„Der Sturm ist da“ – Jakob van Hoddis: Weltende
Jakob van Hoddis
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Hinweise
Das Gedicht Weltende steht am Anfang der von Kurt Pinthus herausgegebenen Anthologie Menschheitsdämmerung – im ersten Teil mit der Überschrift „Sturz und Schrei“. Es weist dieser Gedichtsammlung, so Florian Illies im Nachwort zur kürzlich erschienenen Neuausgabe, „die taumelnd apokalyptische Richtung“. Geschrieben hatte es der 22 Jahre alte Student Hans Davidsohn, der sich nach dem Tod seines Vaters Jakob van Hoddis nannte. Am 11. Januar 1911 erschien das Gedicht in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Der Demokrat und wurde bald zum berühmtesten der expressionistischen Literatur.
Johannes R. Becher, der selbst mit vierzehn Gedichten in der Menschheitsdämmerung präsent ist, veröffentlichte 1957 seine ethusiastischen Erinnerungen an den kollektiven Glücksrausch, den das Gedicht unter den jungen Expressionisten hervorgerufen hatte. Die Zeitschrift Schreibheft hat sie in ihrem von Konstantin Ames in der Februar-Ausgabe 2019 zusammengestellten Themenbereich „100 Jahre Menschheitsdämmerung“ erneut abgedruckt. Als beängstigendes Symptom einer Klimakatastrophe, als das man heute, zumal unter dem Titel Weltende, den Sturm zunächst vielleicht einzuschätzen geneigt ist, fungiert er hier keineswegs und wurde so auch nicht verstanden. Im Gegenteil: Becher hob gerade die von Angst befreiende Wirkung der Verse hervor: „Alles, wovor wir sonst Angst oder gar Schrecken empfanden, hatte jede Wirkung auf uns verloren.“ Und mit der Befreiung genossen die jungen Autoren eine ungeheure Vergrößerung ihres Selbstwertgefühls. „Wir fühlten uns wie neue Menschen […]. Wir standen anders da, wir atmeten anders, wir gingen anders, wir hatten, so schien es uns, plötzlich einen doppelt so breiten Brustumfang, wir waren auch körperlich gewachsen, spürten wir, um einiges über uns selbst hinaus, wir waren Riesen geworden.“
Die begeisterten Expressionisten konnten sich so stark und vital wie die im Sturm entfesselte Macht der Natur fühlen und in der Identifikation mit ihr geradezu schadenfroh die Beseitigung zivilisierter Schutzvorrichtungen von Hüten, Dächern und Dämmen belachen. Evoziert der Titel Weltende zunächst apokalyptische Ängste, so setzen die beiden Strophen solche Ängste mit grotesker Komik außer Kraft. Grotesk sind hier unter anderem die Vermischungen von Rundem und Eckigem („spitzen Kopf“), von Wichtigem und Unwichtigem (Eisenbahnunglück und Schnupfen), Schwerem und Leichtem („die Meere hupfen“), Mensch und Ding („Dachdecker gehn entzwei“).
Der Expressionismus verstand sich als eine Art Jugendbewegung und stellte sich in die Tradition des „Sturm und Drang“. Welche Anziehungskraft der „Sturm“ für den Expressionismus hatte, geht schon aus dem Titel jener Zeitschrift hervor, die neben der Aktion die für den Expressionismus bedeutendste war: Der Sturm. Ein Beitrag in der Juli-Ausgabe 2019 von literaturkritik.de zu Alfred Lichtensteins im Frühjahr 1914 entstandenem Gedicht Der Sturm (mit dem Vers: „Halloh, der Sturm, der große Sturm ist da.“) hat unlängst ein weiteres Beispiel für die Identifikation eines Expressionisten mit dieser Naturgewalt analysiert: „Der Sturm fegt Bestehendes fort, er zerstört und bricht auf. Er ist das Dynamische, das den verhassten Stillstand verdrängt und auslöscht.“ Der Beitrag weist dabei auch auf einen problematischen Aspekt dieser Sturm-Metaphorik hin: „dass die sich hierin zeigende Lust am (gewaltsamen) Auf- und Ausbruch nicht selten in die Kriegsbegeisterung […] von 1914 mündete.“
Hingewiesen sei hier abschließend noch auf den Themenschwerpunkt zum Beginn des expressionistischen Jahrzehnts in der September-Ausgabe 2010 von literaturkritik.de, in dem, auch in Analysen zu dem Gedicht Weltende, weitere Aspekte des Themas behandelt wurden.
Thomas Anz