Dunst über Bella Italia

Esther Kinsky erzählt in „Hain“ von Reisen durch Italien, die auch Wege in die Erinnerung sind

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein Mensch stirbt, wird die brennende Kerze aus der Nische der viǐ in jene der morţǐ versetzt. Es ist ein schlichter Vorgang, bei dem die Zeit stillzustehen scheint. Esther Kinsky erinnert in ihrem Buch Hain an diesen Brauch, der in rumänischen Kirchen ausgeübt wird. „Die einen Kerzen leuchten der Zukunft, die anderen der Vergangenheit.“ So hatte sie es in einem Film gesehen – wenige Monate später „starb M. Ich wurde Hinterbliebene.“

Die kurze Reminiszenz leitet ein dreiteiliges Buch ein, das im Untertitel Geländeroman heißt. Esther Kinsky reist an Orte, die sie nie mit M. zusammen besucht hat: nach Olevano im östlichen Hinterland von Rom, und in die Valli di Comacchio im südlichen Po-Delta. Diese Orte, diese Landschaften bilden so etwas wie eine Passage zwischen der Nische der viǐ und jener der morţǐ: einen Raum, in dem sich die Hinterbliebene selbst gefangen fühlt.

Italien ist ein Sehnsuchtsland seit Jahrhunderten, „das Land, wo die Zitronen blühn“ bei Johann Wolfgang von Goethe. Damit verbinden sich Dolce Vita, Sonne und blauer Himmel. In Esther Kinskys Wegmarken durch italienisches Gelände ist davon allerdings nur wenig zu spüren. Für ihre Aufenthalte in Italien hat sie eine untypische Jahreszeit gewählt: die winterlichen Monate von Januar bis März. Entsprechend zeigt sich ihr ein anderes Land als die sommerliche Feriendestination mit ihrem lauten Treiben. Im Frühjahr ist das Wetter oft kühl und neblig, die Dinge fühlen sich klamm an, die struppige Natur lädt nicht zum Verweilen ein. Die Menschen verkapseln sich in ihre Häuser und verfolgen die Fremde mit stummer Abweisung. Es ergeht der Erzählerin wie jenen afrikanischen Flüchtlingen, denen sie immer wieder begegnet. Scheu versuchen diese, auf den Marktplätzen in Plastiktüten mitgeführte Socken oder Männerunterhosen zu verhökern. „Nie sah ich einen beim erfolgreichen Handel.“ Auch sie bleiben Fremde in den stummen Dörfern und Städtchen.

Hain ist ein ausgesprochen stilles, manchmal geradezu sprödes Buch, das verrät, wie sich die Ich-Erzählerin im existentiellen Zwischenraum der Hinterbliebenen zu sammeln versucht. Wie schon in Der Fluss erzählt sie von der Begegnung mit einer „minderen“ Landschaft, die fernab von Hochglanz und Fortschritt dem erzählenden Ich das Eintauchen leichter macht. Zog sie in jenem Roman durch den östlichen Hinterhof der Metropole London, erkundet sie in Hain vernachlässigte Landstriche in Bella Italia. Ihre Spaziergänge und Wanderungen gleichen Besuchen auf einer „Toteninsel“, die so gar nichts von überbordender Fröhlichkeit und sommerlicher Leichtigkeit verrät – und die die Erzählerin auch gar nicht ertragen würde. Mit scharfem Blick beobachtet sie die Kehrseiten des touristischen Zaubers: Menschen in ärmlichen Regionen, denen der Glaube an die Zukunft abhandengekommen scheint.

Esther Kinsky beschreibt wach, präzise und mit einer Ruhe, zu der sie sich selbst zu zwingen scheint. Sie möchte Abstand gewinnen. Dennoch dringen immer wieder Erinnerungen an M. in ihre Kontemplation durch, wie um die elegische Verbundenheit mit diesen Landschaften zu bekräftigen, die sich unter dem winterlichen Dunst ducken.

Anstatt die Segnungen der Kunst, Architektur und Geschichte zu bewundern, besucht sie lieber die Friedhöfe, die mal mitten im Dorf liegen, mal weitab ins Niemandsland abgeschoben wurden. Sie wandert in Olevano an den Gräbern vorbei und entziffert auf den Grabplaketten die Namen der Verstorbenen. Sie vergleicht die Fotos miteinander. Während die einen auf den Medaillons den Lebenden direkt entgegenblicken, vermeiden andere den Augenkontakt mit diesen, worin „womöglich eine viel größere Versöhntheit mit dem Tod [liegt] als in dem Ersuchen um Erinnerung aus der Ferne eines längst vergessenen Augenblicks“. Die Erzählerin meidet die Menschen, sie hält sich an die Vögel: den Seidenreiher, „dem Unsteten verschrieben“, den unsichtbaren Grünspecht, dessen Laute sie vernimmt, die zwitschernden Meisen, den kreisenden Sperber.

Ummantelt von den einsamen Spaziergängen in Olevano und im Po-Delta erzählt Hain in einem mittleren Kapitel vom verstorbenen Vater der Erzählerin, mit dem sie vielfach Italien besuchte. Er, der er sich zuletzt in seinem Leben als Reiseführer betätigte, sprach italienisch und war fasziniert von der etruskischen Kultur. Mit den väterlichen Reisen – die Mutter taucht nur am Rande auf – mischen sich hin und wieder doch Ferienstimmung, Sonne und Wärme in die Erinnerungen der Erzählerin. Eine späte Fürsprache des Vaters in Gedanken, begibt sie sich deshalb am Ende nach Ravenna, um die faszinierenden Mosaikbilder in der Basilika SantʼApollinare zu besuchen.

Esther Kinskys Erzählerin tastet sich, wie sie schreibt, „an den dünnen Fadenspuren“ entlang, „die sich zwischen meinen Erinnerungen und Bildern, Orten, Namen spannten“. Sie durchmisst ein Gelände, „das in mir seine Spuren hinterließ, ohne dass von mir eine lesbare Spur blieb.“ Vielleicht öffnet der Besuch der Mosaikbilder in Ravenna einen Weg zurück ins Leben. Im Roman heißt es: „Todesnachrichten sind Scheren oder scharfe Messer, die den Film der Welt durchtrennen“. Mit Hain versucht die Erzählerin behutsam, den eigenen Film wieder zusammenzufügen.

Titelbild

Esther Kinsky: Hain. Geländeroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
287 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427897

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