Die zwei Fluchten der Marie Kolossa

Mit „Danowski: Sturmkehre“ schließt Till Raether seine inzwischen siebenteilige Serie um den Hamburger Kriminalkommissar Adam Danowski ab

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, Hauptkommissar Adam Danowski ist keiner von den beliebten Polizisten. Denn irgendwie scheinen ihm seine Erfolge immer in den Schoß zu fallen, ohne dass er allzuviel dafür tun muss. So wie bei der Verhaftung des von der Presse „Fleetmörder“ getauften Leander Schüringsen. Während sich Dutzende Einsatzkräfte rund um dessen Hamburger Bleibe versammeln, bereit, heldenhaft zuzuschlagen, wenn der gefährliche Serienmörder von der Arbeit nach Hause kommt, bummelt Danowski noch ein bisschen in der Gegend umher und landet auf einer Bank am Hamburger Fischmarkt direkt neben dem Gesuchten. Und der lässt sich von ihm widerstandslos festnehmen, ja scheint fast froh zu sein, dass ihn jemand verhaftet, den er von seinem jahrelangen Fluchtort Kuba aus bereits im Fernsehen gesehen hat.   

Danowski: Sturmkehre ist der siebente Roman um einen Mann, der, seitdem er zuletzt einer weiblichen Zufallsbekanntschaft bei dem mörderischen Geschäft der Entsorgung ihres übergriffigen Gatten assistiert hat, richtig in der Klemme steckt. Einerseits muss er nun Tag für Tag nach der Pfeife seines ungeliebten Vorgesetzten Markus Kienbaum tanzen, denn der weiß etwas, was Danowski Job, Karriere und Freiheit kosten könnte. Andererseits bringt er durch sein penetrantes Schweigen über das Geschehene in den letzten Monaten auch seine Ehe in Gefahr. Und riskiert dadurch unter anderem, den für ihn lebenswichtigen Kontakt zu seinen beiden Töchtern zu verlieren.

Aber kann Danowski tatsächlich ruhig dabei zusehen, wie sein karrierebeflissener Chef einen seit den 1990er Jahren ungeklärten Vermisstenfall dem eben verhafteten Mehrfachmörder Schüringsen in die Schuhe schieben will? Kienbaums Karriere wäre damit sicher geholfen, er käme seinem Ziel, der nächste Polizeichef der Hansestadt zu werden, mit jedem weiteren gelösten „Cold Case“ um ein beträchtliches Stück näher. Und auch Schüringsen dürfte es letztlich egal sein, ob das Gericht ihn für drei, vier oder fünf Morde lebenslang hinter Gitter schickt. Als 70-Jähriger sieht er dem ziemlich entspannt entgegen. Aber war er wirklich auf jener Autobahnraststätte, wo später im Toilettenmüll die blutbefleckten Oberbekleidungsstücke der verschwundenen Marie Kolossa gefunden wurden?

Doch Adam Danowski fühlt sich nicht wohl in der Rolle des Erfüllungsgehilfen für einen Chef, dem er nicht noch weiter auf der Karriereleiter nach oben verhelfen will. Und weil er das Gefühl hat, dass jene vor gut dreißig Jahren verschwundene Frau nicht zu denen zählt, die Schüringsen eiskalt als „seine Leute“ bezeichnet, sondern entgegen aller Wahrscheinlichkeit vielleicht sogar noch am Leben ist, macht er sich hinter dem Rücken seines Chefs auf die Suche nach ihr.

Eine Suche, die ihn zunächst auf die Spur des aus Dänemark stammenden Speditionsfahrers Tammes Skov führt. Der hat in der Nacht des Verschwindens von Marie Kolossa mit seinem Truck eben jene Autobahnraststätte Brokenlande Ost passiert, wo später die abgelegten Kleidungsstücke der Vermissten auftauchten, und an einer unweit sich über die Fahrbahn erstreckenden Brücke Merkwürdiges erlebt. Merkwürdiges, dass Danowski inkognito – erst per geliehenem Auto und später mit einem gestohlenen Boot – auf die Hallig Stormvending, von der der Titel des Romans, Sturmkehre, abgeleitet ist, vor der dänischen Nordseeinsel Fanø bei Esbjerg verschlägt. In dem einzigen Haus, das dort steht, muss er dann nicht nur ein Jahrhundert-Unwetter überstehen, sondern es erwarten ihn hier auch einige überraschende Erkenntnisse.

Danowski: Sturmkehre ist wie seine zwischen 2014 und 2021 erschienenen sechs Vorgänger sorgfältig komponiert, sprachlich überlegt – mit einem gelegentlichen Hang zur Lakonie – geschrieben und steckt voller interessanter Figuren. Dazu zählen nicht nur Danowskis Konkurrent Markus Kienbaum, der sich an einer Stelle des Romans sogar fragt, warum er den unbequemen Kollegen bei einem früheren gefährlichen Einsatz in den Rettungsschächten des Elbtunnels nicht hat sterben lassen, und seine beiden frustrierten Ex-Ermittlungspartner Meta und Finzi, die es ihm immer noch nicht verzeihen können, dass er sie in das Lügengespinst, mit dem er seine Mittäterschaft bei der Beseitigung des gewalttätigen Ehemanns seiner Kurbekanntschaft Mareike Teschner tarnte, verwickelt hat. Diesmal aber ist es vor allem jene Frau, an deren gewaltsamen Tod Adam Danowski nicht glauben will.

Für sie hat sich Till Raether eine Lebensgeschichte ausgedacht, die einen Roman ganz für sich allein tragen könnte. Aufgewachsen im Osten der Republik, verheiratet, zwei Kinder, fasste Marie Kolossa gemeinsam mit ihrem Mann im Sommer 1988 den Entschluss, die DDR illegal zu verlassen und im Westen Deutschlands noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Endlich einen Aufbruch zu wagen nach Jahren, die weder ihrer psychischen Gesundheit noch ihrer Ehe gut getan hatten.

Dass sie sich vorerst allein über Prag und Ungarn auf den Weg machen sollte, während ihr Mann und die Kinder später über einen Ausreiseantrag nachkommen wollten, war seine Idee. Das Argument, niemand würde Verdacht schöpfen, wenn sie als Mutter allein reiste, während der Rest der kleinen Familie zurückblieb, leuchtete Marie ein. Nicht zugetraut hatte sie ihrem Mann allerdings den Verrat, den er an ihr und den Kindern beging, indem er sie bei der Staatssicherheit anzeigte. Erst nach ihrer Verhaftung und Verurteilung wegen versuchter Republikflucht und Devisenschmuggel reimte sie sich im Stasigefängnis seinen perfiden Plan zusammen. Der auch nach ihrer Entlassung in ein Deutschland, das dabei war, sich wiederzuvereinigen, noch funktionierte und ihre Kinder auf ewig von ihr entfremdete. Dass auch ihre nächste Beziehung mit einer abenteuerlichen Flucht enden würde, konnte sie nach dem Scheitern ihres ersten Versuchs, sich aus einem stagnierenden Leben zu befreien, freilich noch nicht wissen.

Adam Danowski jedenfalls hat am Ende seines letzten Falls sogar wieder Zeit für seine Familie. Das liegt natürlich hauptsächlich daran, dass er seinen Job mit einem Kompromiss, der auch ihn selbst vor dem Gefängnis bewahrt und seinem Widersacher Kienbaum den Weg an Hamburgs Polizeispitze verbaut, freiwillig gekündigt hat. Was schade nicht nur für die Hamburger Polizei, sondern auch für all jene Leserinnen und Leser ist, die sicher über einen achten Danowski-Roman nicht böse gewesen wären.

Titelbild

Till Raether: Danowski. Sturmkehre.
Rowohlt Polaris, Hamburg 2024.
303 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783499012402

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