Das wilde Kind

Mit „Darwyne“ legt der französische Schriftsteller und Ökologe Colin Niel den wohl ungewöhnlichsten Thriller des Jahres vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für seine Mutter Yolanda ist er „das kleine Opossum“, mehr zur Tierwelt gehörend als unter Menschen. Der zehnjährige Darwyne Massily lebt in einem Slum am Rande des Amazonasgebiets in Französisch-Guayana. Der leicht behinderte Junge, von der Mutter einst mitten im Wald zur Welt gebracht und deshalb wohl den Dschungel anders als andere nicht fürchtend, sondern sich in ihm heimisch fühlend, ist ein Außenseiter in der Gesellschaft der Flüchtlinge, die hier leben.

Sie alle haben in dem zu 90 Prozent von Urwald bedeckten französischen Überseedépartement an der südamerikanischen Atlantikküste eine Möglichkeit gefunden, den bedrückenden Verhältnissen in ihren jeweiligen Heimatländern, zu denen in erster Linie Surinam und Haiti gehören, zu entkommen. Mehr als 7.000 Kilometer von Europa entfernt ist man hier dennoch in die Europäische Union eingewandert und genießt auch als Illegaler einen gewissen Schutzstatus. Yolanda, die noch eine ältere, bereits verheiratete Tochter hat, besitzt eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung und verdient sich das Wenige, was man zum Leben braucht, indem sie für ihresgleichen kocht und Waren, die sie in der nahen Stadt besorgt, mit einem kleinen Aufpreis an die Slumbewohner weiterverkauft.

Darwyne liebt seine Mutter abgöttisch. Mit den Männern, die die schöne und intelligente Frau in regelmäßigen Abständen mit nach Hause bringt und die dann jeweils für einige Zeit in die Stiefvater-Rolle schlüpfen, hat er allerdings seine Probleme. Dass die die Mutter anschauen, als „wäre sie Essen auf zwei Beinen“, irritiert den Jungen nicht wenig. Und weil ein paar von den acht, die er bisher gezählt hat, die ihnen unerwartet zugewachsene Vaterrolle so interpretieren, dass sie dem Kind gelegentlich auch mit roher Gewalt zuleibe rücken, haben Nachbarn die Familie bereits einmal bei der Kinder- und Jugendhilfe angezeigt. Deren Mitarbeiterin Mathurine macht sich, nachdem diese zurückliegende Überprüfung der familiären Verhältnisse nichts ergeben hat, zu Beginn des Romans ein weiteres Mal auf den Weg, um die Situation bei den Massilys zu evaluieren. Und sie lernt ein Kind kennen, das ihr mehr wie ein Teil der Natur als wie ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft vorkommt.

Darwyne ist der siebente Roman des 1976 in Clamart geborenen französischen Evolutionsbiologen, Ökologen und Schriftstellers Colin Niel. Der hat selbst mehrere Jahre als Agrar- und Forstingenieur im Bereich Biodiversität in Französisch-Guayana gearbeitet, kennt also sowohl das Land als auch seine Probleme mit den vielen, meist illegalen Migranten, die sich nach einem besseren Leben sehnen und von einer Zukunft in Europa träumen. Die bleibt den meisten von ihnen freilich verwehrt. Bereits die vierteilige Thrillerserie, die am Beginn von Niels Schriftstellerkarriere steht und bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, spielte in dem 1946 zum integralen Bestandteil Frankreichs gewordenen Land am Atlantik. Mit Darwyne, dem Roman, der in Frankreich bereits mehrere renommierte Preise gewinnen konnte, ist der Autor nach zwei weiteren vielgelobten Büchern an diesen Schauplatz zurückgekehrt. Eine Fortsetzung, in der die Figur der Sonderpädagogin Mathurine in den Mittelpunkt rückt, erscheint dieser Tage in Frankreich.

Dass die ersten sieben Stiefväter Darwynes nach dem Ende des jeweiligen Verhältnisses mit Yolanda spurlos verschwanden, niemand je mehr etwas von ihnen hörte, fällt Mathurine erst auf, als sie sich näher mit den Verhältnissen, in denen der Zehnjährige aufwächst, beschäftigt. Ob die Männer einfach weitergezogen sind oder Darwyne etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte – es wird bis zum Schluss des Romans nicht ganz klar. Doch weil der Junge nur einer von vielen Fällen ist, der die Kinder- und Jugendhilfe beschäftigt, und jene frühere Anzeige gegen die Mutter und einen ihrer zeitweiligen Lebensgefährten von einer Ex-Kollegin Mathurines schließlich zu den Akten gelegt wurde, ist es inzwischen umso schwerer, zu begründen, warum man sich weiter mit dem Fall des Jungen beschäftigt.

Doch da die Sozialarbeiterin vom ersten Moment an, als sie den Jungen kennenlernt, von ihm fasziniert ist, vermag sie es nicht, den Fall ruhen zu lassen und sich anderen problematischen Kindern zuzuwenden. Vor allem Darwynes Verbundenheit mit der Natur, seine offensichtliche Fähigkeit, intuitiv mit Tieren und Pflanzen kommunizieren zu können, sich im Dschungel wohler zu fühlen als unter den Gleichaltrigen in seiner Schule oder zu Hause bei der Mutter und ihrem aktuellen Liebhaber Jhonson, machen ihn für die junge Frau zu etwas Besonderem.

Mit dem nicht in die menschliche Gesellschaft passen wollenden Jungen und der Sozialarbeiterin, die sich nichts so sehr wie ein eigenes Kind wünscht, was ihr bis jetzt verwehrt geblieben ist, hat Colin Niel zwei überaus faszinierende Figuren erschaffen. Beide haben mehr miteinander gemeinsam als mit allen anderen Menschen um sie herum. Als Darwyne das bemerkt, beginnt er, Mathurine langsam zu vertrauen, ja lässt es sogar zu, dass sie ihn in den Dschungel begleitet und dort jene Fähigkeiten, die ihn von anderen unterscheiden, staunend entdeckt.

Colin Niels Roman, der nicht zuletzt auf Grund seines hochpoetischen Stils weit mehr ist als das, was sich gewöhnlich hinter Büchern mit der Genrebezeichnung „Thriller“ verbirgt, endet mit einer Katastrophe. Einer Katastrophe, die man auch als Bestrafung der dem Dschungel mit ihrer Hybris zu nahe gekommenen Menschen durch jene geheimnisvollen Naturkräfte lesen kann, mit denen Darwyne mehr gemeinsam hat als mit der menschlichen Gesellschaft, der er in den Wald entflieht, so oft das möglich ist. Für Mathurine freilich steht am Ende fest: „Ein Kind wie Darwyne ist im Gegenteil das Beste, was der Planet erhoffen kann, um sich von dem zu erholen, was die Menschen ihm angetan haben, um die gekappten Verbindungen mit der Tier- und Pflanzenwelt wiederherzustellen, sichtbare und unsichtbare.“

Titelbild

Colin Niel: Darwyne. Thriller.
aus dem Französischen von Anne Thomas.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
302 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518474242

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