Drehbuch für einen Mord

„Krokodilwächter“ der dänischen Autorin Katrine Engberg ist der Auftakt zu einer Serie von Kopenhagen-Thrillern und macht das Schreiben von Kriminalromanen zum Thema

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lektüre jedes Kriminalromans wird von einem Paradox bestimmt: Der wohlige Schauder beim Lesen exklusiver Grausamkeiten steht in Kontrast zur Sicherheit, in der sich der Leser selbst wiegt. Die detailliert beschriebenen Morde sind der Phantasie des Autors oder der Autorin entsprungen. Auch wenn die Schweiz kürzlich darum rang, die Beweggründe des Mörders von Rupperswil zu verstehen, besteht für Leser keine reale Gefahr. Ausnahmegestalten wie den 34-jährigen Schweizer oder Jack the Ripper gibt es nur selten, und die Unmengen an ausgefeilten Morden, mit denen wir in Literatur, Hörfunk und Fernsehen konfrontiert werden, haben mit der meist banalen Realität von Verbrechen glücklicherweise kaum etwas gemein.

Und so ist es ein interessantes Gedankenspiel, das die dänische Autorin Katrine Engberg in ihrem 2016 erschienenen Debütroman anstellt: Was, wenn ein Kriminalroman als Vorlage für einen Mord genutzt wird und der Mörder das Manuskript quasi als Drehbuch für seine Handlungen missbraucht? Dieses Setting bildet den Ausgangspunkt für den Roman Krokodilwächter: Eine junge Frau wird in ihrer Wohnung grausam ermordet. Der Täter hat in ihrem Gesicht eine Zeichnung hinterlassen, die den Tattoos auf dem Körper der Studentin eine weitere Inschrift hinzufügt.

Nachgebildet ist der Mord allerdings einer Erzählung, die gerade erst im Entstehen ist und somit einen recht überschaubaren Leserkreis hat. Lediglich die ersten Kapitel sind fertiggestellt und die Verfasserin ist keine renommierte Erzählerin, sondern vielmehr der Albtraum jedes Lektors: Esther de Laurenti ist emeritierte Professorin, die den Frust über ihr Alter in Rotwein ertränkt. In der freundschaftlichen Beziehung zu ihrem jugendlichen Gesangslehrer lebt sie ihre mütterlichen Gefühle aus. Ihre Einsamkeit sollen zwei kleine Möpse mit den aus der griechischen Mythologie entlehnten Namen Epistéme und Dóxa mildern. Auch wenn die Hundenamen gedankliche Tiefe suggerieren, geht es der fiktiven Autorin aber nicht um existentielle Fragen oder das Zusammenspiel von subjektiver Wahrnehmung und Erkenntnis, wenn sie ihren als sinnlos empfunden Alltag mit der Arbeit an ihrem ersten fiktionalen Buch bekämpft. Frei nach dem Motto, einen Krimi kann jeder schreiben, der etwas Lebenserfahrung und Feinde hat, lässt sie ihr Umfeld in ihrer Phantasie zum Schauplatz einer schrecklichen Tragödie werden: Mehr oder weniger verschlüsselt wird ihre jugendlich unbeschwerte Untermieterin zum Opfer eines brutalen Mordes.

Die bereits vollendeten ersten drei Kapitel des Manuskripts werden in den Beginn der Romanhandlung eingebunden. So changiert die Figur des Mordopfers zwischen den wenig kunstvollen Beschreibungen von Esther de Laurenti aus dem Manuskript und den Informationen, die die Ermittler zusammentragen. Die Schwäche der Hobbykriminalistin im wiedergegebenen Manuskript lässt auch den unkritischen Leser die sprachliche Finesse in der Erzählweise der debütierenden Autorin Engberg leicht erkennen.

Eine Stärke von Engbergs Erzählstil liegt in der präzisen Beschreibung ihrer Figuren und der gekonnten Kombination von Perspektivwechseln. Bereits der Erzählbeginn stellt die Sichtweisen der Hausbewohner gegenüber und zeigt die ermittelnden Kommissare im schonungslosen Blick der ahnungslosen, aus dem Schlaf gerissenen Autorin:

Auf dem Treppenabsatz standen ein Mann und eine Frau, die Esther nicht kannte. Allerdings hatte sie ihre Brille nicht auf, und im Übrigen fiel es ihr schwer, sich an die vielen hundert Studenten zu erinnern, die sie im Laufe der Jahre in ihren Unterrichtsräumen in der Njalsgade unterrichtet hatte Trotzdem war sie sich ziemlich sicher, dass diese beiden Personen keine ehemaligen Studenten waren. Akademiker sahen selten so entschlossen aus wie die beiden. Die Frau war großgewachsen und breitschultrig, trug einen etwas zu kleinen Nylonblazer und hatte die schmalen Lippen pink nachgezogen. Das Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und die Haut sah solariumversehrt aus. Der Mann war schlank und hatte strohblondes Haar. Wäre er nicht so blass und fahl gewesen, hätte sie ihn möglicherweise als attraktiv bezeichnet. Mormonen? Zeugen Jehovas?

Zugleich ist in der narrativen Erschließung der Welt aus unterschiedlichen Perspektiven auch ein wichtiges Thema des Romans angesprochen. Wie die ehemalige Professorin die junge Untermieterin wahrnimmt, welche Persönlichkeitsmerkmale in ihre Erzählung einfließen und die Fakten, die die Polizisten über das Leben der Studentin zusammentragen –diese Facetten zeigen, wie unterschiedlich Menschen wahrgenommen werden und wie wenig zuverlässig Zeugenaussagen und Erinnerungen für die Polizeiarbeit sind. Trotz der präzisen Auslotung der Konsequenzen des Subjektivismus gelingt es Engberg nicht, das Potential für einen Metaroman, der die Bedingungen und Möglichkeiten des Genres diskutiert, zu nutzen. Die Krokodilwächter ist vielmehr ein solide erzählter Kriminalroman, der verschiedene Fährten legt und diese am Ende plausibel zusammenführt.

Bereits die Skizze der fiktiven Krimiautorin, deren Schilderung zu Beginn des Romans viel Raum einnimmt, macht deutlich, dass Engberg in erster Linie ein anderes Thema verfolgt: Die Frage nach der Wirkmächtigkeit der Literatur verschleiert, dass der Roman um die Frage kreist, was Menschen verbindet. Die alternde Autorin, die ihr einziges Kind als Jugendliche zur Adoption frei gab, ist genauso einsam wie ihr betagter Mieter Gregers, dessen erwachsene Kinder den Kontakt abgebrochen haben. Auch der Vater der ermordeten Julie ist für die Ermittler schwer zu durchschauen. Er ist vom Schmerz über den Verlust seines einzigen Kindes überwältigt, hatte aber eine sehr distanzierte Beziehung zu seiner selbstbewussten Tochter. Diese hat den frühen Tod ihrer Mutter nicht überwunden. In der Sekretärin, die der Vater bald nach dem Tod seiner ersten Frau geheiratet hat, konnte Julie keine Ersatzmutter finden.

Schuld und das Gefühl der Machtlosigkeit kennzeichnen viele Figuren im Roman. Die Liebe zwischen Eltern und Kindern wird dabei ebenso diskutiert wie die zwischen Mann und Frau. Gezeichnet wird eine Welt, die von Abhängigkeiten und Lieblosigkeit gekennzeichnet ist. Diese wird in der Beziehung der alternden Debütantin zu ihrem ‚Opfer‘ ebenso offensichtlich wie in der Figur des ermittelnden Kriminalbeamten. Jeppe Kørner wurde vor einem Jahr von seiner Frau verlassen. Frustriert ob ihres unerfüllten Kinderwunsches und seiner Zeugungsunfähigkeit wandte sie sich einem Geschlechtspartner zu, von dem sie sich die Zeugung des ersehnten Nachwuchses erhoffte. Kørner blieb alleine in der von ihr gestalteten Familienwohnung zurück. Auch nach über einem Jahr verbringt er seine Nächte auf dem Sofa, weil er die Leere des Ehebetts nicht aushält. Die Rückenschmerzen, die ihn quälen, sind aber mehr als nur Ausdruck seiner ungeeigneten Schlafstätte, sie sind zugleich Symbol für seine Unfähigkeit, sein unverschuldetes, körperliches Versagen und die damit einhergehende Ablehnung seiner Person zu akzeptieren. Zwar versucht die Autorin, den Erzählstrang um ihren leitenden (und leidenden) Kommissar mit der Mordermittlung zu verquicken, wirklich überzeugen kann sie damit aber nicht.

In Dänemark gelang der Autorin Karine Engberg mit ihrem Erstling der Sprung an die Spitze der Bestsellerliste und auf die Shortlist zweier Literaturpreise. Obwohl der Roman geschickt verschiedene Strategien zur Spannungserzeugung verbindet und für den Leser verschiedene Fährten zur Lösung des Rätsels auslegt, ist er kein Pageturner. Lange bleibt das Motiv des Mordes wie das Thema des Romans in der Schwebe. Vielmehr scheint das Versagen von de Laurenti und Kørner im Fokus der Erzählung zu stehen. Die Erklärung, die die Autorin am Ende für die Morde bietet, ist zwar überzeugend konstruiert, beantwortet aber bei weitem nicht alle Fragen, die sich dem Leser stellen.

Der Diogenes Verlag veröffentlicht den von Ulrich Sonnenberg aus dem Dänischen übersetzten Roman mit dem Untertitel Ein Kopenhagen-Thriller. Nun hat auch die dänische Hauptstadt ihr eigenes Ermittlerteam. Aufgrund der Sorgfalt, mit der Katrine Engberg dieses entwickelt, und der Fragen, die am Ende offen bleiben, deutet sich die Fortsetzung bereits an. Mit Blodmåne und Glasvinge sind in Dänemark bereits zwei weitere Kopenhagen-Thriller erschienen. Dass Engberg erzählen kann, hat sie unter Beweis gestellt. So dürfen die Leser in Deutschland ohne Dänischkenntnisse bis zur nächsten Übersetzung gespannt sein, wie sich die Kommissare Jeppe Kørner und seine pures Glück ausstrahlende Kollegin Anette Werner weiterentwickeln werden.

Titelbild

Katrine Engberg: Krokodilwächter. Ein Kopenhagen-Thriller.
Übersetzt aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
506 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070286

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