Die Großmutter und der Überflieger
Alina Bronsky erzählt in ihrem Roman „Pi mal Daumen“ von einer ungewöhnlichen Beziehung
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEr ist ein jugendlicher Überflieger mit großen Ambitionen, sie eine Frau Anfang der Fünfziger. Zusammenpassen tun die beiden Protagonisten im neuen Roman von Alina Bronsky zunächst ganz und gar nicht. Moni Kosinsky gehört eher zu den Schrillen, Oscar, der mit vollem Namen Oscar Maria Wilhelm Graf von Ebersdorff heißt, zu den Stillen. Er scheint jenseits seiner geliebten mathematischen Formeln verloren, sie, die alle Hände voll mit Ehemann Pit, einer vom Leben überforderten Tochter, drei Enkeln und ebenso vielen Nebenjobs hat, unter verkopften Mathematikern völlig fehl am Platz zu sein.
Und doch lernen sich die beiden in einem Hörsaaal der Berliner Freien Universität anlässlich einer Analysis-Vorlesung für Erstsemester kennen. Beide haben vor, ein Fach zu studieren, welches im Ruf steht, dass knapp 80 Prozent derjenigen, die sich darauf einlassen, weit vor dem Erreichen ihres Ziels scheitern. Aber für Oscar, der ein Jahr früher eingeschult wurde und später ein Schuljahr übersprungen hat, kommt nichts anderes in Frage als eine Karriere in seiner geliebten Mathematik. Und Moni will sich mit dem Studium einen lange Zeit gehegten Lebenstraum erfüllen.
Großmütter sind die bevorzugten Heldinnen der 1978 im russischen Swerdlowsk geborenen und heute mit ihrer Familie in Berlin lebenden Autorin Alina Bronsky. Sie standen im Mittelpunkt von Romanen wie Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche (2010), Baba Dunjas letzte Liebe (2015) – beide Bücher waren im Herbst ihres jeweiligen Erscheinungsjahrs auf der Longlist des Deutschen Buchpreises zu finden –, Der Zopf meiner Großmutter (2019) oder Schallplattensommer (2022). Und sie gaben den Ton an in ihren jeweiligen Lebenskreisen, die sich in der Mehrzahl der Fälle in der Szene der Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland ausgewanderten sogenannten Russlanddeutschen verorten ließen. Deren Integrationsprobleme – das der Kommunikation in einer fremden Sprache nicht zuletzt – spielten deshalb auch lange Zeit eine wichtige Rolle in Bronskys Büchern, verliehen der erzählerischen Lockerheit und dem ausgeprägten Humor, die die Romane dieser Autor von Anfang an auszeichneten, den typisch melancholischen Beigeschmack.
Bei Moni Kosinsky nun erinnert nur noch der Nachname an die osteuropäische Vergangenheit ihrer Familie. Längst zu hundert Prozent integiert, ist die Frau gewitzt, weiß sich zu wehren und nimmt bei dem von den alltäglichen Dingen des Lebens komplett überforderten sechzehnjährigen Adelsspross Oscar bald so etwas wie die Rolle seiner Mutter ein. Er revanchiert sich für die Fürsorge, die er immer mehr genießt, mit guten Tipps für den Studienalltag und ein paar fachlichen Ratschlägen, von denen Moni allerdings schon nach kurzer Zeit immer weniger benötigt.
Dass sich jemand so intensiv um ihn kümmert, hat der junge Mann freilich auch nötig. Denn jenseits seiner von frühester Kindheit an geförderten mathematischen Begabung ist es um Oscar Graf von Ebersdorff, den die kleinsten Probleme, die der Alltag mit sich bringt, heillos zu überfordern scheinen, ziemlich traurig bestellt. Er fremdelt mit seiner Umgebung, berührt ihm begegnende Dinge am liebsten mit Handschuhen und weigert sich beharrlich, seinen Fuß in ein Krankenhaus zu setzen. Deshalb nimmt er die Rolle, in die Moni ihm gegenüber von Beginn an schlüpft, dankbar an.
Freilich glaubt er keinen Moment daran, dass die Frau, die er zunächst „wahlweise für eine Sekretärin oder für eine Kantinenfrau“ hält, den Anforderungen eines Mathematikstudiums über längere Zeit gewachsen sein wird. Auch wenn sie noch so selbstbewusst auftritt, keine Scheu davor hat, die exzentrischen Professoren an der Fakultät wie ihresgleichen zu behandeln und nach und nach auch Beweise für eine mathematische Begabung liefert – für Oscar ist klar: „Eine überdurchschnittlliche Portion Beharrlichkeit ersetzte bis zu einem gewissen Grad [ihren] mathematischen Sachverstand. Aber irgendwann trennte sich auch hier die Spreu vom Weizen.“
Pi mal Daumen erzählt auf humorvolle Weise die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft. Oscar, der jenseits seiner mathematischen Besessenheit in den meisten Dingen des Lebens wie ein Kind wirkt, und die entschlossen und gegen sämtliche Widerstände die Realisierung ihres Lebenstraums in die Hand nehmende Moni ergänzen sich gerade wegen ihres unterschiedlichen Herkommens und der daraus resultierenden verschiedenen Lebenserfahrungen aufs Beste. Was er nicht weiß, bringt sie ihm bei. Und wo sie zu scheitern droht, ist er mit Rat und Tat zur Stelle.
Als schließlich noch eine dritte Person die Szene betritt und es sich herausstellt, dass der aktuell berühmteste Zahlenakrobat Deutschlands, Daniel Johannsen, Träger der Fields-Medaille für Großtaten auf dem Gebiet der mathematischen Forschung, sowohl eine Rolle in der Vergangenheit von Moni Kosinsky gespielt hat als auch – in der Gegenwart – der Grund dafür ist, dass Oscar sich ausgerechnet die Berliner Universität als Studienort ausgesucht hat, bekommt Bronskys Roman noch eine zusätzliche Dimension. Denn der sechzehnjährige Überflieger, aus dessen Perspektive das Buch im Übrigen erzählt wird, möchte nur zu gern wissen, welche Verbindung es zwischen der nach seiner Meinung nur mittelmäßig begabten Hausfrau und dem weltweit verehrten Genie Johannsen, dessen Name „auf dem Deckblatt“ von Oscars erster akademischen Abschlussarbeit „fest eingeplant“ ist, besteht. Die Lösung dieses kriminalistisch anmutenden Rätsels beschädigt am Ende ein wenig den Nimbus des Genies, soll hier aber nicht verraten werden.
Auch ihr insgesamt neunter Roman besitzt wieder jene Qualitäten, die Alina Bronsky im Verlaufe von rund anderthalb Jahrzehnten zu einer beständig wachsenden Lesergemeinde verholfen haben, einige ihrer Bücher zu Bestsellern werden ließen und dem vielbeachteten Jugendbuch Scherbenpark (2008), mit dem ihre Schriftstellerkarriere startete, zu seiner erfolgreichen Verfilmung im Jahr 2013 verhalf. Ihre Geschichten sind gut ausgedacht sowie kurzweilig, gekonnt und humorvoll erzählt. Das Personal ihrer Bücher – herausragend dabei die Frauenfiguren – ist bunt gemischt, besitzt, wie die Autorin selbst, häufig einen osteuropäischen Background und tendiert bisweilen ins Exzentrisch-Exotische. Die Konflikte, die es zu bewältigen hat, sind gut nachvollziehbar und ihre Lösung entbehrt in der Regel jeglichen didaktisch-belehrenden Ansatzes, so dass Leserinnen und Leser sich von Alina Bronskys Büchern nie gegängelt fühlen müssen.
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