Auf vier Achsen zur Erkenntnis
Wie sich ein Physiker von der Materie zum Geist bewegt
Von Michael Mehrgardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBereits der Blick ins Literaturverzeichnis enthüllt zwei Versprechungen: erstens eine kompetent geführte Tour für Einsteiger durch die Philosophiegeschichte; zweitens die Lösung des Materie-Geist-Problems „en passant“.
Doch der Reihe nach: Als ich das Buch auspacke, springt mir eine rote Rose ins Auge. Ich erblicke sie wie durch ein Fenster in das Tiefblau des Universums, das den Hintergrund des Buchcovers bildet. Der Untertitel drängt in den Vordergrund. Er erklärt zweierlei. Erstens, dass dieses Buch von Materie, Geist und Realität handelt; zweitens, dass der Autor sich Gedanken darüber macht. Offensichtlich will er dieses Sujet nicht umfassend darstellen. Dazu passt die Dickes des Buches: etwas mehr als 200 Seiten.
Das ist zu schaffen, denke ich. Der Titel des Buches tritt bescheiden dahinter zurück. Er erinnert an Kant: Was außerhalb meines Geistes ist und was ich davon wissen kann.
Als Nächstes will ich etwas anderes wissen: Wer ist der Autor? Im Buch finde ich dazu nichts. Also schaue ich auf seinen Internet-Auftritt: Kay Herrmann ist ein Grenzgänger zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Mein Interesse wächst.
Als studierter Physiker, Umweltwissenschaftler und Lehrer für Physik und Mathematik promovierte und habilitierte er sich mit philosophischen Themen. Als außerplanmäßiger Philosophie-Professor beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Wissenschaftstheorie. Kein Fachidiot also, geht es mir durch den Kopf. Meine Entscheidung, das Buch zu lesen, steht.
Also vertiefe ich mich in das Inhaltsverzeichnis. Es ist erfreulich klar strukturiert und gliedert sich in vier „Achsen der Erkenntnis“, nämlich Materie – Geist, Außenwelt – Innenwelt, Objektivität – Subjektivität, Reales – Konstruiertes. Es scheint, und damit komme ich auf meine Eingangs-Bemerkung zurück, zwei Dinge versprechen zu wollen:
Erstens stellt es dem philosophischen Laien eine kenntnisreich geführte Tour durch gut zweieinhalb Jahrtausende Philosophiegeschichte in Aussicht. Und zweitens? Vielleicht interpretiere ich zu viel in die Überschriften der Gliederung hinein, aber es hat den Anschein, als wollte das Buch, so im Vorübergehen, einige der großen erkenntnistheoretischen Dilemmata auflösen; denn die mit den vier Achsen benannten Dichotomien sollen laut Inhaltsverzeichnis durch das Wörtchen „als“ dialektisch aufgelöst werden: „Materie ‚als‘ Geist“. Entsprechend verkünden die weiteren Kapitelüberschriften die Synthesen „Außenwelt als Innenwelt“, „Subjektivität als Voraussetzung für Objektivität“ und schließlich – als These zur vierten Achse – „Jenseits des Grabens zwischen Konstruktivismus und Realismus“. Ich bin jetzt sehr neugierig geworden.
Ich verweile noch beim Inhaltsverzeichnis: Anhand des Umfanges der vier Teile erkenne ich, dass die erste Achse den Schwerpunkt bilden dürfte. Für einen Autoren mit Physiker-Sozialisation überrascht mich das nicht. Ich stelle mir förmlich vor, wie er bei dem Versuch, Quarks und Bosonen zu fassen zu bekommen, ins Leere greift. Wie soll man da nicht anfangen, nach dem Geist zu forschen, der hinter allem stehen könnte?
Ich lasse das Inhaltsverzeichnis hinter mir und browse neudeutsch durch die Seiten. Es gibt Fotos, Grafiken, Schemata, Zusammenfassungen in grau unterlegten Kästen. Das Layout ist sehr ansprechend und vielfältig, ohne anstrengend zu werden. Erste Leseproben zeigen mir, dass die Formulierungen klar und auch dem Laien verständlich sind.
Jetzt aber will ich zur Prüfung des ersten Versprechens schreiten: Stringent, didaktisch sehr gut aufbereitet und mit breiter Kenntnis lasse ich mich vom Buch durch östliche Philosophien, Antike, Mittelalter und Renaissance geleiten, erfahre etwas über den Streit zwischen Rationalismus und Empirismus, um schließlich zu Kant, Hegel, Schopenhauer und Marx zu gelangen, um nur einige zu nennen. Sicherlich erwarte ich keine umfassende und tiefgehende Darstellung dieser Philosophien. Deren unterschiedlichen Positionen zu der ersten Achse „Materie – Geist“ werden überzeugend entwickelt und gegeneinander abgewogen.
Immer wieder kann sich der Leser-Geist, sobald sich einiges an inhaltlicher Materie aufgehäuft hat, an Fotos, Beispielen, Grafiken, kunstvollen Abbildungen und Zusammenfassungen ergötzen. Hat er unterwegs die Bedeutung eines bestimmten Terminus verloren, begibt er sich zum Glossar am Ende des Buches und findet dort präzise Erläuterungen.
Entsprechend führt mich das Buch durch die weiteren „Achsen“ und beleuchtet naturwissenschaftliche und philosophische Modelle, nunmehr hinsichtlich der weiteren Dichotomien. Ich erfahre etwas über moderne Mathematik und Physik – Blockuniversen, Spiegelungsalgebra, Schrödingergleichung – und über weitere philosophische Denker wie Husserl, Habermas, Popper, Wittgenstein, Markus Gabriel. Auch speziellere Ansätze werden erörtert wie etwa die „Hohlwegtheorie“ und zudem die ganzen neueren „Realismen“: Pragmatischer Realismus, Hypothetischer, Interner, Direkter, Neuer, Moralischer, Undsoweiter Realismus.
All dies lese ich mit Gewinn, auch mir als erkenntnistheoretisch Bewandertem ist manches neu oder in einen neuen Kontext gestellt. Das Buch trifft eine geschickte Auswahl, ist sehr gut strukturiert, drückt sich klar aus, macht Unterschiede und Entwicklungen deutlich. Es lässt den Laien nicht an der letzten Gabelung verwirrt zurück. Das erste Versprechen hat es, so mein Fazit, eingelöst.
Zur Prüfung des zweiten Versprechens durchforste ich den Text nach Formulierungen der Hauptthesen und der Conclusio, die ich hier kurz wiedergebe:
Das Inhaltsverzeichnis legt sich bereits fest: „Warum Geist der Materie vorausgeht“. Das Vorwort erklärt mir, dass die Kluft zwischen Realismus und Konstruktivismus durch „Widerstandserfahrungen“ aufgehoben sei. Im Prolog erfahre ich, dass eine Brücke über die Kluft zwischen Realismus und Konstruktivismus geschlagen werde, indem man das Reale durch das Widerständige bestimme. Wie man sich „Materie als Geist“ vorzustellen habe, konkretisieren die „Thesen zur ersten Achse“: Das Physische, so heißt es, entstehe aus dem Bewusstsein, da die Basis aller physikalischen Wahrheiten stets und immer nur „Erste-Person-Data“, also subjektive Erlebnisse, sein könnten.
Später wird das „Erleben des Widerständigen“, zum Beispiel in Gestalt der schmerzhaften Konfrontation mit einem physischen Körper, als Beleg für „objektive Realitätszeugnisse“ interpretiert. Das Widerständige sei „… im übertragenen Sinne ein ‚Nein-Sagen‘ oder ein ‚Sich-Widersetzen‘ der Natur gegen manche [Erg. MM: geistige] Konstruktion.“ ). Die Conclusio lautet dementsprechend, dass Reales und Konstruiertes zwei Seiten einer Medaille seien und dass ein Graben zwischen Realismus und Konstruktivismus nicht existiere.
Mein Fazit: Das zweite Versprechen einzulösen, gelingt nicht überzeugend: Denn weder ergibt sich zwingend die Primordialität des Geistigen gegenüber dem Physischen aus der Abwicklung des Erkennens von der privaten Perspektive („Erste-Person-Data“) zum „Dritte-Person-Wissen“ über „physikalische Wahrheiten“ – denn beide Vorgänge sind phänomenale Prozesse, also bewusstseinsdiesseitig; noch ist mit der Erfahrung von „Widerständigkeit“ und sozialer Übereinstimmung („Objektivität“) notwendig ein direkter Zugang zur transphänomenalen, also bewusstseinsjenseitigen Realität gegeben – denn ein noch so hoher Evidenzgrad des Erlebens besagt ja nicht, dass der Stein des schmerzhaften Anstoßes als solcher ins Bewusstsein eindringt oder jenem als isomorphe Kopie oder identisches Abbild gegeben ist.
Dass das Reale hautnah ist und zweifellos ins Leben drängt, ist keine Frage. Aber habe ich es damit bereits in seiner gesamten Dimension und Vielfalt – und das heißt letztlich: absolut – erkannt? Vielmehr scheint die folgende Erfahrung allgemeingültig zu sein, nämlich dass es sich, sobald man danach greift, einem entwindet: Es ist eben hautnah und flüchtig zugleich.
Meine Conclusio lautet: Ich werfe es dem Buch nicht vor, dass es wesentliche und Jahrtausende alte Dilemmata der Philosophie nicht gelöst hat. Immerhin hat es eine eigene Sichtweise zu wichtigen Fragen der Erkenntnistheorie beigesteuert, begründet und zu anderen (neueren) Ansätzen in Beziehung gesetzt.
Was also von diesem Buch bleibt, ist eine lesenswerte, verständliche, kunstvoll und kompetent aufbereitete Orientierungshilfe auf dem unüberschaubaren Gebiet der Philosophie.
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