Flucht und Flow vs. Kompensation und Kampf

In „Brüder“ erzählt Jackie Thomae brillant von divergenten Lebensentwürfen

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der DDR lebten mehr als 60.000 Vietnamesen, die ab Mitte der 1950er Jahre als sogenannte „Vertragsarbeiter“ für die Wirtschaft angeheuert wurden. Während diese Information inzwischen zum Standard-Wissensschatz über den Osten Deutschlands gehören dürfte, ist kaum bekannt, dass an den Hochschulen der DDR seit den 1950er Jahren mindestens genauso viele ausländische Studierende eingeschrieben waren. Jackie Thomae, Tochter einer Deutschen und eines Afrikaners, geht in ihrem Roman bis an das Ende der 1960er Jahre zurück, als eine Gruppe „dünner schwarzer Bürschchen um die zwanzig“ in Berlin-Schönefeld landet und anschließend nach Leipzig gefahren wird. Mit dabei ist Idris, Schüler eines senegalesischen „lycée français“, auf ein Studium der Medizin in Europa erpicht und nun als „Hoffnungsträger des zukünftigen panafrikanischen Sozialismus“ apostrophiert. Nach einigen Jahren kehrt Idris als ausgebildeter Mund- und Gesichtschirurg nach Dakar zurück. Zuvor jedoch wird er gleich zwei Mal Vater eines Sohnes – mit Monika in Berlin Anfang 1970 und mit Gabriele in Leipzig im November desselben Jahres. Idris hat keinen Kontakt zu ihnen und die Brüder selbst wissen nichts voneinander.

Zunächst erzählt Thomae von Michael, Mick, dem „Mitreisenden“, der im Alter von 15 Jahren, als der Ausreiseantrag seiner Mutter bewilligt wird, vom Osten Berlins in den Westen der Stadt zieht. Solange seine Mutter mit einem Immobilienkaufmann liiert ist, führt er ein materiell sorgenfreies Leben, was sich schlagartig ändert, als die Beziehung in die Brüche geht. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Mick von einem pubertären Moppel zu einem fast zwei Meter großen, sehr schlanken jungen Mann entwickelt, der die Schule verlässt, eine Lehre als Zimmermann beginnt und sich vor allem freut, dass Berlin nach dem Mauerfall, ganz „nach seinem Geschmack“, „zum Spielplatz“ wird. Seine Lehre bricht Mick ab. Er zieht es vor, sich auszutoben: er assistiert dem jungen Modedesigner Desmond, wird in kriminelle Machenschaften verwickelt, beginnt donnerstags bereits mit Partys, die sich bis Montagmittag ausdehnen, kauft manchmal Vinylplattensammlungen auf, schreibt zwischendurch Musikkritiken und gründet schließlich mit seinen Freunden Chris und Fabian einen Club. Zwar lebt er mit seiner Freundin Delia zusammen, scheut aber nicht vor einer Vielzahl von Nebenbeziehungen, meistens One-Night-Stands, zurück. Auf die Partystrecke in Dauerschleife folgt der Einbruch: Nach einem Unfall beim Testen einer Soundbox verbringt Mick die Jahrtausendwende in der Charité. Und als Delia eine Stelle in Hamburg annimmt, erreicht seine Haltlosigkeit den Gipfel. Er fliegt nach Bangkok, wo sich Chris gerade befindet, überwirft sich mit diesem, baut einen Pavillon und beginnt zu meditieren.

Es folgt ein kurzer Blick auf die Geschichte von Idris, bevor sich die Autorin Micks Gegenpart, dem „Fremden“, seinem Bruder Gabriel, widmet. Dieser wohnt in London, ist Stararchitekt und Universitätsdozent. Verheiratet ist Gabriel mit der Übersetzerin Fleur, ihr Sohn Albert ist 15 Jahre alt. So der Status quo im Jahre 2016, so eine Welt, die Gabriel so lange als perfekt ansieht, bis seine Selbststeuerungskompetenz in einer kruden Übergriffigkeit gänzlich versagt. Gabriels Geschichte wird in Retrospektiven geschildert, alternierend von ihm selbst und seiner Frau Fleur. Als Gabriel sieben Jahre alt ist, stirbt seine Mutter bei einem Verkehrsunfall. Er wächst bei seinen Großeltern auf, studiert Architektur und lässt sich danach in London nieder. Mit seinem Freund Mark macht er sich selbstständig; das Büro ist schnell für eine Reihe großer Bauprojekte verantwortlich. Da sich Gabriel insbesondere für die „Idee des billigen, würdigen Wohnens“ einsetzt, begleitet er Bauprojekte in Brasilien und China. Mit der Verfestigung seines Rufs als Stararchitekt geht die Ausprägung von Stresssymptomen einher. Als Albert mit Freunden „Dick Pics“ auf die Schaufenster renommierter Londoner Geschäfte klebt, schicken ihn seine Eltern in ein französisches Internat. Dort wird er so verhaltensauffällig, dass Gabriel ihn wieder nach Hause holen muss. Gabriel, den Fleur als „Dampfkessel“ bezeichnet, fliegt nach São Paulo, um sich zu erholen, was ihm aber kaum gelingt. Die E-Mail, die er dort von seinem Vater erhält, leitet er an seinen Sohn Albert weiter.

An Gabriels Geschichte schließt sich ein Epilog an, ein Ende, das man als eine Spur zu sentimental, als ein bisschen zu sehr von psychedelischer New Age-Achtsamkeit durchsetzt ansehen könnte. Und ja, vielleicht wäre es wirklich eine Spur zu „happy“, ein bisschen zu viel „Friede, Freude, Eierkuchen“, wäre da nicht Gabriel, der sich dem Ganzen entzieht.

Jackie Thomae hat ihren Roman in vier Teile gegliedert, deren Chronologien miteinander verwoben sind. Teil I mit Micks Biografie umfasst die Zeit von 1985 bis zur Jahrtausendwende, das Intermezzo aus Idrisʼ Perspektive schließt daran an. Teil II geht von 2016 aus, lebt aber von der Retrospektive, während der Epilog im Jahr 2017 angesiedelt ist. Sehr klar ist der Roman in dieser Form, zudem syntaktisch und stilistisch schnörkellos. Lexikalisch hingegen ist er sehr facettenreich, denn er bewegt sich von der Imitation derber Fäkalsprache bis hin zu einem gehobeneren Tonfall, der in Gabriels Familie vorherrscht. Es zeigt sich ausnahmslos ein authentischer und realistischer Duktus, angepasst an die Charaktere in ihrer Individualität und sprühend vor Lebendigkeit. Letzteres liegt auch an den vielfältigen Episoden, mit denen Thomae ein Höchstmaß an narrativer Kompetenz beweist. Meistens sind sie mit einem leicht ironischen Lächeln überzogen, das beim Lesen fast greifbar über dem Text zu schweben scheint. So etwa bei der Drogenkuriertätigkeit, auf die sich Mick mit Desmond und Delia einlässt: Am letzten Tag ihres Urlaubs auf Kolumbien fliegt man sie auf eine einsame Insel, wo sie von einem „medico“, der ihnen Entspannungsmittel spritzt, in Empfang genommen werden, damit sie Kapseln mit Kokain schlucken können. Am nächsten Tag schmuggelt das Trio diese nach Europa. Dumm nur, dass der Flieger nach London zwei Stunden Verspätung hat und die Fracht nicht fristgerecht wieder aus dem Körper geholt werden kann. Auch bei der Meeresfrüchteplatte, die fast alle Beteiligten an einer Modeproduktion niederstreckt und insbesondere bei der Episode, die den Auftakt für Gabriels Vita bildet, spielt Verdauung eine immense Rolle. Gabriel hat sich ein luxuriöses Rennrad geleistet, mit dem er früh am Morgen losfahren möchte, dann aber sieht, dass dieses „in einem beachtlichen, ockerfarbenen“ Hundehaufen steht. Da der Verursacher mit seiner Besitzerin noch zu sehen ist, diese aber nicht auf seine Rufe reagiert, packt Gabriel kurzerhand in den Haufen und seift die Hundehalterin damit so ein, wie er es als Kind mit Schnee kennengelernt hat. Fast Loriot-reif ist die symmetrische Eskalation, die sich entspinnt, als Delia beiläufig von Micks Mutter erfahren hat, dass ihr Freund vasektomiert ist. Delia hat zu diesem Zeitpunkt schon jahrelang auf eine Schwangerschaft gewartet. Das Ausprobieren einer besonders guten Soundanlage gerät für Mick zum Desaster, denn es wird eine solche Lautstärke erzielt, dass er durch den Raum fliegt, ohnmächtig liegenbleibt und sich davon nie mehr richtig erholen wird. Tinnitus und Gleichgewichtsstörungen sind nicht weg zu meditieren. Trotz handfestem Straftatbestand besticht die Szene aus Alberts Internatsleben vor allem durch ihren Witz: Mit seinem Freund Julien gräbt er im Wald eine tiefe Grube, in die hinein die beiden den himmelblauen Fiat Cinquecento der Lateinlehrerin versenken.

Ein „sanftes Allwissen“ – so bezeichnet Juliane Liebert („Das Glück lauert an der Ecke“, Die Zeit) sehr treffend Thomaes Erzähltechnik. Mitunter scheint dieses vage Auktoriale den LeserInnen einen Schritt voraus zu sein. Fragen tauchen auf, die sich aber in Rückwendungen so gut wie immer auflösen. Hier eine „Neigung zum Auserklären“ zu diagnostizieren ist nicht verkehrt – allerdings befriedigt das Nachschieben von Puzzleteilen und damit die Aufklärung von Ungereimtheiten die Neugierde der LeserInnen. Das „sanfte Allwissen“ gilt indessen nicht für Teil II, denn Gabriel positioniert sich kraftvoll als Ich-Erzähler in seiner Geschichte, ebenso Fleur, die in etwa zu gleichen Teilen sich selbst und ihren Mann reflektiert. Diese Unterschiede im Erzählen spiegeln vortrefflich die Unterschiede im Leben der beiden Brüder. Während Mick oft mit erlebter Rede charakterisiert wird, die sich auf eine Reihe weiterer Charaktere, die quasi in sein Leben hineinspielen, erstreckt (Monika, Desmond, Silvio Kurz, ein ehemaliger Klassenkamerad aus Ostberlin, und Chris), während diese Art des Erzählens die Figuren dezentriert und immer wieder einmal ein Detail hinzukommt, wirkt der Einbruch der Ich-Perspektive wie ein uniformisierender Paukenschlag. Mick ist leichtfüßig, flatterhaft, ein „soziales Wesen“, „Charme war sein Kapital“, so wie seine Mutter konstatiert. Er ist ein pikareskes Kind, dessen „hyperaktives Phlegma“ eine ADHS-Diagnose begründen könnte, ein ewiges Kind, das – so könnte man mutmaßen – exakt deshalb selbst so entspannt mit Kindern umgehen kann. Er surft über den Wogen seines Alltags, laut Delia als Schmetterling, der sich auf vielen Blüten niederlässt. Über sich selbst erzählt Mick in der Regel nichts. Mehrfach wird erwähnt, dass er „schwanzgesteuert“ sei. Er konfrontiert sich erst mit sich selbst, nachdem die Soundbox ihn krank gemacht hat und Delia sich von ihm trennen möchte. In seiner depressiv gefärbten Einkehr ist Mick sehr überzeugend, als „Mann mit den Makeln“, „ohne Beruf“, „ohne brauchbare Spermien“, „ohne Zukunft“. Die Haltlosigkeit, die er ausstrahlt, vermittelt sich als Appell an die Empathie der LeserInnen. Man fühlt mit ihm, wenn er in Bangkok in einer Band Bass spielen darf und damit in eine „embryonale Klangwelt“ abtaucht.

Im Gegensatz zu ihm ist Gabriel nahezu soziophob, verabscheut das Flatterhafte; als absoluter Smalltalk-Legastheniker ist er nur an zielführenden Gesprächen interessiert. „Er hatte sich selbst erdacht und umgesetzt“. Mit einer gehörigen Portion Opportunismus, so kann man unterstellen, hat er sich aus selbst selektierten Eigenschaften zusammenmontiert. Damit ist er „als Person weniger organisch“ als jemand, „der einen Stallgeruch mit sich herumträgt“. Genau das habe ihn für sie so attraktiv gemacht, sagt Fleur. Ein „Überperformer“ ist er, vor allem jedoch ein „Überkompensierer“, weil er nach allen Regeln der Kunst gegen seine Ethnie ankämpft. Nicht umsonst hat er sich für London entschieden, dem der Ruf eines europäischen Schmelztiegels der Kulturen vorauseilt. Doch der Eindruck einer Akzeptanz der Vielfalt, der gelebten Diversität in einer angeblich postrassistischen Metropole, täuscht. Einerseits. Andererseits zeigt Gabriel, dass es zu allererst auf die eigene Perspektive ankommt, denn das Merkmal, die Hautfarbe, das ihn seiner Meinung nach negativ von anderen absondert, stilisiert er selbst so intensiv zum Fehler empor, dass es sich quasi als self-fulfilling prophecy nach außen wendet, in seinem Fall in dieser Volte gänzlich pervertiert. Nach der Attacke auf die Studierende gilt er als sexistischer und rassistischer Deutscher. Die Anstrengung rund um die Bastion des strahlenden, siegessicheren, nach außen immer perfekt gestylten Ich gerät ins Wanken. Wenn sich Gabriel in solchen Momenten nicht dem zuwendet, wofür er brennt, zersplittert seine Repräsentationsoberfläche. Wenn es ihm jedoch gelingt, bei allem Brodeln in seinem Innern über Architektur zu sprechen, strahlt er „einen Zauber aus“. „Burnout“ ist für ihn eine Modediagnose. Könnte man meinen, wenn nicht die zyklische Struktur seiner Geschichte, beginnend 2016 mit der „Hundehaufenepisode“ und endend mit ihr, genau den Teufelskreis abbildete, in dem sich der Erschöpfte bewegt.

Bei allen Gegensätzen sind sich die beiden Söhne desselben Vaters nicht unähnlich: Beide sind oft unterwegs, Mick aus einem oft spontanen Fluchtimpuls heraus, Gabriel ausnahmslos geplant. Beide bauen – Mick sehr praktisch-dynamisch als nicht ganz ausgelernter Zimmermann in Bangkok, Gabriel theoretisch-statisch als erfahrener Architekt. Der eine bleibt Nomade, findet seinen Weg aus der Flucht in den Flow, der andere bleibt Monade.

Nicht nur die beiden Protagonisten überzeugen vollends, auch die Figuren, die ihnen zur Seite gestellt werden, insbesondere Delia und Fleur. Delia vereinigt auf sich die Qualitäten einer Tochter aus gutem Hause, die Papi in alles einweiht, mit der Gerissenheit einer Drogenkurierin, die in puncto Transport ihre ehemalige Bulimie funktionalisiert. Nach ihrem erfolgreich abgeschlossenen Jurastudium arbeitet sie in einer Kanzlei. Fleur ist die einfühlsame, dennoch deutlich direktive Begleiterin ihres Mannes. Sehr klarsichtig bilanziert sie, ein adoptiertes Kind, dass sie selbst und Gabriel „Phantomeltern“ mit sich herumschleppten, sie beide mit dem „Stigma durchs Leben“ liefen, „unwillkommen gewesen zu sein“. Ein ganz besonderer Stellenwert in der Konstellation der Akteure kommt Gabriels Sohn Albert zu. Mit seinen 15 Jahren beherrscht er die Imitation aller Akzente des Englischen, avanciert damit zu einem Meister der Mimikry und Jongleur der Vielfalt. Von seinem „neuen“ Onkel Mick ist er begeistert.

In den Charakterporträts ist Jackie Thomae ein rundum geglücktes ästhetisches Affektmanagement zu bescheinigen. Ihre Figuren sind intellektuell und emotional ansprechend, es entstehen minutiöse Psychogramme, die in ihrer Direktheit nicht aufgesetzt wirken, sondern sich organisch aus dem Text ergeben. Mick und Gabriel sind zwar als Grenzgänger zwischen Weiß und Schwarz sowie Ost und West konstruiert, doch weder das eine noch das andere erweist sich als übermächtig. Beide Themen bilden einen latenten roten Faden, lassen aber, vorwiegend in Teil II, Platz für eine Reihe anderer, aktuell virulenter Problemstellungen, wie etwa Adoption, Kindererziehung oder Gender.

Der Roman punktet bei Weitem nicht nur mit seinen Episoden und Charakterporträts, sondern brilliert gleichermaßen mit der Art und Weise, wie diese in der Narration verlinkt sind. Alles in allem hat Jackie Thomae mit Brüder ein veritables Epos vorgelegt. Wie sich anhand der Besonderheiten der jeweils individuellen Geschichten das historisch und ahistorisch Typische entfaltet – das ist bravourös. Der Roman glänzt des Weiteren mit einer Leichtigkeit, die ihn aber noch lange nicht zu einem leichten Roman macht. Brüder bietet eine gelungene Mélange aus Ästhetik, Unterhaltung und Wissen, es ist ein Buch, das nachhallt und den Deutschen Buchpreis verdient hätte.

Titelbild

Jackie Thomae: Brüder. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2019.
430 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446264151

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch