Reisen in die Erinnerungen
In „Der Erinnerungsfälscher“ klopft Abbas Khider den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen ab
Von Liliane Studer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSaid Al-Wahid befindet sich auf der Rückreise von Mainz nach Berlin – er hat an einem Podiumsgespräch teilgenommen, die Veranstaltung verlief gut –, als ihn ein Anruf seines Bruders Hakim erreicht: Die Mutter liege im Sterben, Said solle kommen. Die Mutter ist schon länger krank. Said weiß, wenn der Bruder ihn bittet, sofort zurück nach Bagdad zu fliegen, ist es ernst, der Tod nahe. Eigentlich will Said nach Hause zu Monica und zum gemeinsamen Sohn Ilias. Trotzdem sucht er gleich nach möglichen Flugverbindungen. Er möchte seine Mutter gerne nochmals sehen – auch wenn sie ihm bei seiner Abreise zugeflüstert hat, er solle nie wieder zurückkommen. Er fürchtet jedoch, zu spät zu kommen:
Möglicherweise hat die Mutter es eilig, den Rest der Familie im Jenseits wiederzusehen. Keiner der Überlebenden ihrer Sippe hat eine Ahnung, wo der Leichnam des Vaters beerdigt wurde. Von den Körpern der Schwester und ihrer Familie fand man kaum noch Überreste. Im Irak, das weiß Said, drehen sich die Minutenzeiger nicht über Ziffern, sondern über Wunden.
Dass Said seinen Reisepass immer bei sich hat, erweist sich einmal mehr als Vorteil. Seit er in Deutschland lebt, erst in München, später in Berlin, begleitet ihn sein Reisepass überall hin. Er hat gelernt, dass alles unsicher ist und bleibt, dass er der Welt nicht trauen kann. Nun im Zug nach Berlin entscheidet er, ohne länger nachzudenken, nach Frankfurt zu fahren und von dort nach Bagdad zu fliegen. Auf der Reise begleiten ihn seine Erinnerungen an seine Flucht aus dem Irak, an die demütigenden Erfahrungen in Deutschland. Etwa an das Schreiben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, das ihn nach sechs Jahren in München erreichte.
Es war der Bescheid über das Widerrufsverfahren bezüglich seines Asylstatus. Nach dem Sturz des irakischen Regimes, so hieß es in der Begründung, drohe ihm fortan „keine Verfolgung im Heimatland“. Die Rückreise sei zwingend. Oder besser gesagt: Ein grenzüberschreitender Fußtritt eines Polizisten ist unvermeidlich.
Dank der Unterstützung einer renommierten Anwaltskanzlei kam er zu einer unbefristeten Aufenthaltsbewilligung – der Prozess dauerte mehr als ein Jahr.
Es war eine anstrengende und deprimierende Zeit für Said. Er fühlte sich, als befände er sich in einer riesigen düsteren Höhle. Von irgendwo drang schwach und kaum sichtbar ein wenig Licht ein; niemals würde er den steinigen Weg bis dorthin schaffen, ohne zu stolpern und in die Leere zu fallen.
Drei Jahre später erlangte er dank der Hilfe des gleichen Anwalts die Einbürgerung.
Erneut überwies Said Al-Wahid seine Ersparnisse auf das Konto der Kanzlei. Nach beinahe einem Jahrzehnt in Deutschland war er also wieder pleite, hatte allerdings die gelobte Einbürgerungsurkunde in der Tasche. Er war ein Inländer auf Papier geworden.
Doch damit sind die Demütigungen nicht vorbei. Nur ein Beispiel: Eines Tages wird ihm in der Bayerischen Staatsbibliothek mitgeteilt, er habe kein Recht mehr, Bücher auszuleihen. Ob er Bücher von Terroristen ausgeliehen habe, wird er gefragt. Eine nähere Begründung bekommt er nicht. Fortan betritt er nur noch die Universitätsbibliothek persönlich, ohne Probleme, und bittet die Komiliton:innen, für ihn Bücher in der Staatsbibliothek zu holen.
Doch begleiten Said auf seiner Reise zurück in den Irak nicht nur die Erinnerungen an zahlreiche demütigende Erfahrungen während den mehr als zehn Jahren, die er bereits in Deutschland verbracht hat. Immer wieder kehrt er in seinen Erinnerungen zurück zu seiner Familie. Er erzählt vom Vater, der hingerichtet wurde, als Said acht Jahre alt war. Er erinnert sich nur splitterhaft an jenen Mann, bei dessen Tod niemand weinen durfte und dessen Grabstätte nicht bekannt ist. Auch Saids Schwester ist schon lange tot. Bei einem Bombenanschlag wurden Nabila, ihr Ehemann und die beiden Kinder „zerfetzt“. „Man fand nur Teile ihrer Körper.“ Said, den viele Gemeinsamkeiten mit dem Autor verbinden, verliert sich in diesen Erinnerungen an eine ausgelöschte Familie. Gleichzeitig denkt er nach über das Erinnern an sich, über die richtigen und die falschen Erinnerungen und darüber, dass es nicht um diesen Gegensatz gehen soll. Auch nicht in seinem Schreiben. Seit sein Sohn Ilias auf der Welt ist, übernimmt Monica das Geldverdienen – sie arbeitet als Sozialarbeiterin –, während Said Hausmann ist. Und sich seinem alten Traum widmet, dem Bücherschreiben.
Bevor Ilias geboren wurde, hatte Said nie innere Ruhe empfunden. Es hatte ständig eine gewisse Farblosigkeit und Bitterkeit in den Dingen gegeben, auch in den schönsten Momenten, die er erlebt hatte. Nun schlägt das Kind neue Wurzeln, und das Schreiben lässt neues Blut in den Adern fließen. Said Al-Wahid fühlt eine Zugehörigkeit zu allem um sich herum und eine Gelassenheit wie noch nie.
Weil es beim Schreiben immer auch um Erinnern geht, gleichzeitig um Fiktionalisieren, sind es diese drei Themenbereiche, die auch den Roman Der Erinnerungsfälscher zu einer besonderen Leseerfahrung werden lassen. Was ist die Wahrheit? Was erfunden? Wie viele Wahrheiten gibt es überhaupt? Welche Erinnerung ist die richtige? Oder sind verschiedene Erinnerungen gleichzeitig richtig? Doch wer sagt denn, welche Erinnerung die richtige ist, welche erfunden und welche gefälscht. Diese Frage bleibt letztlich unbeantwortet. Denn auch Said weiß es nicht – wohl zu seinem Glück.
Abbas Khider schafft einen faszinierenden Text über Herkunft, Fremde, Ankommen, Familie, Zugehörigkeit, Freundschaft und das Schreiben, mit dem alles eingefangen werden kann, ohne kausale Zusammenhänge schaffen zu müssen. Im Roman kommt Said Al-Wahib zu spät, seine Mutter ist tot. Er bleibt allein zurück. Zur Beerdigung will er nicht – er zieht es vor, die Zeit mit den Kindern seines Bruders Hakim zu verbringen.
Als alle ins Bett gehen, bleibt Said allein im Wohnzimmer sitzen. Er betrachtet das Familienfoto an der Wand, auf dem sie – vor langer Zeit – im alten Haus zusammenstehen. Seit Said angekommen ist, hat er es vermieden, dieses Foto anzuschauen. Er hasst Fotos, hat noch nie welche gesammelt. Fotos aufzubewahren, ist, wie Wunden zu sammeln. Daran glaubt er. Doch jetzt steht er dem Familienfoto gegenüber: Der Vater hält Saids Hand, die Mutter trägt Baby Hakim, Nabila steht lächelnd zwischen ihnen.
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