Von der Würde des richtigen Lebens
In seinem neuen Roman “Die Unbeugsamen” berichtet Roy Jacobsen wie eine Gruppe Teenager in Oslo während der deutschen Besatzung im 2. Weltkrieg überlebt und dabei durchaus anständig bleibt
Von Kristin Wesemann
Wann ist man unwürdig? Wem oder was gegenüber? Und kann man sich Würde leisten, wenn alles auf der Kippe steht und das Leben ein Über vorgesetzt bekommt? Kann man selbst überleben und obendrein anderen beim Überleben helfen – ohne Würde, ja unwürdig?
Norwegen um 1942, ein von den Deutschen besetztes Land, Kinder von zehn, elf Jahren im Krieg. Das ist grob umrissen die Versuchsanordnung, die Roy Jacobsen in seinem Roman entwirft. Er bestückt sie mit Carl, Olav und Roar, drei Nachbarschaftskumpeln aus einem Kleine-Leute-Viertel in Oslo, mit ihren Geschwistern, Freunden und Feinden, mit Randfiguren und ein paar Erwachsenen, denen zu trauen ist in dieser Welt.
Ein Gesetz hat Olav ihnen gegeben: „Dass dieser Krieg uns nichts angeht, dass es andere sind, die ihn betreiben.“ Nur funktioniert dieses Gesetz im richtigen Leben nicht. Das Leben ist hart, muss organisiert werden, richtig satt wird niemand – außer denen, die sich mit den Besatzern gut stellen. Die Eltern verstummen oder verschwinden, die größeren Kinder müssen sich um die kleineren kümmern. Von Politik und dem, was da draußen vor sich geht, ist kaum die Rede. Aber Überleben müssen die Jungs und alle, für die sie sorgen. Da passt es gut, dass Carl vom Vater ein geheimnisvoller Plan hinterlassen wurde mit Hinweisen auf leerstehende und gut bestückte Häuser. Die Jungs, die sich und ihre Familien bislang mit Zeitungaustragen, dem Aufmöbeln kaputter Fahrräder oder dem Anschreiben in Tante-Emma-Läden über Wasser halten, räumen die Vorräte der Häuser nach und nach leer. Nur anfangs machen sie sich kurz Gedanken über das Richtig und Falsch ihrer Raubzüge.
Roy Jacobsen nimmt es, was Zeit, Daten oder Ereignisse betrifft, nicht so genau, er hält solche Dinge im Vagen, was die Lektüre nicht immer einfach macht. Man muss konzentriert lesen, um nicht davon überrascht zu sein, dass Carl plötzlich Teil einer norwegischen Widerstandsgruppe ist, ohne es selbst so richtig zu wissen. Er heuert in einer früheren Gummifabrik an, arbeitet sich binnen Tagen oder Wochen hoch zu einer Art Buchhalter und hat damit die Logistik der Nazis so gut im Blick, dass die Widerständler, zu denen sein ermordeter Vater gehörte, dies nutzen. Nebenbei floriert das Geschäft mit Kunstwerken, die sie in den leerstehenden Häusern stehlen. „Der einsame Baum“ von Caspar David Friedrich ist ebenso darunter wie zwei Fabergé-Eier. (Diese werden übrigens nach dem Krieg und kurzer Selbstbefragung, aber schließlich ohne schlechtes Gewissen in ein Auto und ein Sommerhaus umgewandelt. Caspar David Friedrich indes bleibt in der Familie, wird jedoch umgetauft in einen unbekannten Künstler und soll bei Carls Enkeln verbleiben. Denn das Bild galt ohnehin seit einem Kunstraub in den 1930ern als verschollen.)
Aber zurück zur Besatzungszeit, denn hier geht erst Olav verloren und dann, wenn auch für einige Jahre nur, Freund Roar. Olav hat durch kleine Ausweisfälscherei einen Baujob am Flughafen ergattert. Ein abstürzendes Flugzeug reißt ihn in den Tod. Roar erlebt beim Losschlagen des Diebesgutes eine schier unersättliche Kundin, die ihn hinhält und zugleich zu verführen versucht. Er erschießt sie und ruft selbst die Polizei. Im Gefängnis erlebt dieser Junge in wenigen Jahren mehr Menschliches und Unmenschliches als die meisten sich vorstellen können. Das Schöne: Er bringt Gutes, vor allem Literatur und das Schachspielen, unter seine Mitgefangenen. Niemand, nicht seine Familie, nicht seine Freunde, die ihn besuchen, wirft ihm die Tat vor.
Die ganze Barbarei, die die Nazis über die Welt gebracht haben, kommt in Jacobsen Die Unwürdigen vor, die Folterungen, die Deportationen, die Abtransporte der norwegischen Juden auf der „Donau“. Nur thematisiert oder gar kommentiert wird nichts, alle Grausamkeiten zusammen bauen die Kulisse, vor der dieser dichte und doch so offene Roman spielt. Zwei Drittel des Buches sind so knapp, kurzatmig und abgehakt geschrieben, dass es manchmal zäh wird. Aber der Roman wächst mit seinen Figuren, wächst über sich hinaus, wird zum Ende hin schönste, flüssig zu lesende Literatur.
Die deutsche Besatzung in Norwegen hat fünf Jahre gedauert. Was macht eine brutale und unmenschliche Fremdherrschaft mit Menschen? Was macht jemanden zum Mitläufer, zum Kollaborateur? Wahrscheinlich die „Durchschnittlichkeit – oder Mittelmäßigkeit“, wie Carl schlussfolgert. Carl, das lässt sich am Ende erfahren, findet jenen Mitläufer, der seinen Vater auf dem Gewissen hat. Er und Roar halten ihn des Lebens für unwürdig. Einer, der in jedem System was geworden wäre, der es schafft durchzuschlüpfen, wenn sich ein Land nach der Katastrophe selbst verordnet, „nach vorn“ zu blicken.
Jacobsen, so scheint es, zweifelt an seinem Land, seinen Landsleuten. Er ist 1954 geboren, kennt das Mileu. So lässt er Carl am Ende einen Brief an dessen einzigen Sohn schreiben und zitiert den Gewerkschafter Konrad Nordahl: Zehn Prozent der Norweger seien irgendwie im Widerstand gewesen, „zehn Prozent waren Mitläufer, Kollaborateure, das, was wir gern Landesverräter nennen, während achtzig Prozent gleichültig waren“. Carl selbst ordnet die Norweger als „vor allen Dingen gehorsam“ ein.
Diesem Gehorsam gegenüber waren die Freunde wirklich unwürdig. Das „Sich-auf-der-Straße-und-in-der-Schule“-Gutmachen nennt Carl einen Doppelsieg. Carl und Roar haben gesiegt, ihr Situationsanstand, ihre Aufrichtigkeit und ihr Sinn für Gerechtigkeit. Und man denkt: Diese drei Jungs wären immer und überall sie selbst, „in jeder erdenklichen Zeit“, mit ihrer Würde.
„Die Unwürdigen“ ist ein Roman, den man wohl mehrfach lesen sollte. Nur: Da ist ja noch das umfangreiche Werk des von Jacobsen, dem man sich auch gern zuwenden will.
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