Der Fall der toten Tänzerinnen

Miriam Veyas Debütroman „Tod im Cabaret Voltaire“ entführt ins Jahr 1919 und an einen magischen Ort in Zürich

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Obergeschoss der Züricher Spiegelgasse 1 eröffnete Anfang Februar 1916 ein Kleintheater. Das sich Cabaret Voltaire nennende, in der Anfangszeit fast allabendlich eine wilde Mixtur aus Musik, Tanz, dramatischen Szenen, Lautgedichten und Manifesten bietende Etablissement sowie die auf seiner kleinen Bühne auftretenden Künstler waren bald so berühmt wie berüchtigt. Erlaubt – obwohl von Bevölkerung und Polizei misstrauisch beargwöhnt – war alles. Hauptsache es widersetzte sich, wie Hugo Ball – neben Emmy Hennings Gründer der Spielstätte – es formulierte, der „deutschen Mentalität“. Verpönt waren sämtliche konventionelle Kunstformen und die durch den Ersten Weltkrieg ohnehin diskreditierten bürgerlichen Werte. Und damit das unartige, sich an keinerlei Regeln haltende Kind bei einem Namen gerufen werden konnte, hatte es Hugo Ball, der Erfinder des Lautgedichtes, kurz und schlicht DADA genannt.     

Auch Josephine Wyss, der Heldin von Miriam Veyas Debütroman Tod im Cabaret Voltaire, geht es, als sie im Oktober 1919 eine Veranstaltung der im Obergeschoss eines Gasthofes untergebrachten Kleinkunstbühne zusammen mit ihrer Freundin Klara besucht, nicht anders als den meisten Menschen, die hier erstmalig mit der neuen Kunstform DADA in Berührung kommen. Man ist erstaunt, wird dann aber schnell hineingezogen in den Rausch, den das alle Grenzen sprengende künstlerische Sich-Ausleben – auch über den Rand der Bühne hinaus –  erzeugt.

Allein die 29-jährige Josephine, die gerade ihren Mann durch einen Autounfall verloren hat, ist nicht wegen der provokanten Aufführungen in die Spiegelgasse gekommen. Sie will vor allem das Milieu kennenlernen, in dem sich eine junge Frau bewegte, die seit ein paar Tagen vermisst wird. Deren Freundin, Tänzerin im Cabaret Voltaire wie die Verschwundene, hat sich an die „Auskunftsstelle für vermisste Personen, Flüchtlinge und Kriegsgefangene“, die Alfred Wyss bis zu seinem Tod erfolgreich in Zürich betrieb, gewandt. Dabei ist sie an dessen Witwe geraten, die gerade darüber nachdenkt, wie es mit ihr nach der persönlichen Tragödie, die der Tod ihres Mannes für sie bedeutet, weitergehen soll. Und weil sie Alfred Wyss bei seiner Arbeit zur Seite stand, indem sie sämtlichen Papierkram der Auskunftsstelle erledigte, übernimmt sie den auch ein bisschen Geld in ihre sich rasant leerende Haushaltskasse spülenden Auftrag kurzerhand selbst.

Historische Kriminalromane haben gerade Konjunktur. Und die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen scheint etlichen Autorinnen und Autoren offensichtlich besonders geeignet als geschichtlicher Hintergrund für spannende Geschichten. Ob in Berlin (Volker Kutschers bisher neunteiliger Gereon-Rath-Zyklus) oder Wien (die inzwischen auf fünf Bände angewachsene Reihe der Österreicherin Alex Beer um ihren Kriminalinspektor August Emmerich), um nur die wichtigsten historischen „Tatorte“ zu nennen – überall nutzen finstere Gestalten die Wirren einer bis zum Grund erschütterten Welt, die sich augenblicklich auf den Weg in die nächste Katastrophe gemacht hat, um ihre verbrecherischen Süppchen zu kochen. Nun kommt mit Tod im Cabaret Voltaire also auch noch die Stadt an der Limmat dazu. Und Miriam Veya, in Zürich aufgewachsen und heute noch dort lebend und arbeitend, weiß den Schauplatz ihres Debütromans kenntnisreich und mit vielen lokalen Details versehen in Szene zu setzen. Dass ein paar mehr Charakteristika der Zeit – DADA war im Zürich am Ende des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ja beileibe nicht alles – den historischen Rahmen ihrer Mordgeschichte noch deutlicher hätten hervortreten lassen, soll an dieser Stelle freilich nicht verschwiegen werden.   

Josephine Wyss jedenfalls muss bald feststellen, dass sie sich mit der Übernahme des Falles der verschwundenen Tänzerin auf ein höchst gefährliches Parkett gewagt hat. Denn kaum sorgen ihre Nachforschungen rund um das Cabaret Voltaire für erhebliche Unruhe unter Künstlern und Polizei, wird ihre junge Auftraggeberin Opfer eines dubiosen Bühnenunfalls. Ein herabstürzendes schweres Kulissenteil erschlägt die gerade Probende. Bis zur Entdeckung der Leiche der verschwundenen Odile Senn, die man in einem Waldstück bei Zürich vergraben hat, vergeht von da an nicht mehr allzu viel Zeit.

Beide Tode, von der Züricher Kantonspolizei schnell als Unfälle zu den Akten gelegt, lassen Josephine angesichts der vielen Ungereimtheiten, die mit ihnen zusammenhängen, nicht nachlassen in ihrem Bemühen, die Wahrheit zu ermitteln. Doch spätestens als Unbekannte ihre Wohnung in Brand setzen und das Büro der Vermisstenstelle verwüsten, um deutlich zu machen, dass man sie und ihre Nachforschungen im Blick hat, wird die Situation für Veyas Heldin und alle, die ihr zur Seite stehen, richtig brenzlig.

Tod im Cabaret Voltaire ist ein gut lesbarer Roman mit einer sympathischen Heldin, der man gern in weitere Ermittlungen folgen würde. Unbewältigte Konflikte hat Miriam Veya jedenfalls ausreichend in ihre Geschichte eingeschrieben. Da ist zum einen das großbürgerliche Elternhaus Josephines, das die Tochter unterstützt, es aber natürlich am liebsten sähe, dass sie nach ihrer mit dem Tod des Ehemannes tragisch endenden Flucht auf nicht standesgemäßes Territorium reumütig den Rückweg in die heimische Villa antreten würde. Da ist zum anderen die kurzen Liebesabenteuern nicht abgeneigte Freundin Klara Landolt, deren letzte Affäre sie in große Bedrängnis und zu einer Entscheidung bringt, die sie fast das Leben kostet, Josephine aber andererseits der Lösung des Rätsels um den Tod der beiden Tänzerinnen näherbringt. Und da ist nicht zuletzt der hitzköpfige Detektiv-Wachtmeister Wilhelm Bader, immer im Clinch mit den Beamten der mit der Stadtpolizei konkurrierenden Züricher Kantonspolizei, der deutlicher auf der Seite von Veyas Heldin steht, als es zunächst den Anschein hat.

Dafür, dass es weitergeht mit den Züricher Abenteuern der Josephine Wyss, spricht aber auch ein kleines Geschenk, mit dem Klara ihre Dankbarkeit dafür bezeugt, dem Tod mit Josephines Hilfe im letzten Moment von der Schippe gesprungen zu sein. Es ist ein golden glänzendes Messingschild mit den eingravierten Worten „Josephine Wyss/Privatdetektivin“ und bringt die so an ihre neue Berufung Herangeführte zu der Aussage: „ […] vielleicht braucht ja bald wieder einmal jemand meine Dienste. Wobei, es muss dann nicht gleich wieder ein Mord sein. Eine vermisste Person würde auch reichen. Oder eine Beschattung. Oder die Suche nach einer vermissten Tasche.“ Man darf gespannt sein, was es wohl werden wird. Die verschwundene Tasche, von der nur Josephine weiß und in die ihr Mann an seinem Todestag sämtliche von der Bank abgeholten Ersparnisse der kleinen Familie gepackt hat, würde freilich weiterhelfen auf dem Weg in die Unabhängigkeit, den Josephine Wyss in Miriam Veyas Romandebüt erfolgreich eingeschlagen hat.     

Titelbild

Miriam Veya: Tod im Cabaret Voltaire. Josephine Wyss ermittelt.
Zytglogge Verlag, Oberhofen 2023.
337 Seiten , 27,00 EUR.
ISBN-13: 9783729651227

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