Symbole für melancholisch-manische Maskerade

In ihrem Roman „Die Regenschirme des Erik Satie“ komponiert Stéphanie Kalfon die Worte zu den Klängen eines lange verkannten Avantgardemusikers

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

14 schwarze Regenschirme habe man nach Erik Saties Tod in seiner Wohnung gefunden – so Stéphanie Kalfon in einem Interview. Laut dem Komponisten Virgil Thomson waren es sogar „des centaines“, Hunderte. Wie dem auch sei: Der titelgebende Gegenstand gibt den Anlass für den Entwurf einer biografischen Skizze, in der sich heterodiegetische Erzählerstimme, Zitate aus den Texten des Komponisten und Spielanweisungen aus Saties Partituren durchmischen. Diese Konstruktion manifestiert sich bereits in den Überschriften der zehn großen Teile, in die Kalfon, von Hause aus Regisseurin und Drehbuchautorin, ihren ersten Roman gliedert. Unabhängig davon folgen die einzelnen Kapitel einer fortlaufenden Nummerierung.

Progressiv sich in der Zeit entfaltend – das ist hier die erste Homologie zur Musik, was nicht heißt, dass eine chronologische Abfolge der Ereignisse eingehalten werden würde. An ihrer Stelle ist eine „narratio continuo“ auszumachen, die am Ende beginnt und am Ende erneut an den Beginn zurückkehrt. Mit den narrativisierten Informationen, die sie zu Satie gibt, ordnet sich Kalfon in den weiten Bereich der „verbal music“ ein, des (fiktionalen) Schreibens über die Vita und/oder das Opus eines Komponisten. In der zeitgenössischen französischen Literatur ist sie damit in guter Gesellschaft, denn Christian Gailly und Eric-Emmanuel Schmitt haben sich mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten Wolfgang-Amadeus Mozart genähert, Jean Echenoz hat sich auf Maurice Ravel konzentriert und David Foenkinos auf John Lennon. Das Tableau des kauzigen und extrem verletzlichen Künstlers, das Kalfon diskontinuierlich enthüllt, präsentiert als erstes den Beginn des neuen Jahrhunderts. Der 35-jährige Satie, „vollständig pleite“ und enttäuscht, ist in den Pariser Vorort Arcueil gezogen. Nach einer Rückblende auf die Kindheit des Musikers, geprägt vom Verlust seiner jüngeren Schwester und wenig später seiner Mutter, folgen Schlaglichter auf Saties Studium am Pariser Konservatorium (einmal wurde er gefeuert, einmal brach er das Studium ab), auf das kurze Intermezzo in der Armee und auf einige Fantasien, denen sich Satie hingibt, so etwa eine Fahrt im „Matratzen-Floß“. Saties selbstbewusstes Auftreten gegenüber Rodolphe Salis, Besitzer des „Cabaret du Chat Noir“, der ihm Arbeit gibt, steht den Phasen prononcierten postromantischen Weltschmerzes, Ennui und Spleen, gegenüber. Diese Gegensätze prägen die Freundschaften zu Künstlerkollegen, zu Contamine de Latour, Man Ray, Max Jacob und insbesondere zu Claude Débussy, an dessen Vorbild Satie sich lebenslang abarbeitet. Beide Facetten Saties scheinen in der Bewegung der „Inkohärenten“, mit denen die „Kunst partizipativ“ wird, und insbesondere im Jazz aufzugehen, „im ersten Ragtime der europäischen Musik“, in Saties Parade, Indiz dafür, dass Satie zu früh kam, so wie er selbst sagt: „Ich bin zu jung in eine zu alte Welt geboren“. Dass er sich aus dem frustrierten avantgardistischen Überschwang, von der „Regellosigkeit“, hinbewegt zu epigonal akademischer Einkehr, hoffend, damit das „Gewitter inside“ einzudämmen, beweist der halbherzig gefasste Entschluss, mit über 40 Jahren noch einmal zur „Schola Cantorum“ zurückzukehren. Kein Wunder, dass er das „Diplom“ als „Totenschein“ abkanzelt. So komponiert er unbeeindruckt von seiner Qualifikation weiter, verkriecht sich mehr und mehr in Arcueil und spricht intensiver noch als zuvor dem Alkohol zu, so lange, bis er an den Folgen seiner Sucht stirbt.

In ihrer „verbal music“ lässt Kalfon wesentliche Titel von Saties Werken Revue passieren, beschreibt diese und lässt zwei Pfeiler hervorragen: die Gymnopédies mit ihren innovativen Zügen auf der einen Seite und die Hintergrundmusik, die Idee der „Musique d’ameublement“ auf der anderen. Diese Kontrapunkte prägen auch Saties Charakter, von Widersprüchen und Turbulenzen durchzogen, gerahmt von einer Ära, in der die „Anti-Prinzipien“ oder die Absage an alle künstlerischen Normen im Umkreis von Dadaismus und Surrealismus weitestgehend in Literatur und bildender Kunst angekommen sind, die zeitgleich komponierte Musik indes nur bedingt durchdringen. Anders bei Satie: Abgesehen von seiner zweckgebundenen „Musique d’ameublement“ feiert er die Entautonomisierung einer Kunst, die sich nicht mehr auf einem Parnass jenseits des Alltags abspielt. Nicht das Leben schwingt sich auf zur Kunst, sondern die Geste der Avantgarde verläuft genau umgekehrt. Mit der Verfügbarkeit über alle Kunstmittel strömt Kunst in das Leben hinein. Sie wird demokratisch und lässt die schließlich in den Jam-Sessions des Jazz verwirklichte Partizipation zu. Schon bei Satie ist „alles möglich, ja möglich“, doch das weite Terrain dieser Virtualität ermöglicht in erster Linie das Ping-Pong-Spiel zwischen Melancholie und Manie, das sich und die sich im Bild des Regenschirms fassen lassen. Mit dem Schirm, als Moderequisit typisches Accessoire des Dandys, präsentiert sich Satie nach außen. Das Objekt symbolisiert sein Auftreten vor Publikum und sein mitunter manisches Bedürfnis, sich mitzuteilen. Mit dem Schirm kann man sich ebenso gegen Angreifer wehren, er kann als Waffe dienen und bietet Schutz, wenn er aufgespannt ist. Er ist in die Nähe zu rücken zu Saties Mini-Wohnung, dem „Wandschrank“, der an Albrecht Dürers Hieronymus im Gehäus erinnert. In seinen „Gehäusen“, im „Wandschrank“ und in der Wohnung in Arcueil, „einem anderen Wandschrank“, ist es Satie vergönnt, frei von äußeren Einflüssen, frei von kompositionstechnischer Normierung zu arbeiten. Das mit den Schirmen angedeutete Wechselbad von Introversion und Extraversion ist auf den mütterlichen Befehl „Put Jack in the box“ zurückzuführen, den Satie sein Leben lang hört. Mal ist Jack, der Hampelmann, draußen, mal ist er versteckt. Auf diese Bipolarität pfropft sich die Multiperspektivität der Maskerade, angefangen vom „Gymnopäden“, als den sich Satie im „Chat Noir“ stilisiert, bis hin zum kleinkarierten Beamten, der in seinem Anzug verschwindet. Immer wieder dräut in ihm das Bedürfnis nach Inkludenz, sich einzuschließen und sich „wegzudenken“. Er habe Gefallen an der „Misanthropie“ gefunden, so Satie in einem im Roman zitierten Originaldokument, er habe die „Hypochondrie kultiviert“ und sei nun „der schwermütigste aller Menschen geworden“. Trotz dieser Negativbilanz, die er in Arcueil zieht, sind sowohl sein Leben als auch seine Kompositionen vom Nebeneinander der Stimmen bis hin zur Inkohärenz geprägt – in einem „Ragtime des Lebens“, den Kalfons Roman abbildet und ihm mit dem wörtlichen Verweis des Romanendes auf den Anfang, quasi als Add-on, eine Rondostruktur verleiht.

Womit Die Regenschirme des Erik Satie in erster Linie punkten kann, ist die sehr weit vorangetriebene Verschmelzung von Musik und Wort, die Imitation von Klang auf allen linguistischen Ebenen, die daran beteiligt sein können. Bleibt der Sektor der „verbal music“ eher blass und konventionell und sind Form- und Strukturparallelen nur minimal vorhanden, so brilliert Kalfon eindeutig in dem Bereich Wortmusik, mit Klangkompositionen, in denen der Inhalt sekundär ist beziehungsweise in denen ein ganz eigener Inhalt transportiert wird, bei dem möglicherweise nur eine kleine Schnittmenge der Äquivalenz von Signifikant und Signifikat übrig bleibt. „Die kongeniale literarische Hommage an den Komponisten Erik Satie“ (Macha Série in Le Monde) speist sich aus Klangimitationen, die sich von der Phonetik bis hin zur Syntax zeigen, eine von Satie inspirierte Prosodie hervorrufen, die der Prosa lyrische Passagen so eingestaltet, dass der Text zu einer eigenwilligen Partitur wird, die nicht nur im traditionellen Sinne gelesen, sondern die auch gehört werden sollte. Theodor W. Adornos Diktum, dass Sprache musikähnlich sei, Musik hingegen nicht wörtlich als Sprache genommen werden dürfe, nimmt fast den Stellenwert eines Subtextes ein. Kalfon unternimmt an keiner Stelle des Romans den Versuch, die Musik „sprechen“ zu lassen, ihr Deutungen unterzuschieben, denn das würde laut Adorno in die „Irre führen“. Ihre Sprache jedoch ist musikähnlich, bildet soweit irgend möglich die Klänge von Saties Kompositionen und seine Partituranweisungen ab. Einziger Nachteil: Ein solcher Text entzieht sich an manchen Stellen der Übersetzung. Angefangen beim Binnenreim „Les parapluies d’Erik Satie“, der im deutschen Titel verschwindet, bis hin zu einer Paronomasie wie „aventure, ture ture, ture tu ture“, zu der im deutschen Text ein zweites Lexem tritt, das die Übersetzerin in die Spielerei integriert („Abenteuer, teuer, teuer, zu teuer“). So keimt hier sehr vorteilhaft der partizipative Charakter der Kunst im Übertragen und das eine oder andere Mal sogar ragt die Übertragung in puncto Klang über das Original hinaus: „Trauriger als eine Trauerweide“ im Vergleich zu „triste à pleurer comme un saule“.

Alles in allem entwirft Kalfon eine rundum gelungene „Lebenspartitur“ des Komponisten Eric Satie, ein skizzenhaftes Psychogramm mit alludierendem Charakter, dem man nur zu Unrecht vorwerfen würde, dass mehr Figuren aus Saties Leben eine Rolle hätten spielen und/oder dass sein Alkoholismus, seine Abstürze im Absinth, intensiver hätten in Szene gesetzt werden können. Es dominiert das brillante Ergebnis der wechselseitigen Erhellung und Verschmelzung der Künste. Wer hingegen einen flüssig hinwegzulesenden Roman sucht, ist hier fehl am Platz.

Erik Satie tritt als sympathischer, Mitleid erregender, melancholischer und manischer Messie auf, der an seiner Bipolarität leidet. Mit diesem Bild im Besonderen und ihrem Roman im Allgemeinen lädt Stéphanie Kalfon nicht zuletzt dazu ein, auch einmal die Stücke von Satie zu hören, die nicht so berühmt geworden sind wie die Gymnopédies oder Gnossiennes. Nach der Lektüre der Regenschirme wird man diese mit dem „Kopfkino“ rezipieren, das Kalfon kreiert hat. Und bei dieser Gelegenheit lässt sich ebenfalls überprüfen, ob man – so wie Stéphanie Kalfon – nicht nur eine intensive anwachsende Emotionalität zu spüren meint, sondern den Eindruck hat, dass die Musik, die man hört, einem selbst zuhört (Kalfon in einem Interview: „cette musique que j’écoute me donne l’impression qu’elle m’écoute“).

Titelbild

Stéphanie Kalfon: Die Regenschirme des Erik Satie. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer.
Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2018.
193 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783772530043

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