Eine Komödie der Sprache
Andreas Kablitz wühlt in „Die Justiz auf der Bühne“ tief in den Sprachschichten von Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ und gräbt dazu auch noch Berge von Sekundärliteratur um
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs liegt in der Natur der Sprache, dass wir mit ihr nie an ein Ende gelangen. Wenn wir so wollen, ist die Philologie daraus geboren, um aus der Lust zur Deutung eine Wissenschaft zu machen. Kein Text ohne Auslegung und Genese. Dabei schwingen stets Fragen mit: Meinen wir, was wir sagen beziehungsweise schreiben? Und wenn ja, wie? Womit wir jedes Mal ein nicht abschließbares Feld öffnen.
Der Reiz besteht in der Horizonterweiterung, die wir durch immer wieder neue, variierende Ein- und Ansichten gewinnen. Die Gefahr des Zerredens, des zu-Tode-interpretierens von Texten gehört dazu, zugleich aber die Chance zu mehr Deutlichkeit, schärferen und tieferen Konturen des Verstehens. Aber was ist von all dem nötig zu wissen, um einen literarischen Text entstehen zu lassen? Wie verteilen sich bewusst und unbewusst, spontan und geplant, Wissen und Intuition beim Schreiben? Mögen die Diskursschleifen auch ins Unendliche tendieren und sich dabei verflüchtigen, übrig bleibt am Ende immer wieder der Text, der zum erneuten Lesen oder Hören einlädt.
Der Romanist und Komparatist Andreas Kablitz begibt sich mit seiner Analyse von Kleists Lustspiel Der zerbrochne Krug auf ein Feld, auf dem vor ihm – und er selbst wird dort sicherlich nicht der letzte bleiben – schon ausgiebig philologische Feldarbeit geleistet wurde. Er verweist deshalb auf das längst etablierte Forschungsthema Recht und Literatur, um für sich einen neuen Ausgangspunkt zu wählen. Klar, was Neues muss es sein. Kablitz geht von einem strukturellen Muster in der Beziehung von Literatur und Justiz aus, um es in Kleists Stück aufzuspüren. Kablitz erklärt das so:
Indem der Zerbrochne Krug die Justiz auf die Bühne holt, erkundet dieses Lustspiel die Beziehungen zwischen der für einen Prozess typischen Rekonstruktion und Deutung eines vergangenen Geschehens und dem für die Literatur charakteristischen Verfahren der Gestaltung und Interpretation einer Geschichte.
Sind also die Verfahren in der Literatur wie in einem gerichtlichen Prozess, wenn nicht dasselbe, so doch wenigstens etwas Vergleichbares? Wobei es in dem einen Fall um Rekonstruktion und im anderen um Konstruktion geht mit dem gemeinsamen Scharnier der Deutung. Die Ermittlungen gehen in der Justiz rückwärts und in der Literatur vorwärts. Und hier fällt dann auch der gravierende Unterschied auf. Während wir in einem Prozess auf eine bereits vorhandene Wirklichkeit angewiesen und beschränkt sind, die es zu rekonstruieren gilt, die wir uns aber nicht aussuchen, schaffen wir hingegen im Prozess des Schreibens erst die Wirklichkeit, die keine ist, weil wir sie passgenau und nach Gusto erfinden.
Gut, gefunden muss beides werden, nämlich auf der einen Seite die Indizien und Beweise und auf der anderen Seite eine funktionierende Dramaturgie, aber doch wohl mit unterschiedlich limitierten Deutungsebenen. Oder anders gesagt: Eine Gerichtsverhandlung auf der Bühne wird um eine Ähnlichkeit mit einer realen nicht herumkommen, um als solche erkannt zu werden. Aber Kablitz nimmt noch mehr wahr und meint nicht bloß eine äußere Ähnlichkeit, sondern deckungsgleiche Verfahren. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage, inwieweit wir von einem bewussten Erkunden der Beziehungen bei Kleist ausgehen können und müssen. Es ist die alte Geschichte: Dem Autor bei der Arbeit über die Schulter schauen zu wollen.
Kablitz‘ Analyse arbeitet sich Stück für Stück am Lustspiel-Text entlang und beginnt darum mit dem Corpus Delicti, dem zerbrochenen Krug. Die Eigentümerin desselben, Marthe Rull, beschreibt in aller Ausführlichkeit und sehr zum Ärger des Dorfrichters Adam sowohl das, was der intakte Krug bildlich vor seiner Zerstörung wiedergab, als auch seine Geschichte wechselnder Eigentümer und der sonderbaren Zufälle, die daran geknüpft sind:
Marthe Rulls scheinbar naive und für den Handlungsverlauf überflüssig wirkende Bildbeschreibung erweist bei näherem Zusehen als eine kaum anders als brillant zu nennende Analyse des Mediums ‚Bild‘ und seiner Wirkungen, die Kleist dieser Szene eingeschrieben hat.
Das alles ist bei Kleist sprachlich äußerst subtil und ziele eben nicht nur auf die Vergegenwärtigung historischer Realität ab, sondern die Zerstörung des Gefäßes werde zugleich in seine zeichenhafte Welt einbezogen. Hier vermischen sich, wie Kablitz betont, in der Geschichte des Krugs die Erzählung großer Geschichte mit Alltagsbegebenheiten. Kablitz nennt das ausgesprochen modern, weil das Interesse an Alltagsgeschichten vorweggenommen werde und verweist an dieser Stelle auf Reinhart Kosellecks Begriff des „Kollektivsingulars“, womit die Zersplitterung der Geschichte in lauter kleine Geschichten gemeint sei.
Gleichzeitig dränge sich ein antiker Stoff auf als ein „Referenzmythos“: Sophokles‘ König Ödipus widmet Kablitz ein eigenes Kapitel unter Hinzufügung der biblischen Geschichte vom Sündenfall. Er spricht von einer „Engführung“ der beiden Geschichten im Lustspiel, auch wenn sich das nicht auf den ersten Blick erschließe. Wie der Dorfrichter Adam verhandelt auch Ödipus in eigener Sache. Es sei, als wachse Kleists Zerbrochner Krug gleichsam aus der Tragödie heraus. Dennoch vermerkt Kablitz einen bedeutenden Unterschied: Anders als im Sündenfall und bei König Ödipus wird bei Kleist nicht mit den Göttern gerungen. Die Rivalität zwischen dem Menschen und Gott wechsle vielmehr zur Konkurrenz innerhalb der Gesellschaft.
Die Rede ist auch von der „Janusköpfigkeit“ der Geschichte und den Geschichten, als lade das Lustspiel zur Interpretation ein, zwinge uns förmlich dazu. So entnimmt es der Autor aus Kleists Vorrede zum Zerbrochnen Krug, um von einem „zentralen Strukturmuster“ zu sprechen:
[…] Narrationen sind ebenso Gegenstand von Interpretationen wie sie ihrerseits Deutungen für andere Geschichte und für die Vorkommnisse in der Welt, insoweit sie sich narrativ erfassen lässt, bereitstellen. Sie wollen gedeutet werden und liefern hermeneutische Präzedenzfälle.
Dass die dem Stück eigene Sprache nicht nur komisch und subtil ist, sondern ausgesprochen tiefsinnig, ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis. Aber man kommt nicht daran vorbei – etwa wo es um den Wortwechsel zwischen dem Geschichtsschreiber Licht und dem Richter Adam geht, den Kablitz „nachgerade unwahrscheinlich geistreich“ nennt. Kleist setzt hier mit Bravour auf das Spiel der Bedeutungen in und mit der Sprache. Deshalb kann es nur richtig sein, wenn Kablitz sich dagegen wehrt, die verschlüsselte Rede im Stück nur auf ein gattungstypisches komisches Sprachspiel zu reduzieren.
Eine auffällige Rolle spielen die Metaphern, weshalb der Autor am Ende noch einen Exkurs anfügt zum Thema „Metapher, Metonymie, Symbol“. Über ihre Rolle bei Kleist heißt es:
Sie sind ebenso Instrumente wie Gegenstand von Deutungen. Sie bedürfen zu ihrem Verständnis der Interpretation, aber sie interpretieren gleichermaßen die Sachverhalte, auf die sie sich beziehen. Sie bilden gewissermaßen die Gelenkstelle, an der die Wirklichkeit und ihre Deutung aufeinandertreffen.
Das Gerichtswesen ist bei Kleist von dem inneren Widerspruch durchzogen, dass das institutionelle Handeln nie frei ist von den außerinstitutionellen Gegebenheiten, die es eigentlich regulieren soll. Es bleiben eben fehlbare Menschen, die diesseits und jenseits der Gerichtsschranke agieren. So handelt Adam ruchlos zum eigenen Vorteil, aber der Gerichtsrat Walter als Hüter der juristischen Reputation macht am Ende keine bessere Figur, obschon aus anderen Gründen als der Dorfrichter. Wie schon am Anfang mit der Beschreibung des Corpus Delicti, in der sich Historie und Alltagsgeschichten vermischen, so bleiben die Erkundungen über den Grenzverlauf zwischen Alltag und Institution im Bühnenfokus.
Am Schluss bringt Kablitz noch Michael Kohlhaas zur Sprache, in dem er, auch wenn es sich um eine Novelle handelt, das Modell der Tragödie realisiert sieht. „Das tragische Schicksal eines Protagonisten gerät zur Tragödie der sozialen Gemeinschaft.“ So weit so gut, doch der ursprüngliche Ausgangspunkt der Untersuchung, nämlich das Aufspüren eines „strukturellen Musters“ scheint hier vollends in den Hintergrund geraten zu sein. Gleichwohl leuchtet es ein, wenn Kablitz das Verhältnis von Novelle und Lustspiel als Komplementarität beschreibt: „Die Erzählung handelt von den Folgen einer Rechtsbeugung, die Komödie von der Verhinderung einer solchen.“ Das habe Kleist trotzdem nicht gehindert, die Unordnung der Welt zu befestigen, statt sie zu beseitigen, so das Resümee.
Die Studie Die Justiz auf der Bühne führt gewissermaßen ein Doppelleben, getrennt durch Haupttext und Fußnoten. Da gibt es zum einen den sich entwickelnden, fortlaufenden Argumentationsfluss mit thematischen Schwerpunkten von Kapitel zu Kapitel und dadurch stets neu ansetzenden Diskursschleifen. Zum anderen ist da der mindestens ebenso gewichtige Fußnotenteil, der oft so mächtig anwächst, dass er den eigentlichen Text verdrängt. Denn nicht nur will das ganze Lustspiel und noch einiges mehr in das Buch hinein, sondern auch die längst unübersichtlich gewordene Sekundärliteratur mit all ihren interpretatorischen Verzweigungen, die vorgestellt und abgewogen sein wollen. Mit dieser Metaebene erhalten wir als Leser*innen zwei Bücher in einem. Das Ganze materialreich zu nennen, wäre purer Euphemismus. Wie schon eingangs gesagt: Zum Glück bleibt Kleists Text unberührt übrig und lädt zur nächsten Inszenierung ein – wie zur nächsten Analyse mit einem dann neuen Ausgangspunkt.
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