Durch Klang zum Geist

In Wassily Kandinskys Gedichten bezeugen Wort- und Klangästhetik das geistige Prinzip des Formlosen

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der kleine Band das „Vergessene Oval“ versammelt Gedichte Wassily Kandinskys (1866–1944), die zwischen 1885 und 1920 in russischer und deutscher Sprache entstanden sind. Genauer gesagt, haben die Herausgeber Alexander Graeff und Alexander Filyuta hierin Gedichte veröffentlicht, die bei der Auswahl für Kandinskys Gedichtband „Klänge“, erschienen 1912 im Piper Verlag München, vernachlässigt worden sind, sowie Gedichte, die nach jenem Band, mithin 1913 und 1914, entstanden sind. Drei weitere frühe Gedichte, nämlich „Schweigen“, „Poesie“ und „Spätherbst“ sowie das späte Prosagedicht „Zwielicht“ von 1920 ergänzen die Sammlung. Eine Besonderheit der Herausgabe besteht in der Entscheidung, Kandinskys sowohl in deutscher als auch in russischer Sprache existierenden Gedichte auch in beiden Sprachen abzudrucken. Diejenigen Gedichte, die es bislang nur auf Russisch gab, hat Alexander Filyuta ins Deutsche übersetzt. Künstlerisch begleiten die Illustrationen von Christoph Vieweg die Gedichte, die überdies eine gestalterische Annäherung an Kandinsky versuchen. Das Nachwort bringt in all seiner Knappheit die Besonderheit der sprachlichen Gestaltung Kandinskys auf den Punkt, die hauptsächlich die vier Aspekte „Opposition“, „Kreisbewegung“, „Iteration“ und „Reduktion“ ausmacht. Eine Zeittafel zur parallel verlaufenden Lebens- und Zeitgeschichte beschließt das Bändchen der Reihe Edition ReVers des Verlagshauses Berlin. Diese Reihe hat sich der Aufgabe verschrieben, Gedichte nicht mehr lebender Autorinnen und Autoren erstmals oder auch erneut zu entdecken. Dabei erwartet den Lyrikfreund ein typografisch und haptisch hochwertig gestaltetes Format, in dem Text und Material eine enge Verbindung eingehen. Dies zeigt sich an einem Lektüreerlebnis, das sowohl haptisch, visuell als auch lautlich berühren möchte; also auf eine Lektüre abzielt, die weit über die schlichte Verkündung des Textes hinausgeht.

Äußerlich erinnert die genügsame, aber dennoch erlesene Aufmachung an den minimalistischen Stil des Bauhauses. Der Buchrücken bleibt gänzlich offen und macht so den Prozess der Herstellung erfahrbar: Fadenheftung, Leim und die einzelnen Bögen des Buchblocks können im Detail wahrgenommen werden und bieten ein ungewöhnliches ästhetisches Erlebnis. Innen hat man auf die edle Kombination von schwarz und gold gesetzt: Sowohl Text und Übersetzung als auch Zeichnungen folgen diesem schönen Kontrast. So scheint es nur folgerichtig, dass 2015 auch die Stiftung Buchkunst auf dieses Format aufmerksam wurde und die Edition ReVers auszeichnete.

Gerade in Bezug auf den Synästhetiker Kandinsky, für den Kunst ein Zusammenklang von Farbe, Laut und Form war, gewinnt die spezifische Ausstattung des Bandes an Gewicht. Von Nachahmung zu sprechen, würde dem Konzept der Edition ReVers nicht gerecht werden. Denn sie hat sich mit Passion einer umfassenden Adaption Kandinskys verschrieben, die zu dessen spezifischer Auffassung einer Allianz verschiedener Künste und ihres Geistes wie keine andere zu passen scheint. Die Illustrationen, die das Auge unmittelbar beim Aufschlagen des stabilen Kartoneinbandes einfangen, träumen mit Kandinsky um die Wette. Linien, Kreise, Punkte und einige vage Gestalten lassen viel Platz für Fantasien zwischen den Zeilen.

In seinem Prosagedicht „Gehen“ nimmt Kandinsky uns mit auf die Reise durch eine Metamorphose. Ein „kleiner Knabe“ tritt aus einem „großen Haus“. Unter seinen Füßen wird ein „kleines Steinchen“ nach und nach zum Berg. Bald kann er keine Unterscheidung mehr über seine Verortung im Raum, über die Himmelsrichtungen, über „Erde“ und „Himmel“ an sich treffen. Da das physiologische Auge kapituliert, wendet sich der Knabe inwärts, sodass plötzlich intuitiv erkannt werden kann: „Glatt lag der Weg vor mir. […] Und ich wandte mich um. Das große Haus war nicht zu sehen.“ Die Verwandlung geschieht im Inneren. Hat sie sich vollzogen, ist automatisch auch die Außenwelt nicht länger dieselbe. Was passiert da im Knaben? – Die Antwort kommt in einem Satz: „Und ich erwachte.“ Die Steine verschwinden, glatt wird der Weg. Unsichtbar wird das Haus, aus dem er getreten ist. Er nimmt anders und anderes wahr und folgt einem geheimnisvollen, lautlosen Rufen. Offen bleibt, ob der Knabe in dieser Metamorphose zum Mann wird. Allerdings ist es nicht wirklich von Bedeutung, denn nach der Verwandlung gibt es niemanden mehr, der geht; es gibt nur „Gehen“. Schon der Titel weist über eine personelle Identifikation hinaus. Der Vorgang selbst wird zum Protagonisten.

In „Ohne Titel“ wird ein Stein im Weg zum Kyosaku. Wie ein Hieb trifft den denkenden Flaneur der harte Aufprall nach dem Sturz und mit ihm tritt blitzartig die Erkenntnis ein. Aus der Praxis des Zens ist die Stockschlag-Methode bekannt, mit der der Übende in gegenseitigem Einvernehmen mit seinem Meister in die gedankenlose Gegenwart katapultiert wird, sofern er durch Ablenkung oder Müdigkeit droht, abzuschweifen. Der Zen-Schüler wird durch einen Stockhieb zurück in einen Zustand reiner Aufmerksamkeit versetzt. In Kandinskys Prosagedicht verhält es sich ähnlich. Offensichtlich forscht das lyrische Ich im dunklen Nachthimmel nach einer Antwort von Gott. Da es still bleibt, beginnt es Selbstgespräche und findet scheinbar selbst Antworten auf seine Fragen: „endlich genaueste Auskunft“. Somit wächst in ihm sogar die „Überzeugung, dass [es] alles weiß.“ Der Sturz aber löst jäh die Eitelkeit des egozentrischen Denkens auf und gibt dem Flaneur Augen. Sein weiser Ratschlag lautet schließlich: „Willst du auch sehen? / Schön, dann fall’ auch du.“

Was hat nun Hinstürzen mit Hinsehen zu tun? Das zunächst unverständlich Erscheinende stoppt das Denken. Diesem gehen für ein paar Sekunden die Erklärungen aus. Es entsteht eine Denkpause. In dieser Lücke will Kandinsky nicht weniger als die assoziative Wirkung seines Prosagedichts verortet wissen. Aus der feinsten Empfindung heraus soll dessen Substanz und Ästhetik intuitiv erfahren werden. Kandinskys oftmals onomatopoetisches Vorgehen verstärkt den Effekt eines solchen Verfahrens zusätzlich: weg von einer rein intellektuellen Bedeutungsebene hin zu einer darüber hinausweisenden, assoziativ wahrnehmbaren Sinnebene. Kandinsky suggeriert, dass wir assoziativ viel empfindsamer, authentischer und tiefer erkennen können. Das intellektuelle Denken funktioniert hingegen nach Regeln des Verstandes. So sucht dieser automatisch nach Antworten, wenn ihm Fragen gestellt werden. Und er sucht so lange, bis ihn eine Antwort zufriedenstellt. Dabei bleibt es jedoch immer bei einer theoretischen Lösung, die zwar der Logik des Verstandes entspricht, sich jedoch nicht zwangsläufig als richtig (oder als falsch) erweisen muss. Der Sturz über den Stein löst schlagartig auf, was das Denken als Theorie bereits installiert hatte, und zwar indem die Instanz eines inneren Sehens hinzutritt. Kandinsky offeriert in seinen Zeilen eine intelligente, allumfassende Gesamtwahrnehmung, die unausgesprochen bleibt, sich jedoch im Kontrast zum dargestellten begrenzten Denken ergibt:

Es ist unklug, wenn alles klug ist. Da stimmt sicher etwas nicht.
Und wenn alles stimmt, ist es sicher unklug.
Viele Menschen stehen im Gehen.

Diese formelhafte kurze Wahrheit ist schlicht als „Basis“ benannt. Erneut wiederholen sich die Motive eines egozentrischen Denkens, das sich selbst durch sich selbst widerlegt, sowie des Gehens, das sich selbst durch seine tatsächliche Fortschrittslosigkeit zum Stillstand bringt. Einfach und einfallsreich verflechten die Prosagedichte Beobachtungen des Menschlichen, Allzumenschlichen mit einem variierenden Formenspiel. Ihre Authentizität bedarf eigentlich keiner Erklärung. Nachklingen und Nachspüren genügen. Darauf setzt Kandinsky. In der Malerei wie in den Gedichten sind Klang und Empfindung seine engsten Verbündeten. Wichtig ist: „Aber! Das Herz macht: g! g! g! g! g! g! g! g! g! g!“, und zwar „(ad libitum)“. Wort- und Klangspiel bereiten nicht nur fantasievoll Erkenntnis vor, sondern auch schlichtweg Vergnügen. Und manchmal reicht praktisch das Nichts, um mit lyrischen Zeilen das mystische Nirvana zu umkreisen:

Links oben in der Ecke ein Pünktchen.
Rechts unten in der Ecke ein Pünktchen.
Und in der Mitte gar nichts.
Und gar nichts ist viel. Sehr viel – jedenfalls
viel mehr als etwas.

„Das Geistige in der Kunst“ (1911), wie es Kandinsky in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat, bricht sich hierin Bahn. Die Buchstaben, Zeichen und Worte dienen der Materialisierung des Klanges, den der Künstler assoziativ und inwendig aus dem Formlosen, eben aus dem Nichts, vernimmt. Ganz in diesem Sinne bezeichnet der Titel das Gedicht mit „Leer“.

„Wenn die Religion, Wissenschaft und Moral […] gerüttelt werden, und wenn die äußeren Stützen zu fallen drohen, wendet der Mensch seinen Blick von der Äußerlichkeit ab und sich selbst zu.“ Dieser als „geistige Wendung“ bezeichnete Perspektivwechsel macht sich Kandinsky zufolge als erstes auf den Gebieten der verfeinerten Künste bemerkbar, also in Literatur, Musik und Kunst. Für die Literatur spricht er dem Wort eine „erste direkte“ und eine „zweite innere“ Bedeutung zu. Die direkte Bedeutung korreliert mit der semantischen Ebene. Die innere Bedeutung steht in Zusammenhang mit dem Wortklang. Dem Klang des Wortes schreibt er in der mehrfach erfolgenden Wiederholung die Fähigkeit zu, losgelöst von dem zunächst im Denken abstrahierten Gegenstand seines Inhaltes, eine „übersinnliche“ Wirkung in der Seele hervorrufen zu können, was er „Seelenerschütterung“ nennt. Auf diese Weise spricht die Dichtung zur Seele. Hierdurch wird klar, dass das Innere, Seelenhafte sich nur sekundär am Ausdruck der materiellen Form ablesen lässt. Primär muss man den Klang, die seelenerschütternde Wirkung, die der Künstler im Sinn hatte, erspüren. Somit dringt das innere Oszillieren durch den schöpferischen Akt ins Äußere und kann auf einer Art ähnlicher Frequenz empfangen werden.

In seinem Essay „Der Wert eines Werkes der konkreten Kunst“ (1938) zitiert Kandinsky einen Satz, den gewöhnlich seine Schüler zu hören bekamen und welcher die Wichtigkeit des inneren Klanges vor aller Form, also auch vor der Gedankenform, die zu analysieren und determinieren gewohnt ist, betont: „Denken Sie soviel Sie wollen und soviel Sie können – das ist eine schöne Gewohnheit! –, aber denken Sie nie vor Ihrer Staffelei.“ Umgekehrt kann diese Intention auch für den Betrachter der Bilder gelten. Um sich in eine neue, unbekannte Welt, nämlich in die des Künstlers zu begeben, ist der Intellekt mitunter hinderlich. Dies funktioniert vielmehr auf der Frequenz des seelischen Innenklanges: „Halten Sie Ihr Ohr hin zur Musik, öffnen Sie Ihr Auge für die Malerei. Und denken Sie nicht!“ Da Kandinsky von nur einer Wurzel für alle Künste ausgeht, können seine Ratschläge auch auf die Lyrik angewandt werden.

Immer ist bei der (abstrakten) Gestaltung die „innere Notwendigkeit“ der Antrieb. Dies ist das einzige, aber mehr als alles andere notwendige Prinzip zur Wahl und Verwendung des Ausdrucksmittels. Die Abstraktion in Malerei und Dichtung übernimmt die Funktion, den mystischen „Seher“ zu wecken und in der Formlosigkeit, im Klang und im Licht der Farben das Prinzip des göttlich Schöpfenden zu erkennen. Nur folgerichtig erscheint in diesem Zusammenhang Kandinskys Hervorhebung von Synästhesien: Der Klang erzeugt Farben und Formen für das ‚innere Ohr‘ und das ‚innere Auge‘. Dem liegt offenbar die Erfahrung zugrunde, dass der kreative Kosmos keine Trennung kennt. Insofern findet eine Spaltung in einzelne ästhetische Mittel, in Musik, Wort, Farbe und Form, vor allem durch einen intellektuellen Filterungsprozess statt. Das Aufspalten der einen Kreativität in (vermeintliche) Gegensätze und Kategorien fällt somit eindeutig nicht in den künstlerischen, sondern in den intellektuellen Bereich. Das Schöpfende kennt nur den einen Kanal der Inspiration und unendlich viele Wahlmöglichkeiten des Ausdrucks. Kandinsky forciert diese Vielfalt unter dem einen Auftrag: in seinem Werk der „inneren Notwendigkeit“ zu folgen. Darin verbergen sich der Auftrag zum authentisch Wesenhaften und die Hypothese, dass nur ein authentisches Wesen in seinem Werk die geschaute und erfahrene kreative Einheit des Kosmos wiedergeben kann: als reine Präsenz des Unsagbaren. Leser, Hörer, Bildbetrachter – sie alle erfahren durch die authentische Kunst in sich selbst Resonanz und stehen durch das verbindende Kunstwerk miteinander in Beziehung. In Kandinskys „Poesie“ klingt dies etwa so:

Die Blüten der Poesie sind überall verstreut.
Versuch’, sie zu einem immergrünen Kranz zu flechten.
Du bist gefesselt, trotzdem bleibst du frei.
Du bist allein, trotzdem bist du nicht einsam.

Die Edition ReVers bietet mit ihrem Kandinsky-Gedichtband die Möglichkeit, mit der Klangpoesie des Künstlers in einen alles verbindenden Kosmos einzutreten. Dabei erweist sich das ästhetische Formenspiel als Instrument, um die Seele in Schwingung zu versetzen. Assoziation und Gefühl werden zur Basis eines Verstehens, das durch innere Erkenntniskraft erfolgt und den Intellekt als Formenvermittler dienstbar macht. Mit diesem kleinen Buch auf eine innere Reise zu gehen, kann bedeuten, sich ganz an den Klang zu verlieren und dabei etwas unsagbar Schönes zu finden.

Titelbild

Wassily Kandinsky: Vergessenes Oval. Gedichte aus dem Nachlass.
Herausgegeben von Alexander Graeff und Alexander Filyuta.
Übersetzungen aus dem Russischen von Alexander Filyuta.
Verlagshaus Berlin, Berlin 2016.
99 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783945832226

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch