Bodenbearbeitung in doppeltem Sinn

„Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit“ bietet mehr als eine kompetente Einführung in archäologisches Fachwissen

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich in den letzten 30 Jahren einen Überblick über das Fach der Mittelalterarchäologie verschaffen wollte, griff zwangsläufig zu Günter P. Fehrings Die Archäologie des Mittelalters, denn eine andere Einführung existierte nicht. Mit Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit verliert Fehrings Monographie nun ihre monokratische Position. Endlich liegt eine zeitgemäße Einführung in die Mittelalterarchäologie vor, die zudem die Frühe Neuzeit einschließt und sogar die Archäologie der jüngsten Vergangenheit mitberücksichtigt. Damit wird auch schon die Definition der hier behandelten archäologischen Disziplinen umrissen: Es handelt sich um „historische Archäologie“, da eben auch schriftliche Quellen aus diesen Epochen vorliegen. Das Buch dürfte selbst hatrnäckige Skeptiker überzeugen, dass die archäologische Forschung historischer Zeiten weit mehr ist als eine „Hilfswissenschaft“ – ohne mit diesem Begriff die Grundwissenschaften degradieren zu wollen – oder eine Ergänzung der Geschichte.

Wie viel sich innerhalb der letzten drei Jahrzehnte im Fach getan hat, springt schon bei der Themenauswahl ins Auge. Die Herausgeber Barabara Scholkmann, Hauke Kenzler und Rainer Schreg und mit ihnen die insgesamt 16 Autoren, die an diesem Band mitgewirkt haben, stellen auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Verzahnung der Archäologie mit den Naturwissenschaften heraus, die immer mehr an Bedeutung gewinnen. Einen großen Raum nimmt auch die Vorstellung der fachspezifischen Methoden und theoretischen Konzepte ein, die sich – wenn überhaupt – in dieser Ausführlichkeit nicht in Fehrings Einführung finden. Dem Band angeschlossen sind eine Zeittafel sowie ein Register. Ein Glossar für Fachbegriffe, die zum Teil im Text nicht erklärt werden, wie etwa den Terminus „geschlossener Fund“, gibt es hingegen nicht.

Wie im Vorwort zu lesen ist, möchte der Band einen Überblick über die Entstehung, Entwicklung und gegenwärtige Verortung des Fachs, und das auch im Wechselspiel zu benachbarten Disziplinen, bieten. Programmatisch wird das bereits im Untertitel sichtbar, wo es schlicht heißt: „Grundwissen“. Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit versteht sich als Orientierungshilfe und zugleich als Handbuch für Studierende des Fachs wie verwandter Disziplinen sowie Interessierte gleichermaßen.

Wie auch in Fehrings Einführung werden Forschungsfelder und Fragestellungen der Mittelalterarchäologie diskutiert. Während sich bei Fehring im Kapitel zu Quellengruppen und Forschungsbereichen allerdings eine trockene Aneinanderreihung der wichtigsten Fundplätze, Bauwerke und Ausgrabungen findet, arbeiten die Autoren von „Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit“ die Grundzüge und Spezifika der unterschiedlichen Forschungsfelder mit ihren jeweiligen Fragestellungen heraus und gehen (wie auch in den übrigen Kapiteln) exemplarisch auf prägnante Beispiele ein, die sehr übersichtlich in grau hinterlegten Kästen vorgestellt werden. Nach jedem Themenkomplex im Buch findet sich außerdem ein Kasten mit im Schnitt zehn einschlägigen Literaturhinweisen, was sehr benutzerfreundlich ist und den Handbuchcharakter unterstreicht. Der Fokus liegt generell auf dem Fach Archäologie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Deutschland. Es werden aber auch immer wieder Entwicklungen in anderen Ländern nachgezeichnet.

Gleich zu Beginn werden verschiedene Modelle zur Definition der Epoche „Mittelalter“ besprochen und die Geburt – oder besser Erfindung – dieses Zeitalters im Humanismus beleuchtet, aber auch klar herausgestellt, dass sich historische Umbrüche und Zäsuren im archäologischen Fundmaterial in aller Regel nicht fassen lassen.

Es folgen Porträts der einzelnen Fachdisziplinen der historischen Archäologie und ihrer jeweiligen Fachkulturen. Dabei werden auch die unterschiedlichen Forschungsfelder umrissen. So zählen zur Islamischen Archäologie nicht nur Fundplätze im Vorderen Orient und Nordafrika, sondern beispielsweise auch die frühmittelalterlichen Städte Andalusiens. Die Christliche Archäologie ist dagegen nicht von der Byzantinischen Kunstgeschichte zu trennen und von daher in einer anderen Fachkultur verwurzelt als die Archäologie des Mittelalters – und an den Universitäten auch besser etabliert als diese, wie hier angemerkt wird. Die Vernetzung zwischen der Christlichen und der Mittelalterarchäologie sei von daher auch eher schwach ausgebildet, umso stärker allerdings sei die Zusammenarbeit der Byzantinisten mit der internationalen Mediävistik. Bei der Vorstellung der Slawischen Archäologie wird auch auf ihre Rolle in der DDR und der Sowjetunion eingegangen. Hier wird bereits deutlich: Archäologische Forschung ist auch immer ein Politikum. Ein Thema, auf das noch ausführlicher zurückzukommen ist, und auf das im Band auch außerhalb des Abschnitts, der sich diesem Sachverhalt dezidiert widmet, immer wieder aufmerksam gemacht wird.

Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Vorstellung der Industrie- und Wirtschaftsarchäologie einschließlich der Schilderung der prekären Lage, in der sich dieser archäologische Zweig befindet; umfasst die Industriearchäologie doch weit mehr als nur die Zeit der Industrialisierung. Gerade die hochkomplexe Erforschung des oftmals über ein Jahrtausend währenden durchgängigen Abbaus von Erz- oder Salzlagerstätten, mit denen sich die Montanarchäologie beschäftigt, ist auf dauerhafte Infrastrukturen angewiesen, die allerdings bis auf wenige Ausnahmen, wie beispielsweise das Deutsche Bergbaumuseum in Bochum, kaum vorhanden sind. So schließt dieser Abschnitt mit einer ganzen Reihe an Desiderata, deren baldige Erfüllung derzeit nicht abzusehen ist. Sicher nicht zufällig schließt sich ein fast 20 Seiten starkes Kapitel zur Geschichte des Fachs an, das die historische Dimension der Mittelalterarchäologie und ihrer Fragestellungen deutlich macht. Die Forschungsgeschichte zur Archäologie des Mittelalters beginnt natürlich im Mittelalter. Hier standen herrscherliche Legitimation und die Suche nach Reliquien an erster Stelle, was durch die bekannten Beispiele der Öffnung des Grabs Karls des Großen durch Otto III. oder die „Ausgrabung“ der heiligen Ursula und ihrer 11.000 Jungfrauen in Köln (wie wir heute wissen, handelte es sich um ein römisches Gräberfeld) verdeutlicht wird.

Der Begriff „Archäologie des Mittelalters“ lässt sich erstmals im Jahr 1852 belegen. Er wurde zunächst zur Abgrenzung von der „Heidnischen Alterthumskunde“, die auch noch die merowingerzeitlichen Gräberfelder einschloss, verwendet, wie Barabara Scholkmann erläutert. Die Archäologie des Mittelalters konzentrierte sich in der Anfangszeit auf Baudenkmäler und im Besonderen auf die Burgenkunde. Ausgrabungen wurden zunächst kaum durchgeführt. Es folgt eine kurze Abhandlungen der Meilensteine archäologischer Forschung, wie zum Beispiel der „Entdeckung des Pfostenlochs“ durch Carl Schuchardt und der sich rasend schnell entwickelnden Methodik des Fachs. Einen wichtigen Abschnitt innerhalb der Forschungsgeschichte stellt auch die Instrumentalisierung der Archäologie durch das NS-Regime dar. Die Verzahnung von Archäologie und Zeitgeschichte wird deutlich, wenn die unterschiedlichen Entwicklungen archäologischer Forschung in DDR und BRD vorgestellt werden und die Geschichte des Fachs seit der Wiedervereinigung bis zur heutigen Standortbestimmung nachgezeichnet wird.

Nach Definition und Verortung des Fachs, bieten die folgenden Kapitel einen Überblick über alle für die Beschäftigung mit der Archäologie des Mittelalters relevanten Themen. Dazu gehören auch Darstellungen der archäologischen Praxis und der täglichen Aufgaben von Mittelalterarchäologen. Das ist besonders hervorzuheben, da hier nämlich tatsächlich das Tagesgeschäft transparent gemacht wird. Unbeschönigend werden Berufsaussichten für Studierende der Mittelalterarchäologie sowie die zum Teil schwierigen Arbeitsbedingungen, unter denen Archäologen forschen, geschildert. Die unterschiedlichen Arbeitgeber, beispielsweise die Denkmalpflege, Museen oder (private) Grabungsfirmen, werden ebenso veranschaulicht wie die Forschungssituation innerhalb und außerhalb von Universitäten. Eine Aufzählung der Universitäten, an denen man das Fach studieren kann, rundet das Kapitel ab. Der erste Lehrstuhl für „Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit“ wurde übrigens erst 1981 in Bamberg gegründet.

Es ist besonders hervorzuheben, dass der Band, der in erster Linie für Studierende geschrieben wurde, auch Themen wie die zwingende Drittmittelakquise zur Aufrechterhalten des Forschungsbetriebs einschließlich einer Vorstellung der wichtigsten Drittmittelgeber behandelt. Hauke Kenzler und Rainer Schreg scheuen sich hier auch nicht zu erwähnen, dass die Erfolgsaussichten für die Bewilligung von Drittmittelanträgen unvorhersehbar sind und nur ein geringer Teil der Anträge überhaupt angenommen wird, wobei die Fördereinrichtungen in aller Regel kein Feedback darüber geben, welche Gründe zur Ablehnung geführt haben. Damit wird auch die andere Seite der universitären Forschung beleuchtet, die für Studierende gerade in den Anfangssemestern überhaupt nicht zu sehen ist und nur selten in der Lehre thematisiert wird. Diese nicht kommunizierten Hintergrundinformationen rücken dadurch in die Nähe von „Herrschaftswissen“ und es ist notwendig, diese Themen in einem Buch, das als seine Hauptzielgruppe die Studierenden adressiert, offenzulegen. Dazu gehört ebenfalls die hier vorgenommene Vorstellung von wichtigen Tagungen und Kongressen, verbunden mit der Empfehlung, diese zu besuchen. Des Weiteren bietet der Band Informationen zu Stipendiengebern oder der Art und Weise einer Quellenedition, die jedoch jeweils ausführlicher hätten ausfallen können. Gerade bei der Quellenedition, die üblicherweise in die Entstehung einer Publikation mündet, wäre es für Studierende sicher wertvoll gewesen, die einzelnen Schritte noch etwas detaillierter darzustellen, vielleicht auch verbunden mit dem Hinweis, dass das Schreiben von Hausarbeiten während des Studiums im Grunde als Fingerübung für spätere Publikationen gedacht ist. Hilfreich sind die am Ende aufgeführten Literaturempfehlungen, verknüpft mit Strategien, um bei der überbordenden Fülle an Neuerscheinungen auf dem Laufenden zu bleiben, ohne sich in der Informationsflut zu verlieren.

Ein weiteres Kapitel widmet sich den Methoden der Mittelalterarchäologie, methodisch klar gegliedert in Quellenerschließung (wie Prospektion, Ausgrabung oder Bauforschung), Quellenanalyse und Quellenkritik. Im Abschnitt zur Quellenanalyse werden sowohl die einzelnen Fundgattungen vorgestellt als auch die Befunde und deren Kontexte, die unter dem Abschnitt zur Quellenkritik noch einmal dezidierter in den Blick genommen werden. Daran schließen sich Methoden zur relativen und absoluten Chronologie an. Unter Quellenkritik verbirgt sich die Forderung nach dem Bewusstsein über die Eigenschaften der archäologischen Quellen: ihre Lückenhaftigkeit und die damit einhergehende Subjektivität. An dieser Stelle wird darauf eingegangen, dass die Quellen mitunter ein sehr tendenziöses Bild liefern. Archäologische Forschung ist deshalb nicht zwangsläufig neutral, was ihr zuweilen in Abgrenzung zur Geschichtswissenschaft unterstellt wird. Es geht hier also auch um die Dichotomie zwischen vergangener und rekonstruierter Realität. Auch archäologische Quellen sind nicht objektiv, denn sie erfassen immer nur einen kleinen Ausschnitt der Vergangenheit. Oder wie es Paul Bahn in seinem „Bluffer‘s Guide“ ausdrückte: „Archaeology is rather like a vast, fiendish jigsaw puzzle invented by the devil as an instrument of tantalizing torment, since: a) it will never be finished, b) you don‘t know how many pieces are missing, c) most of them are lost forever, d) you can’t cheat by looking at the picture“.

Das Thema „Quellenkritik“ geht quasi nahtlos über in die Grundlagen der Quelleninterpretation und Theorie, was in eine luzide Reflexion des Fachs und seines Selbstverständnisses mündet. Dabei wird die Frage, warum man sich heute mit der Vergangenheit auseinandersetzt (und das dann auch noch aus öffentlichen Mitteln finanziert wird) zum Dreh- und Angelpunkt. Hier tritt der bereits erwähnte Fakt von Archäologie als Politikum ganz besonders deutlich hervor. Die Vergangenheit dient zwangsläufig als Reflexionsbasis der eigenen Gegenwart und damit als Referenz für die eigene Identität. „Die Wissenschaft schafft mit ihrer objektiven Analyse der Quellen die Grundlage zu einer fundierten Beurteilung der Vergangenheit, indem sie Mythenbildung hinterfragt. […] Wissenschaftskommunikation trägt dazu bei, dass unsere Gesellschaft in der Lage ist, den eigenen Standpunkt zu relativieren, sich der zeitlichen Dimension bewusst zu werden und so kurzsichtige Entscheidungen und Planungen hinterfragen zu können“, formuliert Rainer Schreg. Bereits im ersten Kapitel wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Archäologie des Mittelalters Teil einer identitätsstiftenden Tradition ist und somit auch anfällig für beispielsweise politische Instrumentalisierungen oder nationale Narrative sei. Hieraus leitet sich der Apell ab, dass die Vermittlung als eines der zentralen Ziele der Forschung zu gelten habe, dass Narrative, um die keine Wissenschaft herumkommt, durchdacht sein und hinterfragt werden müssen und „nicht pauschal an Wissenschaftsjournalisten oder Ausstellungsmacher delegiert werden“ dürfen. Von der Mittelalterarchäologie erfordere dies eine „andauernde Gratwanderung zwischen Sinnstiftung und Mythendemontage“. Zur Auseinandersetzung mit diesen entscheidenden Themen anzuregen oder überhaupt ein Bewusstsein für ihre Wichtigkeit zu schaffen, ist das große Verdienst dieses Buchs.

Mit „Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit“ ist es den Herausgebern gelungen, nicht nur das nötige Grundwissen für Studierende der Mittelalterarchäologie oder am Fach Interessierte verständlich darzulegen, sondern auch den Boden für einen bewussten Umgang mit der Konstruktion und Interpretation von Vergangenheit zu bereiten.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Hauke Kenzler / Barbara Scholkmann / Rainer Schreg (Hg.): Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Grundwissen.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2016.
318 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783534268115

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