haben wir ja erlebt, wie müde viele Menschen geworden sind, ständig nur in Bildschirme zu schauen oder darüber zu kommunizieren. Während der Pandemie waren die Literaturhäuser aber auch gezwungen, sich zu modernisieren, und daher ist es uns gelungen, über neue digitale Vermittlungsangebote mehr jüngere Menschen zu erreichen. Und auch der Radius ist größer geworden, in dem wir Menschen erreichen. Das haben wir bei den Streaming-Tickets nachvollziehen können.

Müssen Literaturhäuser Ihr Programm anpassen, um mit der Zeit zu gehen? Muss Literatur auch digitaler, interaktiver, kurzweiliger präsentiert werden, um noch zu interessieren?

Die Rezeptionsformen haben sich schon seit längerer Zeit verändert, die Pandemie hat das beschleunigt: Viele Menschen möchten nicht nur passiv als Besucherinnen und Besucher eine Veranstaltung konsumieren, sondern sie möchten stärker partizipieren oder interaktiv mitwirken. Das bedeutet, dass wir mehr mit neuen Formaten experimentieren müssen. Das digitale Format wird parallel sicher bleiben, weil es als Zusatzangebot attraktiv ist. Aber die Literatur lebt vom Austausch, vom Reden über Bücher, von der Begegnung. Das lässt sich analog und live viel schöner und besser umsetzen.

Werfen wir zum Abschluss einen positiven Blick in die Zukunft. Auf welche Veranstaltung aus Ihrem Programm freuen Sie sich dieses Jahr besonders?

Ich freue mich besonders auf den senegalesischen Autor Felwine Sarr, der Anfang Juni ins Wiesbadener Literaturhaus kommt. Es ist schön, dass nun Reisen wieder möglich sind und wir wieder mehr internationale Autorinnen und Autoren einladen können.