Wie aus Kollaboration Kunst wird

Der französische Schriftsteller Marcel Jouhandeau folgte einer Einladung des NS-Regimes und schrieb in „Die geheime Reise“ über seine Wahrnehmungen während der Propagandatour und wie er sich dabei in einen Nazi verliebt.

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir schreiben das Jahr 1941. Frankreich ist in eine besetzte und eine unbesetzte Zone geteilt. In der unbesetzten südlichen Hälfte sitzt die sogenannte Vichy-Regierung unter Führung des Generals Pétain und mit Duldung des NS-Regimes. Im restlichen Frankreich herrschen die Nazis als Besatzer und bestimmen nun den Alltag der Menschen. Kollaboration stand auf der Tagesordnung.

Teilweise entstand sie aus Überzeugung. So beispielsweise, als eine Gruppe französischer Schriftsteller einer Einladung nach Deutschland folgte zu einer Besichtigungstour inklusive Begegnung mit Nazigrößen. Das Ganze war als eine Werbekampagne für die politische Neuordnung Europas angelegt, wie sie sich die Nazis in ihrem Größenwahn ausmalten, eine Machtdemonstration mit kulturellem Beiprogramm und intimer Plauderei bei Goebbels.

Mit auf die Reise ging auch Marcel Jouhandeau, ein damals angesehener Schriftsteller, der sich nicht scheute, das literarische Resultat dieser Reise unter dem Titel Le Voyage secret 1949 zu veröffentlichen. So geheim wie er die Reise nennt, so verschlüsselt ist darin sein Bekenntnis der Kollaboration. Die Namen von Personen und Orten sind nur durch Buchstaben wiedergegeben, aber erzählerisch nicht so verschlüsselt, dass nicht gewisse Verortungen bei genauerer Lektüre vage erkennbar wären. Aber es steckt auch noch ein anderes Bekenntnis darin, nämlich das erfolglose Begehren für einen Mann – und das ist die eigentliche Geschichte, die Geschichte einer unmöglichen, auch gefährlichen Liebe. Es ist ein Spiel mit dem Feuer und im Grunde aus purer Eitelkeit – also eine Liebe aus Selbstliebe. So zumindest empfand ich es nach der Lektüre der Geheimen Reise.

Warum jetzt diese Übersetzung eines „poetischen Romans“ 73 Jahre nach seiner französischen Erstveröffentlichung? Weil es ein vergessener Roman ist? Denn erschienen ist er in einem Verlag, der sich sinnigerweise „Das vergessene Buch“ nennt. Mit Blick auf unseren ziemlich begrenzten literarischen Kanon, dürften wohl die allermeisten bisher geschriebenen Bücher vergessene sein. Da hätte sich der Verlag viel vorgenommen. Vielleicht auch, um eine Jouhandeau-Renaissance einzuläuten? Das Vergessen-Sein für sich dürfte wohl kaum den Ausschlag gegeben haben. Oder war es nur philologischer Ehrgeiz?

Ganz klar ist die Motivlage nicht. Tatsache jedoch ist, dass die Geheime Reise das Bild des Schriftstellers korrigiert – und nicht zu seinen Gunsten. Und das liegt auch an den Beigaben der Edition: das Reisetagebuch von 1941, das dem Nebulösen des Romans Fakten und schnöde Wirklichkeit entgegensetzt, und noch einiges mehr an Biografischem. Präsentiert wird uns ein höchst prätentiöser, offen antisemitischer Schriftsteller, der sich dann überraschenderweise angesichts von Judensternen empört darüber gibt und dennoch hofft, „alles, nur kein jüdischer Sieg, alles, nur keine jüdische Herrschaft“ (als ob es darum gegangen wäre), der in seiner intellektuellen Blindheit und Verblendung mindestens peinlich wirkt und auf jeden Fall ein Beispiel für die Unverträglichkeit von Ästhetik und Politik liefert beziehungsweise für deren fatale Vermischung. Zu erkennen ist, dass zur Verführung das Verführt-sein-Wollen gehört und dass Verführung keine Unschuld kennt – im Politischen wie überhaupt im Menschlichen.

Wird Marcel Jouhandeau, außer in romanistischen Seminaren, heute überhaupt noch gelesen? Ich selbst fand auf Umwegen und zufällig vor vielen Jahren zu seinem Werk, dessen sprachliche Eleganz mich, wie ich gerne zugebe, in seinen Bann zog. Der Umweg ging über Julien Green und André Gide und der Zufall bestand in einem antiquarischen Exemplar der fünfbändigen Werkausgabe, die in Einzelbänden zwischen 1964 und 1977 bei Rowohlt erschienen ist und von Friedhelm Kemp, einem der ganz Großen seines Metiers, herausgegeben und übersetzt wurde (einige der Erzählungen ausgenommen). Bei allen dreien spielte die Homosexualität eine gewisse Rolle. Das allein wäre noch kein Argument für die Lektüre gewesen, aber bei Green und Jouhandeau kam der Umstand hinzu, dass sie als katholische Schriftsteller gelten, was immer das heißen mag. Auch hatte mich interessiert, wie es katholische Schriftsteller schaffen, auf den Index des Vatikans zu gelangen – enttäuschend allerdings, wie leicht das geht, wie wenig es dazu bedarf.

Apropos katholische Schriftsteller. Wie ernst ist das in ihrem Fall zu nehmen? Denn wozu brauchen Solipsisten einen Gott und einen katholischen zumal? Sind sie das nicht selbst schon? Ist Gott für sie nicht eher Vorwand und Ausrede ihrer abgründigen Selbstzweifel bei gleichzeitiger Selbstherrlichkeit? Kürzlich erschien ein längeres Interview in der Neuen Zürcher Zeitung mit dem Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann, der dort mit der Aussage „der Katholizismus schreibt nicht“ zitiert wird, was er so erklärt:

Wort und Schrift gehören den Juden und den Protestanten. Der Katholizismus hat nur ein einziges Jahrtausendwerk hervorgebracht, Dantes ‚Göttliche Komödie‘, aber er erbaute grandiose Kathedralen, malte phantastische Madonnen und schuf himmlische Musik. Die katholischen Predigten sind hingegen äusserst geistesarm. Das erinnert an Nietzsches Wort: Es ist eigentlich schade, dass Gott, als er Schriftsteller wurde, nicht besser geschrieben hatte.

Nun, Green und Jouhandeau haben besser geschrieben, um nicht zu sagen vollendet. So urteilte auch André Gide, als er sich über Jouhandeaus Roman Élise äußerte: „Das ist Kunst der Vollendung.“ Dieses Niveau erreichte Jouhandeau allerdings nicht mit seiner Geheimen Reise. Dort erleben wir einen Menschen, dem das Selbstmitleid stets schnell zur Hand ist: „Was macht es schon, dass ich leide und durch wen ich leide! Dieses Drama betrifft nur die Chimären, die sich tief in meinen Herzen eingenistet haben.“ Verliebt hat sich Jouhandeau in den Nazi-Offizier, der die Rolle des Reisebegleiters übernommen hatte. Die Sache war in der Tat diffizil und nicht ungefährlich für ihn und eine Aussage wie die folgende beschreibt seine Lage ziemlich treffend: „Was für ein Abgrund zu allen Seiten von mir!“ Doch eine Affäre wurde es nicht und die Angelegenheit endete im Nichts.

Ich glaubte, meine Pflicht zu lieben, und ich liebte X. Ich glaubte, aufrecht meines Weges zu gehen, und jeder sah, dass ich mich X zuneigte […]. Man bildete sich ein, sich wie ein Engel oder ein Gott zu verhalten, und vor aller Augen keuchte in mir das Tier.

Und dann aber auch wieder Zweifel: „Weiß ich denn überhaupt, was ich von mir mit ihm will, was ich von ihm mit mir will?“ Könnte es vielleicht die Schmach des Besiegten sein, die er durch die Identifikation mit dem Sieger vergessen machen möchte? Sich in der Macht der anderen und unter den Mächtigen sonnen? In Jouhandeaus Schwärmerei ist die Erotisierung der Macht allgegenwärtig. In einem seiner Romane fragt jemand, welches das wahre Ich sei, worauf die Antwort folgt: „Jenes, das alle Morgen als erstes erwacht, um die anderen auszuschalten.“ Mit anderen Worten, das wahre Ich gibt es nur zum Tageskurs oder anders gesagt, alle Ichs sind wahr. Diese Einsicht scheint der Schriftsteller vor allem für sich zu reklamieren. Denn als er sich vor X outet, wie wir heute sagen würden, erleben wir ein immer wieder verändertes Erzähler-Ich. Am Ende ist alles nur Kopfkino – „alles ist schief gegangen“. „Heute Abend hat er mich öffentlich gedemütigt.“ „Allein unter Wölfen, als einziger meiner Art, gehe ich erblindet und betäubt umher […].“

Das Tagebuch gibt die Angelegenheit nüchterner wieder und wo es schwärmerisch wird, wird es eher unangenehm. Denn dann geht es beispielsweise um Beschreibungen von Baldur von Schirach oder Joseph Goebbels. Über den Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien von Schirach notiert Jouhandeau:

Dreiunddreißig Jahre, kalte und strahlende Härte des dunkelblauen Blicks, Sanftheit der Umrisse des Gesichts, das eine als gebieterisch geltende Maske verbirgt: niemals sonst wie an diesem Abend der Eindruck, einem Führer zu begegnen; von der Silhouette näher bei Napoleon als bei Caesar.

Und über Goebbels:

Von kleiner Statur, er hinkt, aber der Kopf führt den Körper, reißt ihn mit. Keine Selbstherrlichkeit. Den Ehrgeizigen spürt man keinen Augenblick. Kaum den Mystiker, aber präsent verbunden eines mit dem anderen als wären sie eine Einheit; eine Intelligenz und ein Wille, wie sie selten sind, ein Scharfsinn und eine Beharrlichkeit, die keinen Schatten kennen […].

Nicht dass die Geheime Reise wirklich Lust auf den Schriftsteller Jouhandeau machen würde, aber seinen Herrn Godeau will ich bei nächster Gelegenheit doch mal wieder aus dem Regal nehmen. Zu berichten bleibt von einer philologisch tadellos aufbereiteten Ausgabe dieses gerade einmal 65 Druckseiten umfassenden Romans, an den wohl wirklich niemand mehr gedacht hat, außer Oliver Lubrich als Herausgeber und Übersetzer. Lobenswert auch die Hinzufügung des Reisetagebuchs von 1941 mit seinen „Erinnerungen an Deutschland“, ergänzt durch zahlreiche Fotos und Faksimiles und eine ausführliche Literaturliste.

Titelbild

Marcel Jouhandeau: Die geheime Reise.
Aus dem Französischen von Oliver Lubrich.
Das vergessene Buch – DVB Verlag, Wien 2022.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783903244221

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