Cannabis contra Klassenfeind

In Jakob Heins Roman „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“ lehrt ein emsiger ostdeutscher Jungökonom Bonner Spitzenpolitiker das Fürchten

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie in jeder zentral verwalteten Wirtschaft bestimmten auch in der DDR „die da oben“, welche volkswirtschaftlichen Initiativen mit welchen Mitteln und zu welchem Endzweck in einem bestimmten Zeitraum umgesetzt werden sollten. Sie taten das, indem sie Planvorgaben machten. Ob sich das Ganze schließlich Zwei-, Fünf- oder Siebenjahresplan nannte – es wurde jeweils von der dem Ministerrat untergeordneten Staatlichen Plankommission nicht nur ausgearbeitet, sondern auch landesweit koordiniert und kontrolliert. Von derem Sitz im Gebäude des ehemaligen Preußischen Landtags in Berlin-Mitte aus steuerte ein Heer von der Einheitspartei treu ergebenen Ökonomen jede noch so kleine ökonomische Regung – von der Zusammenarbeit mit anderen Ländern bis zum Zentralen Artikelkatalog, in dem sich jedes in der DDR hergestellte Industrieerzeugnis gelistet fand.

Hierher, in die Staatliche Plankommission der DDR, schickt Jakob Hein den Helden seines neuen Romans Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste. Grischa Tannberg hat gerade sein Studium an der Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ erfolgreich beendet. Und weil am Leumund des aus Gera kommenden jungen Mannes – der Vater Parteifunktionär, die Mutter Kaderleiterin in einem volkseigenen Betrieb, der Sohn steht zu hundert Prozent hinter Partei und Regierung – nichts auszusetzen ist, beginnt der lernbegierige „Jungaktivist“ sein Berufsleben in der für Afghanistan zuständigen Abteilung des Hauses.

Und hat sofort ein Problem. Denn daran, dass hier tatsächlich etwas bewegt wird, man den ökonomischen Austausch mit der seit 1982 in einem „Vertrag über Freundschaft und gegenseitige Zusammenarbeit“ auch als Handelspartner festgeschriebenen Republik Afghanistan nach Kräften befördert, scheint außer ihm, der vor Tatendrang am liebsten 24 Stunden täglich an seinem Arbeitsplatz verweilen würde, niemand auch nur das geringste Interesse zu haben. Stattdessen rät man ihm schon im ersten Gespräch dazu, seinen Übereifer zu bremsen. Denn so macht es seit geraumer Zeit die ganze Abteilung: „Sie warten darauf, dass etwas zu tun ist, und bleiben dabei in innerer Spannung“. Um das so angenehm wie möglich zu gestalten, befinde sich im Gebäude der Staatlichen Plankommission auch einer der „besten Orte für kunstvolles Warten“ im östlichen Berlin: eine Kantine mit „Weltniveau“.

Weltniveau hatte in der DDR praktisch alles. Etwas zu versprechen, das unter diesem Maßstab blieb, konnte schon diejenigen auf den Plan rufen, die sofort Konterrevolutionäres und den Sozialismus Zersetzendes witterten. Allein der Plan, mit dem Grischa eines Tages vor den Schreibtisch seines Vorgesetzten tritt, ist so verrückt, dass er nicht nur klappen, sondern auch zur Verwirklichung zweier Hauptziele der DDR beitragen könnte: der ökonomischen Stärkung des mit Devisen nicht gerade üppig ausgestatteten kleinen Landes und der gleichzeitigen erheblichen Schädigung des „Klassenfeindes“ im Westen.

Denn Grischa hat sich schlau gemacht und herausgefunden, dass die afghanische Wirtschaft wirklich kaum etwas anzubieten hat, was als Tauschgut für gelieferte DDR-Waren infrage käme. Nur eines gibt es dort am Hindukusch in rauen Mengen: Felder, auf denen Schlafmohn und Cannabis prächtig gedeihen. Und weil gegen die in der DDR frei verfügbaren Drogen Alkohol, Nikotin und Koffein niemand etwas einzuwenden wagt, da der Partei ansonsten ihr ganzer „Laden um die Ohren fliegen würde“, und „Medizinalhanf“ zu einem bestimmten Prozentsatz tatsächlich auch in Medikamenten zu finden ist, die in DDR-Apotheken verkauft werden, findet der Plan schließlich nach Rücksprache mit den verantwortlichen Ministeriellen allgemeine Zustimmung. So dass sich schon kurz danach Grischa Tannberg, sein unmittelbarer Vorgesetzter Ralf Burg und die junge Wissenschaftlerin Cornelia Frühling nach Kabul aufmachen, um die Verhandlungen mit der afghanischen Seite zu führen.

Jakob Hein (Jahrgang 1971), der neben seiner Arbeit als Schriftsteller auch als praktizierender Psychiater unterwegs ist, hat als historischen Hintergrund für seine Erzählungen und Romane schon öfter die letzten Jahre der DDR und die unmittelbare Nachwendezeit gewählt. Publikationen wie Antrag auf ständige Ausreise und andere Mythen der DDR (2007), Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand (2009) oder Kaltes Wasser (2016) erzählen in der für diesen Autor typischen, mit seinem literarischen Herkommen aus der Lesebühnenbewegung im Zusammenhang stehenden locker-humorvollen Art davon, wie rund um das Wendejahr 1989/90 durch ihre Erfahrungen mit der jahrzehntelangen Mangelwirtschaft der DDR gewitzt gewordene Menschen mit den plötzlich ganz neuen Realitäten und Rahmenbedingungen des Lebens umgehen.

In Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste nimmt der Autor seine Leserinnen und Leser nun in das Jahr 1983 mit. Die DDR hat schwer zu kämpfen, viele Schulden und bei Weitem nicht mehr genug politische Häftlinge, die man für gutes Geld an den Westen verkaufen könnte. Da fällt wie Manna vom Himmel plötzlich ein vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Joseph Strauß eingefädelter Milliarden-Kredit in den Schoß des dem Untergang gewidmeten sozialistischen Scheinriesen. Man rafft sich noch einmal auf und schafft es tatsächlich, die Agonie des Gemeinwesens um weitere sieben Jahre zu verlängern. Aber dann ist endgültig Schluss.

Dass es nicht zuletzt fehlender ökonomischer Sachverstand in ihren führenden Gremien war, der die „erste sozialistische Republik auf deutschem Boden“ nach vier Jahrzehnten kollabieren ließ, kann man sich in dem fast zeitgleich erscheinenden Roman Das Narrenschiff von Jakob Heins berühmtem Vater Christoph Hein auf mehr als 700 Seiten noch einmal erzählen lassen. Der Sohn macht es kürzer, respektloser und absurder. Und liefert ganz nebenbei auch noch eine fantasievolle Antwort auf die bis heute nicht eindeutig beantwortete Frage, was den verbohrten Kommunistenhasser Strauß wohl bewogen haben mochte, gerade jenen einen Milliardenkredit zu verschaffen, die er immer in Grund und Boden verdammt und zum Teufel gewünscht hatte?

Denn natürlich kommt die kleine Delegation der Staatlichen Plankommission aus Afghanistan mit guten Nachrichten zurück. Der Import von „Medizinalhanf“ kann beginnen. Und weil die Wege des Stoffs nun nicht mehr „lang, verschlungen und kompliziert“ sind, was früher illegal und mit großen Verlusten unterwegs verschoben wurde nun ganz legal in die Hauptstadt der DDR ausgeflogen werden kann, machen beide Seiten ihren Schnitt. Der Gewinn der afghanischen Bauern steigt. Und in der DDR kann der reinste, unverschnittenste Stoff angeboten werden, der Europa je erreichte. Aber wo ihn verkaufen? Und woher die Devisen nehmen, um ihn bei den afghanischen Freunden zu bezahlen? Auch darüber hat der gewitzte Jungökonom Grischa längst nachgedacht.

Weil die Intershops für diese spezielle Ware offensichtlich ungeeignet sind – man will keine sich aufstauenden Volksmassen vor Läden, in denen nicht alle einkaufen können –, entsteht, unmittelbar nachdem das Geschäft mit den afghanischen Freunden unter Dach und Fach ist, an der Berliner Grenzübergangsstelle Invalidenstraße/ Sandkrugbrücke der erste „Deutsch-Afghanische Freundschaftsladen“. Und dort, nicht mehr in der DDR, aber auch noch nicht in Westberlin, in einem politischen Graubereich sozusagen, wird neben anderen landestypischen Produkten Afghanistans auch portionsweise der Schwarze Afghane gegen harte Devisen angeboten. Es wird ein Riesenerfolg. Und im Nu füllen sich die leeren östlichen Kassen mit D-Mark und Dollar, dem „heiligen Gral der Plankommission“.

Heins Roman endet an historischem Ort und mit historischem Personal. Denn als sich der Aufruhr, der sich täglich rund um den Freundschaftsladen herum abspielt – Hunderte stehen Stunde um Stunde an, um in den Osten zu kommen, drehen aber sofort wieder um, wenn sie ihre Geschäfte im Grenzbereich erledigt haben –, bis nach Bonn herumspricht und die DDR ihre Pläne offenlegt, an weiteren Grenzübergangsstellen weitere Freundschaftsläden zu eröffnen, bekommt man es im Bonner Ministerium für innerdeutsche Beziehungen mit der Angst zu tun. Und auch hier ist es – spiegelbildlich zu Grischa Tannberg – eine junge Referendarin, die für Druck sorgt, weil sie in dem in Bonn hinter vorgehaltener Hand spöttisch „Broschürenministerium“ genannten Haus nicht Däumchen drehen und den Tag in der Kantine verbringen will.

Und so kommt es letztlich zu dem berühmten Treffen zwischen Strauß und Alexander Schalck-Golodkowski – der firmiert bei Hein nicht unter eigenem Namen, sondern als „ein feister Mann im gut sitzenden Anzug, der aussah wie der Chef einer kriminellen Bande“ – auf dem Hof des mit Strauß befreundeten bayerischen Großschlachters Josef März. Wie das ausgegangen ist, davon erzählen uns die Geschichtsbücher. Wie es ausgegangen sein könnte, erzählt uns Jakob Hein. Wenn man sich hier für eine Version entscheiden könnte, Realität oder Fiktion – ich wäre für Letztere. Zumal es bei der dank eines Tricks der Ostdeutschen viel entspannter zugeht.

Titelbild

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste. Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2025.
256 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783869713168

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