Wider die Weltuntergangslust

Christoph Keller beschreibt in „Der Boden unter den Füßen“ einen Garten als wild wuchernde Utopie

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gärten sind magische Orte, angefangen mit dem Garten Eden und endend mit dem Garten der Selbstversorger angesichts der Klimakatastrophe. In diesem weiten Zwischenreich sind auch die Gärten bei Christoph Keller angelegt. Am Ursprung steht jener Garten, der sein Wohnhaus in St. Gallen umgibt und in Der beste Tänzer (2003) – einem kleinen Meisterwerk der autofiktionalen Literatur – eine tragende Rolle spielt. Im Roman Das Steinauge & Galápgos (2016) wächst er ein erstes Mal über sich hinaus, um sich in Kellers jüngstem Buch Der Boden unter den Füßen in ein Refugium zu verwandeln, in dem sich Ideen von Thoreau oder Rousseau verwirklichen. Die Natur triumphiert darin über die Angst vor dem dystopischen Unheil.

Gleich die ersten Worte vermitteln Zuversicht: „Jetzt, da alles gut wird, erscheinen die Menschen immer öfter im Garten.“ Unter dem Holunderbaum, dem Hexenbaum, begegnen sie dem Hausherrn Lion. Zusammen mit seinem Bruder Leo führte er früher ein Architekturbüro. Als eine seiner kühnsten Brücken einstürzte und zwölf Leben forderte, zog er sich aus dem Berufsleben zurück. Im Garten ist auch Cora anzutreffen, Lions Liebste und Philosophin, und immer wieder schaut Corinna vorbei, seine Anwältin. Zugegen ist ebenfalls der Gärtner Sarhat, ein geflüchteter türkischer Kurde, dessen Heimat in einem Stausee versunken ist.

„Eine Fantasie“ heißt das Buch im Untertitel. Der Garten, den Christoph Keller darin entwirft, ist ein verwunschener Ort, der sich mit jedem Schritt, den seine Protagonisten tun, ins Fantastische und Unendliche dehnt. Je weitere Kreise die Protagonisten ziehen, umso umfassender wird das Refugium. Und mit dem Raum dehnt sich auch die Zeit. Der Garten wird zur paradiesischen Utopie.

Christoph Keller betreibt keine naive Weltflucht. Ihm sei es vielmehr darum gegangen, hat er einmal gesagt, „der ganzen Weltuntergangslust, der wir seit Jahrzehnten frönen, etwas entgegenzusetzen“. Den dystopischen Szenarien, die allenthalben im Film heraufbeschworen werden, damit am Schluss die Welt ästhetisch in Stücke birst, will er mit seinem Buch einen poetischen Optimismus entgegenhalten, in dem das scheinbar Unausweichliche vielleicht doch aufgehalten werden kann. Welchen Wert hätte sonst das Engagement der „Klimajugend“.

Christoph Keller will es nicht auf eine „self-fulfilling prophecy“ ankommen lassen. Er scheut sich nicht vor einer radikalen Naivität, die sein Protagonist Lion an die Idee eines „unbegrenzten Zivilisationsmoratoriums“ glauben lässt, das dem ewigen Weiterso einen Riegel vorschiebt. Dafür lässt er ihn und seine Freunde im Garten wandeln, sich erinnern und miteinander unterhalten. 

Keller entfaltet seine Fantasie elegant, mit schelmischem Witz und ohne dramatisches Aufheben. Es sind die subtilen Aufmerksamkeiten und Anspielungen, die ihr Reiz verleihen. Dreifach beispielsweise hat der Künstler Roman Signer darin einen Auftritt. In dessen Werk verbinden sich die Sphären Kunst und Natur mit spielerischem Übermut. Eine vergleichbare Symbiose vertritt der prominente Brückenbauer Christian Menn, wenngleich seine Werke nicht auf Übermut vertrauen dürfen, sondern filigrane Meisterwerke der Ingenieurskunst darstellen, die sich formschön in die Natur einfügen. Doch in der Brückenbaukunst steckt zugleich auch eine Hybris, wie Lion selbst erfahren hat, ein gefährlicher Wagemut, dem sich niemand  entziehen kann. Wer eine kühne Brücke passiert, verliert unweigerlich den Boden unter den Füßen. Lion gibt sich als Optimist, wogegen er seine Liebe Cora für eine fröhliche Pessimistin hält. Die beiden Haltungen umreißen das Paradox, das uns allen alltäglich innewohnt. Wie nur halten wir die permanenten Schreckensmeldungen aus, und bewahren ihnen zum Trotz unseren Lebensmut.

Christoph Keller hat eine Utopie geschrieben, um einen Ausweg aus dem Dilemma zu formulieren. Aus der Idee ist ein Buch des leisen Wandels entstanden, in dem sich der Autor ganz real die Zuversicht zu erhalten versucht. Gegen Ende nimmt Der Boden unter den Füßen schließlich doch noch eine dramatische Wende ins Surreale. Cora scheint es irgendwie gelungen zu sein, der menschlichen DNA das „Naturgen“ einer altsteinzeitlichen Denisova-Frau beizumischen. Damit täte sich, wie ihr die Kollegin Donna J. Haraway tweetet, eine „new history of HuWoManKind“ auf. Die Zukunft wird weiblicher sein, bekundet Christoph Kellers Buch unumwunden. Sein Schluss weist ganz ins utopisch Offene. Eine Karawane mit Lion, Sarhat und der „Urmenschfreundin Denise“ macht sich auf den Weg in eine Zeit, in der Mensch und Natur wieder vereint sein würden.

Titelbild

Christoph Keller: Der Boden unter den Füßen. Eine Fantasie.
Limmat Verlag, Zürich 2019.
160 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783857918803

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