Karl May in der Fassung letzter Hand

Der erste Band des ›Silberlöwen‹ in historisch-kritischer Gestalt

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Karl May uns in den Orient entführt, dann begegnen wir dort einer Spezies, die Hermann Hesse einst als „Kindermenschen“ bezeichnet hat. Sie sind, wie Hadschi Halef Omar, oft von kleiner Gestalt, heißblütig und unbesonnen in ihrem Tatendrang. Es entspricht ihrer Anthropologie, dass ihre Erkenntniswege überlang ausfallen, dass sie bis ins hohe Alter hinein dieselben Dummheiten begehen und aus Fehlern kaum lernen. Wenig einsichtsvoll und blind für das Offensichtliche sind sie auch in Bezug auf die Geschlechterrollen, und sie sind – vor allem – unsensibel für die natürliche Überlegenheit der Frau. Dafür ein Beispiel:

Die vielleicht bedeutendste emanzipatorische Erzählung Karl Mays stammt aus seinem Manuskript-Konvolut zum ›Silberlöwen‹. Es geht darin um die Pein einer Frau, der heimlichen Herrscherin über einen Beduinenstamm: Hanneh hadert mit der Lehre des Koran, der zufolge nur der Mann eine Seele habe, wohingegen die Frau ein leeres Gefäß sei, ohne Inhalt, „bloß für den Mann geboren“.

Sie befragt Kara Ben Nemsi, den orientalischen Old Shatterhand, wie es sein könne, dass Allah die Frauen auf ewig aus seinem Himmelreich verbannt habe. Dieser antwortet als Christ, für den der Islam eine Irrlehre ist. Er verweist auf die Jungfrau Maria, „die seligste der Frauen“, die im Himmel throne. Er erlöst Hanneh aus ihrer Seelenqual und bekehrt sie – die schon heimlich Überzeugte – zum Christentum.

Mays Reiseroman Im Reiche des silbernen Löwen reiht sich umstandslos in die lange Phalanx der Bildungsromane ein, die teils glückende, oftmals aber auch scheiternde Bildungswege erzählen, wobei unter „Bildung“ nicht etwa „klassische“ oder „humanistische“ Bildung zu verstehen ist, sondern eine umfassende „Ausbildung“ der Person – ihre Herzensbildung, ihre Gesittung, ihr Liebesvermögen, ihr Verantwortungsbewusstsein betreffend. Maßstab für Bildung in diesem elementaren Verständnis ist das Erkenntnisvermögen, ist das Maß, das man mittels persönlichen Einblicks in die Strukturen der Welt gewinnen kann. Am weitesten kommt Hanneh, die heimliche Stammesfürstin der Schammar-Beduinen, die nicht nur ihr eigenes Lebensglück in die Hand zu nehmen weiß, sondern auch das ihrer Untertanen, die als Vaganten schwer zu bändigen sind. Da sie auch die falsche Religion haben – nur das Christentum führt zur wahren Gotteserkenntnis –, bleiben sie, bis ins hohe Alter hinein, unmündig, und zwar nicht nur als Individuen, sondern auch als Repräsentanten einer Kultur: Der Orient als „Wiege der Menschheit“ (Herder) bleibt auch ihre Kinderstube.

Das Religionsgespräch ist für Mays Œuvre existenziell, und gerade im Spätwerk nimmt es breitesten Raum ein. Er löst damit auch die tradierten Geschlechterrollen aus ihrer starren Konvention, indem er Frauenfiguren von politischem und sozialem Einfluss erschafft. Neben Hanneh sind dies etwa Marah Durimeh oder Prinzessin Emineh als Idealisierung eines realen Vorbildes. Im weiteren Verlauf des ›Silberlöwen‹ gibt Kara Ben Nemsi zu erkennen, dass er endlich (!) ebenfalls eine Herzensdame namens Dschanneh („Seele“) gefunden habe, was hier als „eine Art geistige Weggefährtin“ gedeutet wird: Karl May lebte damals in Scheidung von seiner ersten Ehefrau Emma Polmer, mit der er sich einen Rosenkrieg lieferte.

Erzählt wird dies, wie immer bei Karl May, nicht abstrakt, sondern am konkreten, dynamischen, handlungsintensiven Beispiel. Diese Lehre vom ewigen Kindermenschen wird nirgendwo theoretisch hergeleitet, sondern blumig und farbig ausfabuliert. Etwa in Gestalt eines hochbetagten ehemaligen Offiziers, der durch politische Wirren seine Frau und seine Kinder verloren hat und wie ein trotziges Kind mit Gott hadert. Erst als er sich einem Deutschen anvertraut, einem gläubigen Christen und damit einem erwachsenen Menschenkind, wendet sich sein bitteres Schicksal. Dieser Deutsche ähnelt einem Sendboten Gottes: Er bringt Licht ins Dunkel verworrener Schicksalswege und führt das verlorene Geschöpf dem Schöpfer wieder zu. Man lese es nach oder konsultiere die Karl-May-Wiki(pedia): es ist hier nicht der Ort, die Fabel umständlich herzubeten.

Der missionarische Impetus, bei May immer schon zu beobachten, nimmt im Übergang zum Spätwerk an Fahrt auf. Es ist überhaupt fruchtbar, sich mit ihm zu beschäftigen, da seine Dialogromane ihre Ideologie, zugleich das Denksystem ihrer Zeit, auf der Zunge tragen und das Religionsgespräch breiten Raum in ihnen einnimmt. Das Wortgefecht, dieser Ort weltanschaulicher Kämpfe, hat einen weit höheren Stellenwert als die zahllosen Waffengänge, die ebenfalls zu beobachten sind.

Von jeher fällt auf, dass viele Wortgefechte (ebenso wie manche Kampfhandlungen) mit Komik und Witz inszeniert werden, dergestalt, dass die Kontrahenten mit der Sprache und ihren Eigentümlichkeiten ringen. Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi (die beiden Stellvertreter Mays im Œuvre) eignen sich viele Sprachen und Dialekte an, um mit den Stämmen und Nationen auf Augenhöhe kommunizieren und sie mit List schlagen zu können. Viele andere Völker, darunter Franzosen, Perser, Araber und Türken, deren Schicksale uns mitgeteilt werden, erweisen sich teils als sprachbemüht und sprachbegabt, bleiben dem Deutschen jedoch unterlegen. Andere wiederum scheitern überhaupt daran, sich ein fremdes Idiom zu erwerben. Das geht etwa den schrulligen Engländern so, die gewohnt sind, mit ihrem heimischen Passepartout überall durchzukommen.

Der Aspekt der mündlichen Kommunikation ist für dieses Œuvre überhaupt elementar, da Karl May durchgängig vom „Clash of Civilizations“ (Samuel P. Huntington) erzählt, der mit Sprachbarrieren einhergeht, die überwunden werden müssen. Oft kommt es dabei zu Kommunikationsstörungen, die der Autor für die Schürzung und Lösung von Konflikten nutzt. Die allermeisten Gefechte in seinem Werk sind daher Wortgefechte und werden weitgehend gewaltlos ausgetragen. Gleichwohl gehören die sprachlichen Kränkungen und wortreichen Invektiven, aber auch die verbale List, die Nötigung und die Überredungskunst zu seinem Repertoire. Die positiv konnotierten Protagonisten in seinem Œuvre tendieren mehr und mehr zu gütlichen, auf der Basis von Verhandlungen herbeigeführten Lösungen, und so ist es kein Zufall, dass Bertha von Suttner, die große Pazifistin, 1912 einem Vortrag Karl Mays in Wien fasziniert lauschte. In der reich entfalteten Forschung sind diese Phänomene allbekannt (die Jahrbücher der Karl-May-Gesellschaft künden davon), nur öffentlichkeitswirksam sind sie nicht.

Da sich Mays Kindermenschen häufig an ihre Leidenschaften verlieren, ist es mit ihrer Einsicht, mit ihrer Erkenntnisfähigkeit nicht weit her. Und da sie meist nicht auf Augenhöhe zu lieben vermögen, oft weder lieben noch wiedergeliebt werden, scheitern sie an den Aufgaben, die ihnen ihre Realität stellt. Denn erst die Liebe befähigt dazu, sich im Leben zu bewähren. Kindermenschen, Orientalen zumal, bleiben auf ewig Kinder. Von Blindheit für ihre eigenen Lebensumstände geschlagen, sind sie zeitlebens unglücklich.

Der Roman lässt sich als Brückenschlag zwischen der „Winnetou“-Trilogie im Wilden Westen und dem Orientzyklus im Nahen Osten interpretieren. Der erste Satz des ersten Bandes gilt denn auch dem ehrenden Angedenken des geliebten „Blutsbruders“: „Wohl die meisten meiner Leser kennen Winnetou, den Häuptling der Apatschen, den edelsten Indianer, den besten und treusten Freund, den ich gehabt habe; sie wissen jedenfalls auch, daß und wie er gestorben ist.“ Wem das Wort „Indianer“ hier Stirnrunzeln verursacht, dem sei entgegengehalten, dass wir unserem Autor ein ebenso differenziertes wie modernes wie positiv-emphatisches Bild des amerikanischen Ureinwohners verdanken: Niemand hat die „Rote Nation“ so idealisiert wie er, niemand ist so wortmächtig für ihre Rechte eingetreten wie Karl May.

Der Erzähleingang des Romans, das Dschafar-Abenteuer, benannt nach einem persischen Prinzen, führt in den Südwesten Nordamerikas und ins Feindesland der Comanchen. Deren Häuptling To-kei-chun, von Old Shatterhand mehrfach besiegt und wiederholt freigelassen, wird uns im vierten Winnetou-Band aus dem Alterswerk (Winnetous Erben) zum großen Showdown wiederbegegnen: Er kann als Inkarnation der oben erwähnten Unbesonnenheit gelten.

Das dritte Kapitel birgt ein Reiseabenteuer mit Hadschi Halef Omar, der inzwischen geheiratet hat und Stammesfürst geworden ist. Unter der Kuratel seiner Ehefrau führt er ein reduziertes, sujetloses Leben ohne Abenteuer und ist froh, mit Kara Ben Nemsi wieder „auf fremden Pfaden“ lustwandeln zu dürfen. Die Aventure führt auf biblisches Terrain („Am Euphrat“), denn die Ruinen von Babylon sind Niederlage einer Schmugglerbande geworden. Karl, Sohn der Deutschen (denn das bedeutet „Kara Ben Nemsi“), will sie ausheben, selbst wenn er dazu den „gewaltigen Birs Nimrud“, den baufälligen Turm von Babel, der Erde „gleichmachen“ muss. Diese leicht größenwahnsinnige Fabel wird durch allerlei Nebenhandlungen mäandernd weitergeführt, ehe die ursprünglich anvisierten Fortsetzungsszenarien zwischendurch zum Erliegen kommen und – Jahre später – aufgrund Mays innerer Wandlung eine überraschende Wendung nehmen.

Nicht nur werkgeschichtlich, sondern auch literarhistorisch vollzieht sich im Fortgang der Tetralogie ein Übergang vom Abenteuerroman zum Symbolismus des Spätwerks, wie hier im editorischen Bericht von Bandbearbeiter Joachim Biermann deutlich wird. Der vierbändige Roman Im Reiche des silbernen Löwen demonstriert aufgrund seiner langen, zehnjährigen Entstehungszeit den Übergang vom handlungsintensiven Abenteuerroman zum kulturkritischen Traktat.

Der Episodenroman, der im Okzident beginnt und im Orient seinen weiteren Verlauf nimmt, indem er partiell auch an den Band Von Bagdad nach Stambul anschließt, erzählt – teils im Stile einer Burleske, Groteske oder Posse – von derb-komischen Gestalten. Eine davon ist Kepek Bei, ein gargantuesker Diener eines polnischen Offiziers, dem die Adipositas die Gestalt eines „menschlichen Thranfasses“ verliehen hat: „Diese Taille, diese Taille! Indem ich daran dachte, ihn später einmal beschreiben zu müssen, wollte mir angst und bange werden.“

Eine geniale Formulierung, denn die Beschreibung ist bereits in vollem Gange und wird in der Folge genüsslich ausgeweitet. Karl-May-Leser wissen: Ihr Autor ist ein großer Humorist, der auf die Darstellung der Physiognomie und Pathognomie seines Personals viel Sorgfalt verwendet und es an Spott und Klischee niemals fehlen lässt. Politisch korrekt ist es freilich nicht, wenn der curvy Effendi hier so rücksichtslos vorgeführt wird, auch onomastisch (denn Kepek heißt „Kleie“). Im Zuge ausgleichender Gerechtigkeit wird ihm jedoch attestiert, dass er „ein lieber, guter Kerl“ gewesen sei: „sein Gesicht strahlte geradezu von Dienstwilligkeit.“ Kepek bekommt in der Folge eine heldenhafte Tat angedichtet, die sein Ansehen beim Leser nochmals hebt. Er hat nämlich seinen Herrn, den vorerwähnten Offizier, einst aus höchster Gefahr gerettet. Auch dieser türkische Offizier polnischer Herkunft bekommt eine spannende Lebensgeschichte auf den alten, dünnen, schwachen, zitternden Leib geschneidert (May liebt die Kontraste), die das seltsame Verhältnis von Herr und Knecht plausibel erscheinen lässt: Man begreift, warum Dozorca „seinen Diener, dem er unterthänig“ ist, so „nachsichtig“ behandelt.

Der „sächsische Homer“ hatte täglich (eigentlich nächtens) ein großes Arbeitspensum zu bewältigen, es sollte ihm schnell von der Hand gehen, und so formulierte er bisweilen nicht eben elegant: „Ich mußte mich in dem Schatten halten, welchen die beiden Indianer nach meiner Richtung warfen.“ Aber schon sein nächster Satz ist makellos: „Auch in der Person dessen, den ich befreien wollte, lag eine Gefahr für mich.“

Die Licht- und Schattenseiten seines Stils werden dadurch abgemildert oder verschärft, je nach Perspektive, dass er seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert Patina angesetzt hat, was man als Manko oder als Bereicherung werten mag. Eine Bereicherung ist es, wenn man sich an blumigen Formulierungen ergötzt, die der Hakawati („öffentliche Erzähler“) so lustvoll dem orientalischen Sujet anzupassen versteht, sei es im Hinblick auf die Onomastik (die „sprechenden Namen“), sei es im Hinblick auf die originelle Wortbildung („Sekundärbahnlokomotive“), sei es mit Rücksicht auf individuelle sprachliche Macken, mittels deren er seine Figuren markiert.

Während andere Verlage dazu übergehen, ihre Jugendbuchklassiker zu revidieren und heutigen Erwartungen anzupassen, meist mit fragwürdigem Ergebnis, geht der Karl-May-Verlag mit seiner Historisch-kritischen Ausgabe den umgekehrten Weg der Wiederherstellung der authentischen Textgestalt. Dies trägt zum einen zur Emanzipation des Lesers bei und zeitigt zum anderen ungewöhnlich schöne, sorgfältig erarbeitete und vor allem zuverlässige Textausgaben mit wertvollen Annotationen. Arno Schmidt, der schärfste Kritiker ›bereinigter‹ Editionspraxis, wäre begeistert, und einer seiner Schüler, Hans Wollschläger, hat diese Neuedition des ursprünglichen Karl May ja auch mit angestoßen. Der historische Sprachstand gebiert zahlreiche Formulierungen, die uns heute befremden mögen („Ich will es nicht verreden“), die jedoch nicht falsch sind, und ein Blick in ältere Grammatiken oder Wörterbücher bestätigt in der Regel die Legitimität seiner sprachlichen Lösungen als gängige Praxis. Getragen wird diese Historisch-kritische Ausgabe, die ohne Förderung aus Stiftungsmitteln auskommen muss, von den vielen engagierten Lesern, die dieser Autor immer noch bindet, wenngleich in zunehmend schwächerem Maße: Die notorischen Karl-May-Leser sterben aus, auch wenn sie ewig Kinder bleiben.

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Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen. Erster Band. Hg. von Gunnar Sperveslage und Joachim Biermann.
(Karl Mays Werke. Historisch-Kritische Ausgabe für die Karl-May-Stiftung. Bd. IV.22).
Karl-May-Verlag, Bamberg, Radebeul 2024.
570 Seiten , 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783780220776

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