Der größte Theologe des Jahrhunderts
Christiane Tietz schreibt die Biografie Karl Barths als „Leben im Widerspruch“
Von Paul Geck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer war Karl Barth? Die Frage dürfte wohl bei den Allermeisten auf ein ahnungsloses Achselzucken treffen. Lassen wir stattdessen die Romanfiguren antworten: „Der größte Theologe des 20. Jahrhunderts“, meint die Theologieprofessorin Maja Schneilin in Martin Walsers Roman Das dreizehnte Kapitel (2013). „In einer Reihe mit Augustinus, Luther und Calvin“, so ihr Schöpfer höchstpersönlich – in Walsers Essay Über Rechtfertigung, eine Versuchung (2014). Karl Barth lebt in der Literatur weiter. Warum gerade er? Was für ein Theologe, was für ein Mensch war Barth, dass sich eine weitere Romanfigur, nämlich der alternde Pfarrer John Ames in Marilynne Robinsons Roman Gilead (2004), auf seinem Totenbett ausgerechnet an einer Ausgabe von Barths Erstlingswerk, dem Römerbrief-Kommentar, festhalten will?
Diesem für einen modernen Theologen erstaunlichen literarischen Nachhall geht Christiane Tietz, die in Zürich evangelische Theologie lehrt, in ihrer neuen Barth-Biografie nicht nach. Barth selbst noch einmal auf das Podest zu heben, steht ihr ebenfalls fern, auch wenn sie sich im Gegensatz zum Großteil heutiger protestantischer Theologinnen und Theologen durchaus in seinem Gefolge sieht. Anders als in den ersten Jahrzehnten nach Barths Tod gehört dessen theologischer Ansatz nicht mehr zum Mainstream. Aus jener früheren Zeit stammt auch die bisher einzige deutschsprachige Biografie, verfasst vom letzten Assistenten Barths, Eberhard Busch.
Im Vergleich zu Buschs betont neutral betiteltem Lebenslauf Barths nähert sich Tietz dem Schweizer mit Blick auf die grundlegende Ambivalenz eines Lebens im Widerspruch. Dieser Untertitel ist ganz hervorragend gewählt und verweist auf zwei hochinteressante Themenkomplexe im Leben Barths, die neben der chronologischen Darstellung der biografischen und theologischen Entwicklung im Vordergrund von Tietzʼ Buch stehen: sein politisches Engagement, oder besser sein politischer Widerstand, sowie die außergewöhnliche familiäre Beziehungskonstellation, in der Barth lebte.
Ein scharfer Widerspruch war bereits der erste Tritt an die Öffentlichkeit des jungen Pfarrers 1919 mit dem bereits erwähnten Kommentar des biblischen Römerbriefs. Es handelte sich dabei nicht um eine fachwissenschaftliche Exegese der Theologie des Apostels Paulus, sondern um eine Programmschrift. In expressionistischer, mit scharfen Paradoxien operierender Sprache blies Barth seinen Protest gegen eine Theologie und Kirche heraus, die sich ab 1914 dazu habe verführen lassen, dem Krieg zu huldigen. Um Gott, den ganz Anderen müsse es der Theologie gehen, sie könne und solle nicht bloß vom Menschen „in einem höheren Ton“ reden. Von Beginn an forderte Barth eine Theologie, die sich in der Realität der Welt bewährt, ihre Eigenständigkeit bewahrt und sich zu niemandes Dienstmagd machen lässt – schon gar nicht zu politischen Zwecken. Das „Dritte Reich“ erwies sich in späteren Jahren als Probe aufs Exempel des kompromisslosen Anspruches. Barth war mittlerweile nach Stationen in Göttingen und Münster Professor in Bonn geworden. Weil er sich weigerte, den Eid auf Hitler zu schwören, verlor er seinen Lehrstuhl. Er ging zurück in seine Geburtsstadt Basel, wo er bis zu seinem Tod blieb. Schon sehr früh warnte er in seinen Schriften vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Die Versuche von Christen, völkisches Denken mit dem christlichen Glauben zu vermengen, riefen seinen scharfen Widerspruch hervor. Hier wurde Barths offenbarungstheologischer Ansatz konkret: Gott lasse sich allein in seiner Selbstoffenbarung in Jesus Christus erkennen. An ihr müsse sich alles Reden über Gott messen lassen, und dies schließe die Berufung auf die „historische Stunde“ des Volkes, auf Rasse, Vaterland und Führer aus. Dass Barth angesichts des Kampfes gegen die Vereinnahmung der Kirche durch die Nazis nicht ebenso laut das Unrecht gegenüber den Juden anprangerte, machte er sich später zum Vorwurf. Dennoch: Barth ist das beste Beispiel gegenüber der weit verbreiteten Meinung, die Kirchen hätten den Nazis nichts entgegenzusetzen gehabt. Dass Hitler die Gleichschaltung der evangelischen Kirche letztlich nicht gelang, dafür war Barth und seine Theologie mitverantwortlich.
Umstrittener dürfte der ganz persönliche Widerspruch sein, der Barths privates Umfeld beherrschte: Über mehrere Jahrzehnte lebte Barth in einer Dreiecksbeziehung mit seiner Frau Nelly und seiner Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum. Von Kirschbaum, die Barths theologisches Arbeiten maßgeblich mit trug, lebte mit Barths Familie in einem Haus. Barths Ehefrau lehnte eine Scheidung ab, auch wenn sie unsäglich unter der Situation litt. Die Spannungen, denen sich Barth, seine Familie und seine Geliebte aussetzten, waren dem Theologen wohl bewusst. Er versuchte sie nicht theologisch zu rechtfertigen, sondern erkannte sie als Schuld an – und wusste doch keinen anderen Ausweg, als in dieser besonderen „Notgemeinschaft“ gemeinsam zu leben.
Besonders dieser Teil der Biografie lebt von Tietzʼ nüchterner, abgewogener Sprache. Die private Situation Barths wird nicht unnötig in grelle Farben gesetzt, über sie – für eine Biografin ein durchaus ergiebiger „Skandal“ – wird gesagt, was aufgrund neuerer Veröffentlichungen von Briefen Barths und von Kirschbaum gesagt werden kann, nicht mehr.
Sehr gut gelungen ist in der Biografie das Kapitel, in dem präzise und klar verständlich in die theologischen Grundgedanken von Barths Hauptwerk, der Kirchlichen Dogmatik, eingeführt wird. Es verweist auf den Ausgangs- und Zielpunkt des gesamten Buches: Das theologische Werk Barths, das auch nach 50 Jahren noch nicht überholt ist, geschweige denn ausgeschöpft. Es ist dieses Werk, das für Barths literarisches Nachleben gesorgt hat, mehr noch als seine fleißige, kämpferische und widersprüchliche Biografie. Dass Barth gelesen wird, dass die scharfe Berglandschaft seiner Sprache, die Länge seiner Sätze und die ausschweifende, nach Klarheit tastenden Gedankengänge nicht unter der Staubschicht von einem halben Jahrhundert verschwinden, darum geht es auch Christiane Tietz. Ihre Biografie wird dafür einen ganz wertvollen Beitrag leisten.
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