Kanada als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse

Schlaglichter auf virtuelle und reale Präsentationen

Von Martin KuesterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Kuester

Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2020 war, bevor sie der Corona-Pandemie anheimfiel, eine große Präsentation der kanadischen Literatur geplant, die zahlreiche kanadische Autorinnen und Autoren nach Deutschland gebracht hätte, um die Vielseitigkeit der „anderen nordamerikanischen Literatur“ vorzustellen. Dass die kanadische Literatur in Deutschland schon seit langem Fuß gefasst hat, ist keine Neuigkeit. Es gibt mehrere Aufsatzsammlungen zur Situation der kanadischen Literatur in deutscher Übersetzung, und auf der Website der Botschaft von Kanada in Berlin stand viele Jahre eine Liste kanadischer Bücher in deutscher Übersetzung, die vor allem der ehemaligen Kulturreferentin Astrid Holzamer zu verdanken ist. Eine Liste der neuesten Übersetzungen findet sich auf der Website der Frankfurter Buchmesse: https://www.buchmesse.de/files/media/pdf/NEL%20Kanada_Juni_2020_neu.pdf.

Schon vor zwanzig Jahren konnte ich in einer Ausgabe von literaturkritik.de (6/2000), die ihren Themenschwerpunkt der Literatur Kanadas widmete (6/2000), schreiben:

Wenn die kanadische Literatur auch lange Zeit – und das nicht nur aus der Sicht der deutschen Literaturszene – ein Dornröschendasein fristete, ist sie inzwischen doch von etlichen deutschsprachigen Verlagen und ihren Lesern entdeckt worden. […] An den internationalen Erfolgen von anglophonen kanadischen Autoren und Autorinnen können auch die deutschen Medien heute kaum mehr vorbeigehen. (https://literaturkritik.de/id/4670)

Auch wurde anlässlich einer Marburger Tagung im Jahre 2000 ein kleiner Band mit dem Titel Reflections of Canada: The Reception of Canadian Literature in Germany (hg. Martin Kuester und Andrea Wolff, Universitätsbibliothek Marburg) herausgegeben, der die Entwicklung der Rezeption kanadischer Literatur bis zur Jahrtausendwende nachvollzog.

Schon im letzten Herbst stellte Margaret Atwood, als weit über Kanada hinaus bekannte Autorin, auf der Buchmesse 2019 den Ehrengast des kommenden Jahres vor, und man freute sich darauf, sie und die von ihr präsentierte Literatur in diesem Jahr wieder zu sehen. Atwood steht mit anderen Autorinnen und Autoren wie der Nobelpreisträgerin Alice Munro und Romanciers wie Michael Ondaatje für eine selbstbewusste und international erfolgreiche Literatur, die zahlreich interessante Facetten bietet und international etabliert ist.

Leider wird die Präsentation in diesem Jahr wohl vor allem auf virtuelle Angebote beschränkt sein, aber Internet-Angebote wie das BOOKFEST werden sicherlich faszinierende Einblicke und auch Diskussionen in neueste Entwicklungen und Übersetzungen vermitteln können (siehe https://www.buchmesse.de/en/event/canada-translation-frankfurt und https://www.mfk-frankfurt.de/termine/oeffentliches-gespraech-die-zukunft-des-buches-im-elektronischen-zeitalter-feedback-5-global-warning-marshall-mcluhan-and-the-arts/).

Atwood selbst hat sich während der letzten Jahrzehnte zu der kanadischen Weltautorin entwickelt, und ihre Werke gehen inzwischen über einen rein kanadischen Horizont hinweg, indem sie zentrale Themen der Weltpolitik und der Weltliteratur aufs Korn nimmt, sei es in ihrer Auseinandersetzung mit Tendenzen zum fundamentalistischen Totalitarismus oder in ihren dystopischen Werken, in denen sie die Umweltzerstörung und weltweite Pandemien anprangert. Hierzu gehören ihre MaddAddam-Trilogie und die im letzten Jahr erschienene Fortsetzung ihrer Handmaid’s Tale durch The Testaments. In beiden Werken erscheint Kanada als ein positiverer Gegenpart zu den fundamentalistischen und totalitaristischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten, wobei man sich fragen muss, ob die Entwicklungen in der Realität des gegenwärtigen Wahlkampfs in den USA dort nicht dystopischer sind als die meisten bisherigen literarischen Zukunftsvisionen.

Über politische Themen hinweg vermag Atwood es aber ebenso, Klassiker wie Homer und Shakespeare für ein Publikum des 21. Jahrhunderts intertextuell aufzubereiten. Mit ihrem Roman Hag-Seed (Hexensaat) reiht sich Atwood in eine Reihe von weltbekannten Autorinnen und Autoren ein, die im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projects zentrale Werke Shakespeares neu bearbeiten. Für ihre Bearbeitung hat sich Atwood mit Shakespeares The Tempest ein Drama ausgesucht, das sich hervorragend in den Kontext einer postkolonialen Gesellschaft und Literatur einpasst, wobei Kanada die Spuren zweier europäischer Kolonialreiche, England und Frankreich, aufweist.

Atwoods Sturm spielt in der Umgebung der kanadischen Kleinstadt, Makeshiweg, die ein wichtiges Theaterfestival beheimatet. Während die Handlung bei Shakespeare auf einer einsamen Insel spielt, auf der der von seinem Bruder abgesetzte Herzog von Mailand, Prospero, und seine Tochter Miranda Zuflucht gefunden haben, hat in Hag-Seed der Theaterdirektor Felix Phillips seinen Job beim lokalen Theaterfestival verloren, kurz bevor er seinen Lebenstraum erfüllen und Shakespeares Tempest aufführen konnte. Während Shakespeares Herzog durch seinen Bruder Antonio abgesetzt wurde, verliert Felix seine Stelle durch die Tricksereien seines Mitarbeiters Tony, wobei die Namensähnlichkeiten natürlich beabsichtigt sind.

Felix findet schließlich eine neue Anstellung in einem Gefängnis, in dem er – anonym und weitab vom professionellen Theatergeschehen – Drama als pädagogisches Mittel einsetzt, und im Endeffekt ist ein Gefängnis ähnlich von der Umwelt abgeschnitten wie eine einsame Insel. Am Ende gelingt es Felix, an seinen Feinden, die im Theater- und im Politiksystem Karriere gemacht haben, Rache zu nehmen, indem er es – wie Prospero auf der Insel – schafft, seine Gegner mit Hilfe von Magie (bzw. Technik) in seine Gewalt zu bringen und sein Exil zu beenden. So wie Prospero an seinem Bruder, dem Usurpator, Rache nahm, so rächt sich auch der Theaterdirektor an seinem untreuen Untergebenen.

Die kanadische Literatur bietet für ein deutschsprachiges Lesepublikum aber auch andere, vielleicht sogar erwartbarere Reize, denn seit den Zeiten Karl Mays ist die Beschäftigung mit den nordamerikanischen Ureinwohnern, die in Kanada als First Nations bezeichnet werden, ein wichtiges Thema bei uns, wie auch kanadische Schriftsteller und Filmemacher, viele von ihnen selbst Vertreter der Gruppe der Ureinwohner, mitunter ironisch kommentiert haben. Der Filmemacher und Autor John Blackbird schildert die deutsche Einstellung in seinem Dokumentarfilm Indianer (2007) und kommentiert den reflexartigen Rückfall deutscher Leser und Zuhörer in stereotype „Indianer“-Bilder satirisch. Zum Beispiel zeigt er in seinem Gedicht „Groan“ (im Band Soliloquy, 2017, 68-70), wie ein deutscher Radiomoderator seinen „indianischen“ Gesprächspartner mit stereotypen Phrasen überhäuft und sich mit den Worten „ich habe gesprochen, uff, uff“ von den Hörern verabschiedet.

Der Dramatiker, Romanautor und Journalist Drew Hayden Taylor, ebenfalls ein Vertreter der kanadischen First Nations, begibt sich in einer für die Canadian Broadcasting Corporation erstellten Fernsehsendung gar in Deutschland auf die Suche nach Karl Mays mythischem Winnetou (Searching for Winnetou, 2018, ein Ausschnitt ist auf www.youtube.com/watch?v=WvM4V6HLJAI zu sehen). Der Greifswalder Literaturwissenschaftler Hartmut Lutz hat diese Affinität als deutsche „Indianertümelei“ (englisch “Indianthusiasm”) bezeichnet, und Drew Hayden Taylor erwähnt sogar in seinem Roman Motorcycles and Sweetgrass einen deutschen Akademiker, eben diesen Hartmut Lutz, der den Terminus Indianthusiasm als Bezeichnung für die europäische „Heldenverehrung“ der nordamerikanischen Ureinwohner erfunden hat.

In seinen Werken illustriert Drew Hayden Taylor auch in unterhaltsamer Weise das Aufeinandertreffen europäischer und nordamerikanischer Ideologien. In Motorcycles and Sweetgrass zeigt er, wie die Bewohner eines fiktionalen Stammes zwischen den verschiedenen Weltsichten hin- und herpendeln. Sollen sie ein ihnen zugefallenes Stück Land nach Art der Europäer (Land ist dafür da, besessen und genutzt zu werden) oder auf traditionelle Art der Ureinwohner nutzen? Sollen sie sich im Sinne der Bibel das Land Untertan machen oder sollen sie sich und ihre Gesellschaft als Teil und im Einklang mit der Natur verstehen?

Das positive Bild der Ureinwohner in der deutschen Leserschaft geht oft auch in eine ähnliche Richtung wie die nicht ganz unumstrittene Ansicht, die den Ureinwohnern Nordamerikas eine „natürliche“ und positive Einstellung zur Umwelt zuschreibt. Die ökologische Bewegung in Deutschland hat schon vor vielen Jahren nicht erneuerbare Energien verschlingende Automobile mit Aufklebern versehen, die die angeblichen Weissagungen des Häuptlings Seattle verbreiteten.

Ein anderer führender literarischer Vertreter der First Nations ist Thomas King, der in seinen Romanen, Kurzgeschichten- und Essaysammlungen aus Sicht der Ureinwohner deren Einstellung zur Umwelt und Umweltproblematik darstellt und mitunter auch – ähnlich wie Taylor – die europäische Sicht darauf ironisiert. So sieht auch er die christlich-eurozentrische Schöpfungsgeschichte kritisch und stellt ihr die nordamerikanische Legende gegenüber, nach der das bewohnte Land der Rücken einer Schildkröte sei.

In seinem Roman The Back of the Turtle (2014) zeigt King, wie industrielle Konzerne mit ihren unkontrollierten chemischen Experimenten und Entwicklungen die Naturlandschaften zerstören. Zum Glück erweist sich im Roman die Natur als stark genug, die chemischen Zerstörungen zu überleben, aber man kann bezweifeln, dass ein solcher Optimismus auf Dauer berechtigt ist.

Auf eine andere Version deutschsprachiger oder genauer Schweizer „Indianertümelei“ oder vielmehr einer sie dekonstruierenden literarischen Strategie trifft man in Linus Reichlins Roman Manitoba (Berlin: Galiani, 2016). Hier berichtet der Ich-Erzähler, selbst deutsch-schweizerischer Romancier, über eine Reise in den US-Bundesstaat Wyoming und schließlich in den Norden der kanadischen Provinz Manitoba, um einer Familienlegende auf den Grund zu gehen, nach der seine Urgroßmutter einst in einem jesuitischen Internat in den USA unterrichtete, dort mit einem Vertreter der Ureinwohner eine Liebschaft einging und schwanger in die Schweiz zurückkehrte. Somit hätte der Urgroßvater des Erzählers möglicherweise ein stereotypischer Indianer sein können, der im vollen Einklang mit der Natur gelebt hätte:

Wenn mein Urgroßvater nachts zu ihnen hinaufblickte, sah er die Lagerfeuer seiner Ahnen. Nach ihrem Tod versammelten sie sich um die Feuer, die zwar unerreichbar waren, aber doch in seiner Welt sichtbar. […] Für meinen Urgroßvater war der Sternenhimmel ein Familienalbum, und überall, wo eines dieser Feuer loderte, war auch ein Gesicht und eine Geschichte. […] Die Natur befand sich in seinem Inneren, und der Nachthimmel funkelte in ihm und nicht außerhalb.

Am Ende lässt sich die romantische Legende vom indianischen Urgroßvater leider nicht belegen, und der Erzähler zieht sich in eine einsame Blockhütte in der Wildnis der kanadischen Provinz Manitoba zurück, wo er sich wohl mit der Natur verbinden will, jedoch bald nach Deutschland zurück fliehen muss, nachdem seine Hütte von einer Gruppe junger militanter First Nations-Kanadier in Brand gesteckt wird. Die besondere Beziehung zwischen deutschsprachigen Mitteleuropäern und nordamerikanischen Ureinwohnern erweist sich als nicht besonders tragfähig.

Die kanadische Literatur- und Kulturförderungsinstitution Canada Council hat aus Anlass der Buchmesse ein Programm zur Unterstützung der Übersetzung von kanadischer Literatur ins Deutsche aufgelegt. In den geförderten Übersetzungen spiegeln sich zahlreiche Facetten der kanadischen Literatur, vor allem natürlich die Tatsache, dass Kanada als Einwanderungsland eine sehr multikulturelle und – im Sinne der auf seiner Kolonisationsgeschichte beruhenden offiziellen Zweisprachigkeit zumindest bilinguale – Gesellschaft beheimatet. Die Einwanderer aus der ganzen Welt befruchten sowohl die anglophone als auch die frankophone kanadische Literatur; so kommen zeitgenössische innovative Schriftsteller aus dem Iran, dem Libanon oder auch aus Deutschland. Auch der Marburger Verlag LiteraturWissenschaft.de ist in diesem Kontext in Verbindung mit der Münchner Übersetzerin Heide Fruth-Sachs aktiv geworden. So erschien im Herbst 2020 das Langgedicht Nordgesänge des deutschkanadischen Dichters Henry Beissel (Originaltitel Cantos North) in der Übersetzung von Heide Fruth-Sachs. Dieses opus magnum kann man wie die führende kanadische Literaturwissenschaftlerin Sherrill Grace als kanadisches Epos ansehen. Es sollte aber vor allem auch als Liebeserklärung des nach dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada immigrierten und von seiner deutschen Heimat tief enttäuschten Beissel an sein neues Heimatland und insbesondere an den Norden gelesen werden:

Der Norden, meine Liebe, der Norden,
wo die Erde fest steht
der kontinuierlichen Drift entgegen
und die Sterne um uns wirbelt
wie ein gefrorenes Feuerrad.
Schau nordwärts in die Zukunft
in eine Chrysalis aus Schnee.
Unter deinem Blick jubelt die Sonne.

Anmerkung

Einige der grundlegenden Ideen zu diesem Artikel sind erschienen in

Martin Kuester: „‚Ecological Indians‘ in ‚The Global Indian Village‘: A European Perspective on Contemporary Canadian First Nations Writing. In: Canadian Ecologies Beyond Environmentalism. Ed. Alessandra Boller, Angela Krewani und Martin Kuester. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2020. S. 139-54.

Martin Kuester: Shakespearean Godgames in Makeshiweg, Ont.: Margaret Atwood’s Hag-Seed (2016). In: The Anglo-Canadian Novel in the Twenty-First Century: Interpretations. Ed. Maria Löschnigg und Martin Löschnigg. Heidelberg: Winter 2019. S. 33-41.