Beginnt die Jagd auf Gutmenschen?
Über die Verächtlichmachung eines guten Begriffs
Von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim
Rätsel des Lebens. Wie, um Himmels willen, konnte es nur passieren, dass der Begriff „Gutmensch“ zu einer abwertend gemeinten Bezeichnung wurde? Ein guter Mensch sein zu wollen, ein Mensch, der Verantwortung für sich und seine Umwelt zu übernehmen versucht, sollte doch eigentlich nichts Schlechtes sein. Dennoch hat sich dieser Kampfbegriff in der medialen und politischen Rhetorik derart eingenistet, dass heute zuweilen sogar vom „Terror der Gutmenschen“ gesprochen wird.
Seit etwa zehn Jahren wird (angeblich) übertriebener Altruismus, Politische Korrektheit, Betroffenheitssprache, Gesinnungskitsch, Alarmismus, Fremdenfreundlichkeit und ähnliches als Vorwurf jenen Menschen gegenüber formuliert, die immer noch daran glauben, dass bessere und gerechtere Gesellschaftsverhältnisse als die gegenwärtigen machbar sind. Ist zynischer Realitätssinn tatsächlich einem angeblich unrealistisch hohen moralischen Anspruch überlegen?
Im Jahr 2015 wurde „Gutmensch“ zum Unwort des Jahres gewählt. Wie es in der damaligen Begründung der Darmstädter Jury hieß, sei das Wort zwar schon seit langem in Gebrauch, doch im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsthema besonders prominent geworden: „Als ‚Gutmenschen‘ wurden 2015 insbesondere auch diejenigen beschimpft, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen. Mit dem Vorwurf ‚Gutmensch‘, ‚Gutbürger‘ oder ‚Gutmenschentum‘ werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert.“
Mit der Wahl des Unwortes des Jahres vor acht Jahren wollten die Wissenschaftler das Sprachbewusstsein und die Sprachsensibilität in der Bevölkerung fördern. Das Unwort des Jahres solle „den Blick auf sachlich unangemessene oder inhumane Formulierungen im öffentlichen Sprachgebrauch“ lenken. Mehr als 1600 Einsendungen mit über 600 Vorschlägen waren eingegangen. Das Wort „Gutmensch“ wurde am dritthäufigsten eingesendet.
Hat es nachhaltig genutzt? Zweifel sind angebracht. Dazu zwei Beispiele.
Die fiese Verbindung von „Gutmenschen“ und Faschisten
Am 15. September 2017 führte Frau Dr. Alice Weidel auf einer Versammlung ihrer politischen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) aus: „Die Faschisten von gestern – das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen – sind die Antifaschisten und Gutmenschen von heute.“ Wer es nicht für möglich hält, dass die Menschen im Saal vor Zustimmung laut jubeln und klatschen, sehe sich die Aufzeichnung der Rede auf Youtube an. Hat es Frau Dr. Weidel geschadet, so etwas zu sagen? Keineswegs. Unter dem Motto „Mut zur Wahrheit“ kandidierte sie damals als Spitzenkandidatin der AfD Baden-Württemberg für den Deutschen Bundestag. Über die Landesliste ihrer Partei erlangte sie ein Mandat. Derzeit gehört sie zum Spitzen-Duo der AfD-Fraktion und scheint mit dem Amt als Bundeskanzlerin zu flirten. „Natürlich habe ich Lust“, sagte die Co-Vorsitzende der AfD dem Sender Welt TV. Das sieht nicht nach einer guten Zukunft für „Gutmenschen“ in Deutschland aus.
Wer die Ausgabe von titel, thesen, temperamente vom 20. August 2023 in der ARD gesehen hat, durfte die Einschätzungen des ehemaligen FDP-Innenministers Gerhart Baum und der Historikerin Hedwig Richter kennenlernen. Unter der Überschrift „Ist unsere Demokratie in Gefahr?“ erinnerte der mittlerweile 90jährige Baum daran, dass bei den Wahlen zum Reichstag 1930 viele Menschen die NSDAP wählten, um gegen die Verhältnisse zu „protestieren“. Sie ahnten nicht, dass sie mit ihren Stimmzetteln den Weg in die NS-Diktatur, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust bahnten. Ab 1933 kam das Bedauern zu spät, die Nazis ließen sich nicht mehr von den parlamentarischen, juristischen und bürokratischen Institutionen „einhegen“.
Hedwig Richter konstatiert, dass es nicht mehr der ausgestreckte rechte Arm zum „Hitlergruß“ sei, den man heute auf den Straßen sehe, sondern der nach oben gestreckte Mittelfinger der rechten Hand. Eine wachsende Zahl von Menschen wählt in demokratischen Wahlen Menschen, die die Demokratie, so wie wir sie kennen und im Grundgesetz festschreiben wollen, verachten. Und sie abschaffen wollen. Wie also sollen wir umgehen mit dem „Aufstieg“ der AfD?
Übertreibt Gerhart Baum, wenn er ruft „Leute, wacht auf!“ Und dem derzeitigen Bundeskanzler Olaf Scholz vorwirft, die AfD zu verharmlosen, wenn er sie allein als „Schlechte-Laune-Partei“ abtut? Ist es unnötiger Alarmismus, wenn er – mit Blick auf den Magdeburger Parteitag der AfD – sagt: „Die AfD ist die größte Gefahr für unsere Demokratie seit Gründung der Bundesrepublik vor 74 Jahren“?
Das Sich-Abarbeiten an den „Gutmenschen“
Doch nicht nur von Rechten wird „Gutmensch“ als abwertende Bezeichnung genutzt. Die FAZ-Redakteurin Ursula Scheer verwendet sie in ihrem Kommentar zu einer Skandalgeschichte aus den USA ebenfalls als negatives Urteil. Es geht um die Entlarvung der wahren Sachverhalte, die in dem Erfolgsfilm The Blind Side über den NFL-Profi Michael „Big Mike“ Ober verkitscht dargestellt wurden und für den die Hauptdarstellerin Sandra Bullock einen Oscar im Jahr 2010 verliehen bekam.
In diesem Film spielt Frau Bullock eine weiße Mittelschichtfrau – Frau Scheer tituliert sie als „sehr blonde Vorstadtmutter“ –, die zusammen mit ihrem Mann einen verwahrlosten schwarzen Jungen adoptiert, der dann zum erfolgreichen Spitzensportler wurde. Frau Scheer schreibt: „Der Film geriet zum Paradebeispiel für paternalistisches, hier matriarchales Gutmenschentum und verfestigt den Topos der vermeintlichen Unmündigkeit von Nachfahren einst Versklavter.“ Der Leser bekommt den Eindruck, dass es die Kommentatorin erfreute, dass die Film-Erzählung von der „Charity-Lady mit starken Mutterinstinkten“ als Lüge entlarvt worden ist. Das Ehepaar Leigh Anne und Sean Tuohy haben den ehemals kleinen schutzbedürftigen schwarzen Jungen betrogen und die erzielten 310 Millionen Dollar wesentlich für sich selbst behalten. Und wieder wird suggeriert: „Gutmenschen“ tun nur so gut, sie sind aber nicht wirklich gut.
Zur Verteidigung der Menschen, die gut sein wollen
Unsere bewährten Auskunftsgeber für die „Rätsel des Lebens“ versagen in diesem Fall. Ungeachtet der 256 Seiten zum Lemma „Gut“ im „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm findet sich kein Eintrag zu „Gutmensch“. Aber über „Guttäter“ lernen wir, dass das Menschen meint, die „rechtschaffene, fromme Werke“ tun. Was waren das noch für unschuldige Zeiten!
Der aktuelle Eintrag im der deutschen „Wikipedia“ versteht unter „Gutmensch“ eine „Bezeichnung, die häufig als ironisch oder verachtend gemeinte Verunglimpfung von Einzelpersonen, Gruppen oder Milieus (‚Gutmenschentum‘) genutzt wird. Ihnen wird aus Sicht der Wortverwender ein übertriebener, äußere Anerkennung heischender Wunsch des ‚Gut-sein‘-Wollens in Verbindung mit einem moralisierenden und missionierenden Verhalten und einer dogmatischen, absoluten, andere Ansichten nicht zulassenden Vorstellung des Guten unterstellt. In der politischen Rhetorik wird ‚Gutmensch‘ als Kampfbegriff verwendet.“
Nach dieser Quelle entstand „Gutmensch“ als eine „Witzelei“ der 1989er-Generation, die damit die 1968er verspotten wollten. In seinem damaligen Kommentar zur Wahl von „Gutmensch“ zum Unwort des Jahres 2015 schrieb Jürgen Kaube, der heutige Mitherausgeber der FAZ, dass damit der deutsche „Provinzialismus“ kritisiert werden sollte und zugleich das „religiöse Eiapopeia von Kirchentagen“, die „Pädagogisierung des Geistes an den Universitäten“ und die „Phrasen von Kapitalismuskritikern“ angeprangert werden sollte.
Heißt das nun für uns, dass wir davon absehen sollen, ein guter Mensch sein zu wollen? Nein, das wird und darf es nicht dürfen! Wir wollen auch weiterhin versuchen, gute Menschen zu werden und zu sein. Und wir wollen uns weiterhin darum bemühen, die Menschen, für die wir als Erziehungsberechtigte Verantwortung tragen, ebenfalls zu guten Menschen zu machen.
So deprimierend die Recherche zu dieser Kolumne auch wurde, so wurde sie doch ein wenig erfreulicher, als wir uns die Kampagne 2020 der Caritas Deutschland ansahen: „Sei gut, Mensch!“ Der Deutsche Caritasverband der römisch-katholischen Kirche wollte klarstellen: Wer sich für die Gesellschaft einsetzt und anderen Menschen Gutes tut, darf nicht als Gutmensch verunglimpft werden. In sechs hochprofessionell gemachten Videos wurden Menschen porträtiert, die Gutes für andere Menschen tun. Ein afghanischer Jugendlicher hilft seinen Mitschülern, ein Ehrenamtlicher hilft Behinderten bei Trommelkursen, eine Sozialarbeiterin wirkt bei der Suchtberatung mit, eine Altenpflegerin arbeitet im Pflegeheim, ein Nothelfer kümmert sich um Notleidende nach einem Tsunami.
Wenn ein Gutmensch ein Mensch ist, der ohne eigenen Vorteil anderen hilft und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt, dann stellt sich doch immer wieder die Frage, wie konnte es sein, dass die Etikettierung als „Gutmensch“ zur Beleidigung werden konnte.
Man muss nicht katholisch sein, nicht einmal christlich, um fassungslos zu werden, wenn politische Parteien, die sich mit dem C – für christlich – schmücken, es zulassen, dass ihre prominenten Funktionäre von „Sozialtourismus“ sprechen, als Bezeichnung von Menschen aus der Ukraine, die bei uns Zuflucht vor den Kriegsgräueln suchen (Friedrich Merz). Oder von „Anti-Abschiebe-Industrie“ schwadronieren (Alexander Dobrindt: „Unwort des Jahres 2018“). Oder zuletzt fordern, dass die „Asyl-Migration“ endlich gestoppt werden müsse (Jens Spahn). Keine Gutmenschen, soviel steht fest, wenn man auf diese Hetze-Begriffe schaut. Auch wenn sie als Katholiken an manchen Sonntagen in der Kirche niederknien.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.