Millennium 3.0
Mit „Verderben“ setzt Karin Smirnoff die Geschichte von Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander ein weiteres Mal fort
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs dauert über 200 Seiten, also fast die Hälfte des Romans Verderben von Karin Smirnoff, bis sich Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander zum ersten Mal wiederbegegnen. Sie sind beide – allerdings aus unterschiedlichen Gründen – in die fiktive nordschwedische Stadt Gasskas gereist. Der landesweit bekannte Investigativjournalist Blomkvist will dabei sein, wenn seine Tochter Pernilla einen der tonangebenden Männer der prosperierenden Gegend heiratet und benötigt gleichzeitig eine Auszeit, um mit der Tatsache fertig zu werden, dass seine journalistische Heimat, die Zeitschrift „Millennium“, fortan nur noch in Form eines Podcasts erscheinen soll. Salander ist als letzte auffindbare Verwandte der dreizehnjährigen Svala Hirak nach Gasskas gereist. Weil deren Mutter, Märta Hirak, verschwunden und die Großmutter kurz darauf verstorben ist, hat das Jugendamt sie ausfindig gemacht, damit sie sich so lange um Svala kümmert, bis sich Ersatzeltern gefunden haben.
Mit Karin Smirnoff haben die Stieg-Larsson-Erben nach David Lagerkrantz, dessen Trilogie rund um den Journalisten Blomkvist und die Hackerin Salander zwischen 2015 und 2019 erschien (basierend auf den Figuren, die der 2004 verstorbene Larsson kreierte), eine in Schweden gerade äußerst angesagte Autorin für eine weitere Trilogie gewinnen können. Smirnoff, 1964 in Umeå geboren, hat zunächst in unterschiedlichen Berufen gearbeitet, bevor sie 2018 mit dem von der schwedischen Buchhändlervereinigung zum besten Roman des Jahres gewählten Buch Jag for ner till bror (auf Deutsch 2021 unter dem Titel Mein Bruder bei Hanser Berlin erschienen) debütierte. Ihm folgten bis 2021 drei weitere Romane. Kriminalromane im engeren Sinne waren sie alle nicht, obwohl körperliche und seelische Gewalt durchaus eine Rolle in ihnen spielte und es wohl letzten Endes auch die Möglichkeit, sich literarisch mit dem Thema Gewalt auseinandersetzen zu können, war, die Smirnoff dazu brachte, ihre Zustimmung zu einer Fortsetzung der Romanreihe zu geben.
Natürlich weiß man von vornherein, dass da, wo Blomkvist und Salander nach all dem, was ihrer beider Leben bisher durcheinandergebracht hat, wieder aufeinandertreffen, das Verbrechen nicht weit sein kann. Dass es der eigene Schwiegersohn Henry Salo ist, der ihn schon nach kurzer Zeit in eine Spirale der Gewalt hineinziehen wird, ahnt Mikael Blomkvist freilich noch nicht, als er in Stockholm seinen Zug besteigt und dort auf einen Mitreisenden trifft, der ihn schon einmal auf die dunklen Seiten der nordschwedischen Provinz vorbereitet. Denn Salo hat sich um des schnöden Mammons willen mit Kräften eingelassen, die den in wirtschaftlichen Fragen etwas naiven Lokalpolitiker allein dazu benutzen, ihnen zu helfen, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Als der Mann schließlich merkt, mit wem er sich da eingelassen hat, versucht er einen Rückzieher und bringt damit nicht nur sich selbst, sondern auch die ihm frisch angetraute Pernilla und Markus, den Sohn, den sie mit in die Ehe gebracht hat und der gerade dabei ist, seinen Großvater Mikael umzukrempeln, aus einem Nomaden in einen Familienmenschen zu verwandeln, in größte Gefahr.
Smirnoff versteht es geschickt, ihre eigene Geschichte rund um Blomkvist und Salander an die Romane von Larsson und Lagerkrantz zurückzubinden. Und das nicht nur personell – sowohl die den Larsson-Lesern nur zu gut in Erinnerung gebliebene Motorradgang „Svavelsjö“ als auch der in den Norden Schwedens versetzte Polizist Hans Faste tauchen in Verderben wieder auf –, sondern auch von der Brisanz der den Helden begegnenden Fälle her. Trotzdem schießt sie gelegentlich etwas über ihr Ziel hinaus. Denn im Grunde braucht es keinen Bond-Bösewicht á la Ernst Stavro Blofeld, wenn es darum geht, die verantwortungslose Ausbeutung der Natur in Nordschweden zu thematisieren. Was der ebenso dubiose wie beinlose Konzernchef Marcus Branco verkörpert, wäre bei einem wirklichkeitsnäheren Gegenspieler von Smirnoffs Heldenduo vielleicht sogar besser aufgehoben gewesen. Weil diese Überdimensionierung des Verbrecherischen aber bereits bei Stieg Larsson vorgebildet ist – man denke nur an den schmerzunempfindlichen blonden Hünen Ronald Niederman aus Verdammnis, der Lisbeths Halbbruder und Svalas Vater ist –, fühlte sich die Autorin wohl insgeheim dazu aufgefordert, mit ihrem Vorbild in dieser Beziehung mindestens gleichzuziehen.
Für die Figur der Lisbeth Salander gilt das freilich nicht. Aus einer coolen, weder Gott noch die Welt fürchtenden, Gewalt als Mittel im Kampf der Geschlechter durchaus tolerierenden Person, die mit ihrem Drachen-Tattoo bereits die entsprechenden Zeichen setzte, hat Smirnoff in Verderben eine nachdenkliche, sprich: erwachsen gewordene Frau gemacht. Die ist sich ihrer Verantwortung für die neu hinzugewonnene Nichte durchaus bewusst. Zumal sie über das Ende von Svalas Vater mehr weiß als alle anderen und aus diesem Wissen eine klare Aufgabe für sich ableitet. Dass Svala in puncto Außenseitertum hinter Lisbeth nicht zurücksteht – das Mädchen hat von ihrem Vater jenen Gendefekt geerbt, der mit dem Verlust des Schmerz- und Temperaturempfindens einhergeht, was nicht nur positive Folgen haben kann –, ist ein weiterer Punkt, der die beiden miteinander verbindet.
Alles in allem macht Verderben gespannt darauf, wie Karin Smirnoff ihre Geschichte um Lisbeth und Svala, Mikael, Pernilla und Lukas weiterentwickeln wird. Über genug noch nicht Auserzähltes verfügt sie jedenfalls. Darunter verspricht vor allem die Story von einem prosperierenden Nordschweden, das „aller Welt Gold und grünen Strom verspricht“ noch einige Spannung. Und natürlich auch Glücksritter jeglicher couleur, denen Umwelt und Klimakrise – „Von Greta Thunberg und Konsorten haben die Leute die Nase doch voll“, legt Smirnoff einer Vertreterin der regionalen Presse in den Mund – herzlich gleichgültig sind, wenn sich nur die eigene Kasse wie von Zauberhand füllen lässt. Über genug Arbeit in der Zukunft können sich also sowohl Mikael Blomkvist, der sich gegen Ende des Romans mit dem Gedanken anzufreunden scheint, fortan für ein Gasskaser Blatt das zu tun, was er 31 Jahre lang für „Millennium“ getan hat, nämlich Skandale aufzudecken, als auch die geerdete Lisbeth Salander freuen.
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