Vier gegen das Deutsche Reich
In Max Annas Roman „Berlin, Siegesallee“ begehrt ein kleines Häuflein von Idealisten gegen die Auswüchse des deutschen Kolonialismus auf
Von Dietmar Jacobsen
Max Annas (Jahrgang 1963) lebte von 2008 bis 2015 in Südafrika. Kein Wunder deshalb, dass seine Romane – mal im Vorder-, mal im Hintergrund – häufig mit dem Kontinent zu tun haben, auf dem auch die Deutschen bis zum Inkrafttreten der Versailler Verträge Anfang 1920 Kolonien besaßen. Die Aufarbeitung des blutigen kolonialen Erbes, zu dem auch der Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 zählt, ist vor allem für die Nachkommen der Opfer bis heute noch nicht abgeschlossen. Das bekunden nicht nur unterschiedliche Klageversuche gegen Deutschland als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern beispielsweise auch die in letzter Zeit in der Öffentlichkeit vieldiskutierten Fälle der Rückgabe der Benin-Bronzen an Nigeria sowie der Rückführung von Tausenden Skeletten oder Skelettteilen, die deutsche Wissenschaftler sich Anfang des letzten Jahrhunderts mitbringen oder schicken ließen, um daran ihre menschenverachtende Rassenforschung zu exemplifizieren.
Auch die zentralen Figuren im aktuellen Roman Berlin, Siegesallee des fünffachen Gewinners des Deutschen Krimipreises Max Annas haben mit den Vertretern der Kolonialmacht Deutschland ein Hühnchen zu rupfen. Und sie tun das mitten in Berlin im Jahr 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Joseph Ayang, Sohn eines Kameruner Kolonialbeamten und aktuell Theologie-Student in der Reichshauptstadt, Friedrich Smith, in Deutschland geborener Sohn eines schwarzen Amerikaners, in einem noblen Geschäft für Herrenoberbekleidung hauptsächlich mit niederen Botendiensten beschäftigt, und Ernst, von dem Maler Erich Schneider aus Deutsch-Südwest mitgebrachter Gärtner und Diener für alles in dessen Steglitzer Haus, treibt das Gefühl der Rache an. Sie alle haben erlebt, was es bedeutet, in einer Welt, die von Weißen beherrscht wird, als Schwarze leben zu müssen, und können nicht vergessen, was eine brutale Kolonialmacht ihren Brüdern und Schwestern in den vergangenen Jahrzehnten angetan hat.
Zu diesem Trio gesellt sich mit Florentine vom Baum eine Tochter aus besserem Hause, die das Leben in den afrikanischen Kolonien aus eigener Anschauung kennt – ihr Vater, ein vermögender Fabrikant, hat geschäftlich einige Zeit dort verbracht und seine Familie mitgenommen – und die über ihren Bruder Leopold, einen Studienfreund Josephs, mit den drei Männern in Berührung gekommen ist. In einer Gesellschaft, in der die Frauen unfrei sind, will sie nicht leben. Und alle Versuche ihrer Freundinnen und Bekannten, sich den herrschenden Normen unterzuordnen, werden von ihr mit Verachtung gestraft.
Aber wie soll man seinen Protest zum Ausdruck bringen? Mit welchem Zeichen eine Öffentlichkeit, die sich kaum für die Verbrechen interessiert, die in den Kolonien geschehen sind und geschehen, aufrütteln? Berlin, Siegesallee lässt das Quartett nach Wegen suchen, den Deutschen zurückzuzahlen, was den Menschen in den Kolonien von den nach dort entsandten Soldaten und Beamten angetan wurde. Ihre Taten sollen ein Fanal sein und die deutschen Landsleute, die sich kaum für die Vorgänge in den Kolonien interessieren, aufrütteln und zum Nachdenken bringen. Allein dass das Quartett kurz hintereinander zwei kürzlich nach Deutschland zurückgekehrte Militärs, die in den gutbürgerlichen Kreisen der vom Baums verkehren und sich für ihr unmenschliches Tun auf dem afrikanischen Kontinent auch noch brüsten, kaltblütig tötet, nimmt die mit anderen Problemen beschäftigte Öffentlichkeit kaum wahr.
Also braucht es einen höheren Einsatz für das gefährliche Spiel – vielleicht sogar den scheinbar höchsten: ein Attentat auf den Kaiser auf offener Straße. Akribisch bis auf die Fluchtwege der Attentäter geplant, soll es unter den kalten Augen der Denkmäler aller Vorfahren des gegenwärtigen Herrschers stattfinden, mit denen die Siegesallee im östlichen Teil des Berliner Tiergarten beidseitig begrenzt ist. Sämtliche 32 brandenburgischen Markgrafen und Kurfürsten sowie die preußischen Könige von Friedrich I. über Friedrich den Großen bis zu Kaiser Wilhelm I. sollen steinerne Zeugen sein, wenn ihr jüngster Nachfahr unter den Kugeln der Rächer Zigtausender Schwarzer Brüder und Schwestern zusammenbricht. Doch das Attentat scheitert, weil Schwarze, die sich in die erste Reihe all der den Kaiser und seine Entourage begaffenden deutschen Untertanen drängen, natürlich auffallen. Und sofort das zu spüren bekommen, was man in unseren Tagen als Alltagsrassismus bezeichnet.
Max Annas’ zehnter Roman – übrigens sein letzter im Hause Rowohlt – benutzt die deutsche Historie, um eine Geschichte zu erzählen, die so nie stattgefunden hat. Die kleine, gut erfundene Terroristencrew samt ihrem waghalsigen Unternehmen hat es (leider) nicht gegeben. Was es allerdings gegeben hat, sind die Umstände, gegen die sich die drei jungen Männer und die mit ihrem vorgezeichneten Leben und der Situation von Frauen in der Welt unzufriedene Florentine vom Baum auflehnten. Und was es wieder gibt, ist das Berliner Stadtschloss, dieses „monströse Bauwerk“, wie es Friedrich Smith bezeichnet, als er sich im Angesicht des riesigen Gebäudes fragt, „wie es sich hinter diesen Mauern wohl lebte“. Gesprengt in den Jahren 1950/51, steht es seit wenigen Jahren wiederaufgebaut an seinem alten Platz. Ihm hat Annas in seinem Roman noch eine ganz besondere Rolle zugedacht. Über die soll hier aber Schweigen bewahrt werden.
Berlin, Siegesallee besitzt sein ideelles Zentrum in dem knapp 30-seitigen, fünf der alles in allem 65 Kapitel umfassenden Besuch der vier Protagonisten einer im Berliner Luna-Park stattfindenden Völkerschau. Europaweit beliebt waren im ausgehenden 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. jene kommerziellen Zurschaustellungen als fremd empfundener Menschen, scheinbar authentisch inszeniert innerhalb von deren nachgebauten Lebenswelten. Hier ist es ein „senegalesisches Dorf“, das mitten in dem berühmten Berliner Vergnügungspark aufgebaut wurde. Zur Unterhaltung der räumlich von den „Eingeborenen“ getrennten, Eintritt zahlenden Zuschauern finden handwerkliche Vorführungen statt, wird auf exotischen Instrumenten gespielt und dazu getanzt, kann man den „Harem des Häuptlings“ bewundern.
Allein das Ganze ist genauso echt, wie das Bild eines Kaisers, der hoch zu Ross die Horden von „Wilden“ zurückdrängt, die sich ihm und seinen Truppen in den Kolonien entgegenstellen, wie es der Schlachtenmaler Erich Schneider, in dessen Gefolgschaft Ernst aus Deutsch Süd-West nach Berlin gekommen ist, gerade malt. Und noch absurder wird die Szene durch den Umstand, dass hier Schwarze, die dafür bezahlt haben, Schwarze betrachten, die sich dafür bezahlen lassen, von anderen Menschen betrachtet zu werden. Dass nur die wenigsten von Letzteren ein senegalesisches Dorf aus eigener Anschauung kennen, kommt dazu. Viele der „Wilden“ sprechen gut Deutsch, und auf seine Frage, woher die Trommler in einer kleinen Gruppe kommen, die die Zuschauer mit Musik und Tanz unterhält, bekommt Ernst zur Antwort: „Einer kommt aus Hannover, einer aus Monrovia und einer aus Magdeburg.“ Alltäglicher Rassismus in Reinkultur.
Geschickt erweitert Annas’ Roman sein Blickfeld über die wenigen Wochen und Monate des Jahres 1914 hinaus, in denen er spielt. In zehn locker in den Text eingestreuten Briefen, die Joseph Ayang, nachdem er in seine Heimat zurückgekehrt ist, an seinen Studienfreund Leopold vom Baum schreibt, äußert er seine Verwunderung und Bestürzung darüber, was in diesem Deutschland in den Jahren nach seinem Weggang passiert ist. Der erste stammt vom Oktober 1914 und reflektiert den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der letzte ist auf den April 1941 datiert und betont die Notwendigkeit, sich an jedem Ort auf der Welt gegen den Wahnsinn von Faschismus und Krieg zu engagieren. Denn eines erkennen Annas’ Figuren deutlich: Das, wogegen sie sich auflehnten und was sie taten, als ihre Welt langsam in die große Katastrophe des Ersten Weltkriegs taumelte, hat sehr wohl zu tun mit dem, was in den Jahren und Jahrzehnten danach passierte. In diesem Sinne hat Max Annas mit Berlin, Siegesallee im Übrigen auch einen höchst aktuellen Roman geschrieben.
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