Café mit Geist

Toshikazu Kawaguchi schickt seine Kunden in die „andere Welt“

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem deutschen Buchmarkt bleibt der Trend zum japanischen Bestseller ungebrochen. Knaur hat für seine Reihe „Leben“ nun Toshikazu Kawaguchi (*1971) entdeckt, einen Bühnenautor und Produzenten aus Ôsaka. Seinerzeit war Kawaguchi Leiter der 2011 aufgelösten Theatertruppe Sonic Snail, die im März 2010 der Öffentlichkeit das Stück Bevor der Kaffee kalt wird präsentierte. Aus der 2013 mit einem Preis ausgezeichneten Inszenierung ging zwei Jahre später die gleichnamige, bei Sunmark veröffentlichte, ungemein erfolgreiche Prosa-Fassung Bevor der Kaffee kalt wird (jap. Kôhȋ ga samenai uchi ni) hervor – in Japan sind mittlerweile Fortsetzungen des Buchs erschienen, die zum Teil bereits verfilmt wurden.

Vier Zeitreisen und ein magischer Stuhl

Bevor der Kaffee kalt wird basiert auf den in Japan bis heute sehr populären Großstadtlegenden, den sogenannten toshi densetsu. Bei Kawaguchis literarisierter urban legend handelt es sich um ein geheimnisvolles Café, von dem das Gerücht besagt, es gebe dort einen magischen Stuhl, auf dem der Gast für einen Moment in die Vergangenheit zurückkehren oder sogar in die Zukunft gelangen könne. Der Autor schildert in vier Episoden, „Die Liebenden“, „Das Paar“, „Die Schwestern“ sowie „Mutter und Kind“, Beweggründe und Verlauf der jeweiligen Zeitreise.

Ähnlich wie bei Genki Kawamuras Dialog mit einem Teufel, der alles verschwinden lässt, Atsuhiro Yoshidas „Nachttaxi“, das traumartige alternative Wirklichkeiten ansteuert, oder Sôsuke Natsukawas Die Katze, die von Büchern träumte, charakterisiert den „Kaffee“ das phantastische Moment. Laut Text sei das Café 1874 entstanden, hat damals aber wohl nicht den aktuellen Namen Funiculi Funicula getragen, da die im gleichnamigen Lied erwähnte Seilbahn auf den Vesuv erst 1880 fertiggestellt wurde. Die Örtlichkeit gibt sich als mit dem Charme der alten Moderne ausgestattete Retro-Lokalität im Souterrain zu erkennen:

Das Café befand sich im Untergeschoss und verfügte daher über keine Fenster. Die einzige Beleuchtung stammte von sechs Lampen, die von der Decke hingen, sowie einer Wandlampe am Eingang. Der Raum war daher beständig in schattige Sepiatöne getaucht. Es ließ sich nicht sagen, ob es Tag oder Nacht war.

Die kleine Kaffeestube bietet in der Tat einen ungewöhnlichen Service an: Gelingt es dem Aspiranten, den besonderen Platz auf dem Zeitreisestuhl zu ergattern, tritt er in die Twilightzone ein – solange es dauert, das Heißgetränk noch im warmen Zustand zu konsumieren. Ziel des transdimensionalen Sprungs: Eine Situation mit einem geliebten Menschen noch einmal erleben zu können, um nach Möglichkeit Missverständnisse und Versäumnisse aufzuklären.

Regeln …

Kazu Tokita, die Bedienung, prüft das Anliegen des Gasts und weist ihn ein. Meist sind diejenigen, die um einen Chrono-Transfer ersuchen, Frauen. Obwohl erklärt wird, dass man nichts ungeschehen machen noch die Ereignisse zu seinen Gunsten verändern kann, lassen sich die Protagonistinnen der vier Geschichten, Fumiko, Kohtake, Yaeko Hirai und Kei Tokita, nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Allerdings gilt es, sich streng nach der Gebrauchsanweisung für das okkulte Mobiliar zu richten.

und die Frau im weißen Kleid

Fumiko aus der ersten Episode möchte unbedingt zu ihrem Freund ins Gestern zurück und hofft darauf, dass die Inhaberin des Sitzplatzes diesen bald räumen möge, zumal die Dame etwas seltsam zu sein scheint:

Die Frau in dem weißen Kleid wirkte, als hätte es das Glück nie gut mit ihr gemeint. Ihre helle, beinahe durchsichtige Haut stand im harten Kontrast zu ihrem langen schwarzen Haar. Es war zwar bereits Frühling, für nackte Haut jedoch noch zu kühl. Dennoch trug die Frau kurze Ärmel und schien keine Jacke bei sich zu haben. Fumiko hatte das Gefühl, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.

Unumwunden erklärt die Bedienung der Ungeduldigen, die Frau sei ein Geist. Die weibliche Erscheinung, die den begehrten Stuhl besetzt hält, ist ein warnendes Beispiel für eine missglückte Tour. Sie wurde zu einem Jenseitswesen, da sie den Abkühlungsgrad ihres Kaffees ignoriert und sich damit zu lange in der Anderswelt aufgehalten hat.

Rat und Hilfestellung

Fumiko erfährt durch ihre Zeitreise, warum es zur Trennung mit Freund Goro gekommen war. Was sie zunächst als Gefühlskälte ihr gegenüber interpretierte, hatte vielmehr mit einem Minderwertigkeitskomplex des Mannes zu tun, der unter einer Narbe im Gesicht litt und nicht richtig glauben wollte, dass die reizvolle, intelligente Fumiko es mit der Heirat wirklich ernst meinte. Seine Hemmungen verstand sie wiederum als mangelnde Zuneigung und Rücksichtslosigkeit ihres Geliebten, dem die neue Stelle in Amerika mehr bedeutete als sie.

Toshikazu Kawaguchi zeigt sich in Fumikos Fall und in den anderen Beispielen als empathisch-wohlwollender Berater seiner Protagonistinnen und bedient auf diese Weise den Megatrend zum Ratgeberbuch (ikikata no hon) bzw. zu Literatur mit Ratschlägen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Der wichtigste Hinweis des Autors zur Erlangung von Lebensglück betrifft dabei den Umstand, dass man die Handlungen des Gegenübers nicht immer grundsätzlich negativ wahrnehmen solle. Unterstellte Kränkungsabsichten seien häufig gar nicht so intendiert gewesen. Mit einer positiven Einstellung, genug Selbstbewusstsein und direkter Kommunikation gelinge es weitaus besser, problematische Situationen aufzulösen.

Heilung für die Familie

Kawaguchis Szenarien betreffen stets die japanische Familie – es geht um ihre „Heilung“ (iyashi) in Zeiten, in denen es angesichts wachsender Tendenzen zu Verfolgung individueller Ziele im Zeichen der Selbstverwirklichung (Stichwort jibun sagashi) schwierig scheint, alte Werte wie Loyalität, Respekt, Treue, Altruismus und Feingefühl aufrecht zu erhalten. Beispielhaft wirft der Autor Fragen auf: Wie kann eine gefährdete Paarbeziehung in die Ehe münden, wenn die im Beruf erfolgreiche Frau (Fumiko) den zurückhaltenden Mann verunsichert? Ist es möglich, dass eine Frau an der Ehe mit einem an Demenz erkrankten Mann festhält und trotz der herausfordernden Situation weiter zu ihm steht? Sollte die ältere Tochter, die sich von ihrer Familie losgesagt hat, um in der Großstadt nach ihren eigenen, unkonventionellen Vorstellungen zu leben, nicht doch erwartungsgemäß den traditionellen Landgasthof ihrer Eltern übernehmen – vor allem um ihrer kürzlich gestorbenen jüngeren Schwester „Ehre zu erweisen“? Kann der Blick in die Zukunft verraten, ob eine Tochter die Entscheidung ihrer Mutter billigt?

Das Café mit seinen Betreibern, der Angestellten Kazu und einer Helferin aus der anderen Welt, das – ähnlich wie die in vielen Romanen idealisierte japanische Kneipe – das rechtschaffene Bewusstsein eines als gesund imaginierten Kollektivs verkörpert, erfüllt die regulative Aufgabe, die Menschen auf traditionelle Normen hinzuweisen, d.h. sie dazu zu bewegen, ihre sozialethischen Verpflichtungen zu akzeptieren. Für die Person im Gewissenskonflikt bedeutet die richtige Entscheidung dann auch Entlastung, wobei diese Entscheidung meist auf die eine oder andere Art den persönlichen Verzicht, genauer die Absage an das Ego (jap. wagamama) voraussetzt, der gleichzeitig als Reifung bewertet wird. Die größte Selbstaufopferung vollbringt die kranke Kei, die ihr Baby unter Einsatz des eigenen Lebens zur Welt bringen will. Mit dieser Geschichte schließt der Reigen. In „Mutter und Kind“ erreicht die emotionale Dosis, die der Autor, geschickt auf der Klaviatur der Gefühle spielend allmählich steigert, das Höchstlevel. Manche Kommentare im Internet reagieren mit dem passenden Reflex: Die Rede ist von einem „süßen Schmerz in der Brust“ – eine Formel, deren Revival man nicht unbedingt erwartet hätte. Andererseits: Das Bedürfnis nach seelischer Erleichterung und nach einer heilen Welt besteht vielleicht heute wieder in besonderem Maße.

Im Jahr 2025 existiert das Café, wie man aus dem Erzählten folgern kann, immer noch. Der Ort bleibt unverändert: Eventuell, so die tröstlichste Botschaft des Bandes, dauern hier die Zeiten aufrichtiger und hingebungsvoller Mitmenschlichkeit doch auf ewig an.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Toshikazu Kawaguchi: Bevor der Kaffee kalt wird.
Aus dem Englischen von Sabine Thiele.
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2022.
240 Seiten, 10 EUR.
ISBN-13: 9783426879146

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