Viel Feind‘, viel Ehr‘?

Jürgen Kaube rechnet mit Schule und Schulpolitik, Pädagogik und Bildungsforschung ab

Von Wulf HopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Hopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jürgen Kaube, Mitherausgeber der FAZ und ehemaliger stellvertretender Leiter des Feuilletons dieser Zeitung, hat sich in der Vergangenheit häufiger durch Aufsätze und Zeitungsartikel zu Fragen der Wissenschaft, Hochschule und Bildung zu Wort gemeldet. Ein Sammelband seiner Aufsätze aus dem Jahr 2015 wurde von Bernd Blaschke in literaturkritik.de besprochen. Jetzt hat Kaube eine Monographie zum beklagenswerten Zustand der Schule, zu ihren verfehlten Reformen und zu einem eigenen Reformvorschlag vorgelegt. Das Buch stellt eine Streitschrift dar. Es ist im Ton weitgehend polemisch gehalten, d.h. der Autor übertreibt, polarisiert und baut Gegenpositionen zu seinem Standpunkt auf, die mit Logik und gesundem Menschenverstand scheinbar leicht zu widerlegen sind. Aber durchweg bemüht er sich auch um eine empirisch-wissenschaftliche Untermauerung seiner Einschätzungen. Die kapitelweise aufgeführte Literatur am Ende des Buches ist nicht alphabetisch geordnet, sondern folgt der Argumentation des Autors im jeweiligen Kapitel. So kann man im Groben nachvollziehen, auf welche Texte er sich in seinen Ausführungen bezieht.

Das Buch ist in 14 Kapitel gegliedert, die eine bestimmte Abfolge der Argumentation in vier großen Schritten erkennen lassen: In den ersten drei Kapiteln geht es um die gesellschaftliche und politische „Überforderung“ der Schulen, die in folgenden Kapitelüberschriften zum Ausdruck kommt: Was die Schule angeblich können soll: alles; Was die Schule vergeblich versucht: gesellschaftliche Zukunft zu sichern; Was von der Schule vergeblich verlangt wird: sozialer Aufstieg für alle.

Kaube setzt diesen in seinen Augen utopischen Überforderungen sein eigenes Konzept von realistischer Beschränkung auf das Wesentliche entgegen, die er in einem zweiten Teil in vier weiteren Kapiteln abhandelt: Was die Schule kann: Denken lehren; Was die Schule muss: Lesen, Schreiben, Rechnen unterrichten; Der Sinn von Prüfungen und Die Freiheiten des Unterrichts.

Im dritten größeren Abschnitt aus drei Kapiteln nimmt Kaube die Kritik an der aus gesellschaftspolitischen Zielsetzungen resultierenden Überforderung wieder auf und wendet sie jetzt gegen „Phantasien“, von denen die Schule zu „befreien“ ist: von „Digitalisierungsphantasien“, von „Lehrillusionen“ und von „Zentralismus“.

Es folgt ein kurzes sozialgeschichtliches Zwischenspiel über Veränderungen in Familie, Kindheit und Jugend, die auch für die Schule von Bedeutung sind (11. Kap.: Schüler sind Kinder, Kinder sind Schüler). Im letzten, vierten Teil setzt Kaube seinen Entwurf einer realistischen Reform fort, den er im zweiten Teil auf der Ebene des Unterrichts begonnen hatte. Unter der gemeinsamen Klammer Was zu tun ist geht es in drei Kapiteln um Veränderungen ober- und außerhalb des Unterrichts: Lehrerbildung, Wettbewerb und Erziehung.

Diese Skizze des Inhalts gibt einen ersten Eindruck davon, woraus das Buch seine Spannung bezieht: aus der Gegenüberstellung des überforderten und konfusen, geradezu verrückten Charakters von heutiger Schule, Bildungspolitik und Bildungswissenschaften und der notwendigen „realistischen“ Zurücknahme und Beschränkung auf das „Kerngeschäft“ der Schule. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass die Funktionszuschreibung von Schule nicht so utopisch und verwirrend ist, wie Kaube meint, und dass sein eigenes Konzept nicht so realistisch ist, wie es erscheinen mag.

Um sein eigenes Konzept von Schule und Schulreform plausibel zu machen, weist Kaube zunächst gängige Antworten auf die Frage, wozu die Schule da sei, zurück. Dabei gebe es eine sozialstaatliche und eine wirtschaftsliberale Antwort auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Sinn der Schule. Lege erstere mehr Gewicht auf Aufstieg und Chancengleichheit, so betone die zweite den Beitrag der Schule zu „employability“ und Wirtschaftswachstum. Kaube fragt, ob Schule diese Funktionen überhaupt erfüllen kann und verneint die Frage. Die Schule werde also mit etwas belastet und überfordert, was sie faktisch gar nicht erfülle und erfüllen könne.

Dass die Schule nichts zur „employability“ und das Humankapital nichts zum Wirtschaftswachstum beitrage, erklärt der studierte Ökonom Kaube mit einer besonderen, plausiblen, aber keineswegs konkurrenzlosen Theorie der Lohnunterschiede. Sie besagt, dass Lohnunterschiede nach Höhe des Bildungsabschlusses nicht von spezifischen Qualifikationen abhängen; die Schule liefere nur „Signale“ für vermittelte allgemeine „Arbeitstugenden“. Andere ökonomische Einschätzungen der Rolle von Bildung kommen bei Kaube nicht vor.

Beim Nachweis der Sinnlosigkeit einer an Chancengleichheit orientierten Bildungspolitik geht er anders vor. Er kann das tatsächliche Vorhandensein von ungleichen Bildungschancen angesichts der Masse an Belegen nicht leugnen. Aber er fragt, ob der „Begriff der Benachteiligung“ sinnvoll sei, wenn er nur die stärkere Abwesenheit einer Sozialgruppe auf bestimmten Bildungsstufen meint. Im Gestus des Kenners empirischer Untersuchungen übt er eine groteske Methodenkritik am Chancenbegriff der quantitativen Bildungsforschung, den er „ideologisch“ nennt.

Kaube hält eine an Chancengleichheit orientierte Bildungspolitik und Schule für utopisch, indem er sie ins Absurde steigert: „Die Bildungspolitik kann die Grundschulen stärken und in Vorschulerziehung investieren, um krasse Ungleichheiten aufgrund unterschiedlicher Familienhintergründe zu dämpfen. Sie kann sich aber nicht als die eigentliche Sozialpolitik darstellen und behaupten, die Schule eigne sich dafür, der Ort des Ausgleichs jedweder gesellschaftlicher Asymmetrien zu sein.“ Welche Bildungspolitik hat sich je so dargestellt, die „eigentliche“ Sozialpolitik sein zu wollen? Es ging und geht bei „Chancengleichheit“ immer um die „Dämpfung“ des Einflusses der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg. Wenn das schon Utopie ist, dann gehört auch Kaube zu den Utopisten. Aber er folgt lieber den Spuren seiner eigenen Polarisierung: Es sei ein Wunder, dass Lehrer angesichts der Behauptung, Schule produziere soziale Ungleichheit, nicht verrückt würden. Im Zentrum dieser verrückten Überforderung stehe das Dogma, „Schule müsse in erster Linie Ungleichheit und nicht Unwissenheit bekämpfen.“ Wer hat eine solche Rangfolge je behauptet?

Erstaunlicherweise stellt Kaube sich nicht die Frage, was von einer an Chancengleichheit orientierten Politik bei den Schulen und im Unterricht überhaupt ankommt. Gesamtschulen widmet er eine oberflächliche Ablehnung, „kompensatorische Erziehung“, insbesondere in Vor- und Grundschule, kommt ebenso wenig vor wie jüngere Versuche, Schulen in besonders belasteten Quartieren besonders zu fördern. All das würde eine Auseinandersetzung mit empirischen Untersuchungen erfordern, die Verteilungen, Durchschnitte etc. abbilden. Seine immer wieder geäußerten Vorurteile gegenüber der quantitativen Sozialforschung (mit PISA an der Spitze) versperren Kaube diesen Weg: „(Die Bildungsforschung) starrt lieber auf Zahlen, die keiner sozialen Situation zugeordnet werden können…“.  Wenn ihm ihre Ergebnisse in den Kram passen, zitiert er sie dagegen gerne. Ansonsten verlässt er sich in vielen Fällen lieber auf das, „was auf der Hand liegt“; auf ausgewählte „Beispiele“, die selbstverständlich für das Ganze sprächen (so in seiner Kritik an kompetenzorientierten Lehrplänen); auf Anekdoten über Schule und Lehrer,  Äußerungen „verdienter Schulmänner“ u.a.m. Man gewinnt beim Lesen nicht den Eindruck, dass er ein selbstkritisches Bewusstsein davon hat, wie schwierig es ist, den Ist-Zustand unseres Schulsystems auf allen Ebenen – vom Unterricht bis zur Bildungspolitik – überhaupt zu beschreiben. Stattdessen: kräftige Striche, steile Thesen, Polarisierungen – wie es bei einer Polemik eben der Fall ist. Kaube möchte an beiden Welten teilhaben, an der schulpolitischen Polemik und an der wissenschaftlich fundierten Darstellung. Das gelingt ihm nicht.

Das Gegenkonzept, das Kaube dem desolaten Zustand von Schule, Bildungspolitik und Bildungswissenschaft entgegenstellt, ist verhältnismäßig schlicht und klingt kernig: „Rückkehr zum Kerngeschäft, Fokussierung auf den Unterricht, Abstand von gesellschaftspolitischen Illusionen und mehr Bereitschaft, die Mühen wie die Möglichkeiten erziehenden Unterrichts anzuerkennen.“ Kaube nennt es sein „Plädoyer“. Sieht man durch die uferlosen, sich zum Teil wiederholenden, zum Teil in Nebensächlichkeiten verlierenden Ausführungen Kaubes hindurch und fragt sich: Was schlägt er eigentlich vor? – so baut sich ein Bild von Schule und Unterricht auf, das bei aller Propaganda Kaubes für ein realistisches Konzept einerseits verleugnende, andererseits ziemlich utopische Züge aufweist.

Zuallererst möchte er einen Unterricht, bei dem man Denken lernt. Der Unterricht müsse „Schwierigkeiten“ stellen, die überwunden werden müssen; die Konzentration, Gedächtnis, Denken, Urteilskraft und Sprachvermögen erfordern. Immer wieder phantasiert sich Kaube in Beispiele eines Unterrichts hinein, in dem er durch kluges, überraschendes und vielfältiges Fragen zu diversen, nahezu beliebigen Bildungsgegenständen in einem „fragend-entwickelnden“ Unterrichtsgespräch zum Denken ermuntern möchte. Das ist im Einzelfall anregend, aber lernt man so denken? Es setzt voraus, dass sich die Schüler und Schülerinnen für diese Gegenstände interessieren, und dazu sagt Kaube wenig. Eigenständige Entwicklung von Fragen und Antworten in diffuseren Situationen und Projektarbeit verlegt er auf die Oberstufe.

Das Denken werde nach Kaube am besten bei Anwendung des „exemplarischen Prinzips“ gelernt. Um diesem allseitig verwendbaren Zaubermittel Geltung zu verschaffen, brauche man Zeit und Konzentration auf weniger Inhalte als in der herkömmlichen Schule. An ihr kritisiert er, dass sie durch Zeiteinteilung und Stundenplan dauernd zu Unterbrechung zwänge. Also müsste die grundlegende Unterrichts- und Fächerorganisation im Sinne des Denken fördernden, exemplarischen Lernens radikal geändert werden. Und wer macht das? Die staatliche, auf Einhaltung schulübergreifender Regelungen achtende Verwaltung. Sie solle sich aus der Steuerung und Kontrolle der Schulen zurückziehen und ihnen ein hohes Maß an Autonomie sichern. Diesem anti-zentralistischen Impuls entspricht, dass Kaube alle gegenwärtigen staatlichen Versuche zur Vereinheitlichung von Prüfungen (z.B. Zentralabitur) ablehnt.

Am Horizont von Kaubes Überlegungen zu einer „wirklichen“ Reform, die beim Unterricht beginnt, erscheint so ein völlig anderes Schulsystem als das gegenwärtige: Ein Geflecht von Einzelschulen, die nach ihren Schwerpunktsetzungen vorgehen und voneinander lernen. Welche Rolle der Staat dabei spielt – die Bildungspolitik der Länder und des Bundes – bleibt vage. So weit formuliert Kaube sein Konzept jedoch nicht aus. Immerhin räumt er ganz am Ende seines Buches ein, dass es in der Düsternis der gegenwärtigen Schule und Bildungspolitik doch Lichtblicke gäbe. Seine Darstellung einzelner Schulen, die beim „Deutschen Schulpreis“ ausgezeichnet wurden, zeigen anregende und vorbildliche Ansätze. Kaubes wohlwollende, sachliche Darstellung unterscheidet sich deutlich von seinen vorherigen Ausfällen gegen die Schule und die Politik „als Ganzes“.

In der Zusammenfassung seines Konzeptes, das oben als Plädoyer zitiert wurde, nennt Kaube auch den „erziehenden Unterricht“. Er scheint zu seinem eher traditionell und kognitiv akzentuierten Programm in Gegensatz zu stehen. Wer soll zu was „erzogen“ werden, das nicht „Denken“ sowie Umgang mit Schrift und Zahl ist? Bei der Darstellung des alltäglichen Horrors von Schule dürfen Lernverweigerung, Undiszipliniertheit, Gewalt etc. pp. nicht fehlen – aber wie kann man als Lehrer und Lehrerin damit umgehen? Kaube hat darauf keine Antwort. Das pädagogische Stichwort des „sozialen Lernens“ würde vermutlich nur die bekannten Abwehrreflexe auslösen. Wieder versperren ihm vorgefasste Meinungen mögliche Einsichten. Er stilisiert seine Re-Installation der Autorität von Lehrerschaft und Schule nämlich als eine Art kulturellen Glaubenskampf gegen eine „Pädagogik vom Kinde“ aus. Sie sei schon als falsche Weichenstellung seit Rousseau angelegt und wirke über die Reformpädagogik bis heute. Wie will man aber einen „erziehenden Unterricht“ gestalten, der nicht etwas von dieser Grundeinstellung bewahrt? Nein, sagt Kaube am Ende, die Lösung des Problems sei Autorität. In den verbreiteten Einstellungen des „soziologischen Fatalismus“ wie im „reformpädagogischen Laisser-faire“ ziehe sich Autorität sträflich zurück. Wieder bringt Kaube damit Polarisierungen ins Spiel: Reformpädagogik ist nicht zwingend mit Laisser-faire verbunden, und soziologische Erklärung nicht mit Fatalismus. Aber für die Begründung eines revisionistischen Konzepts taugen Polarisierungen allemal.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019.
336 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783737100533

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