Sie lebte und schrieb, um sich vollständig auszuschöpfen

Simone de Beauvoirs Leben wird von Kate Kirkpatrick gründlich analysiert

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Simone de Beauvoir (1908–1986), die französische Autorin, die von sich gesagt hat: „Ich bin keine Philosophin. Aber ich bin von der Philosophie durchdrungen“, ist eine der bedeutendsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Sie wurde bekannt durch ihre vier Memoiren-Bände, die mitreißende und präzise Zeitgemälde sind, geschrieben in einem klaren klassischen Stil, ferner durch Romane und Essays sowie vor allem durch ihre umfangreiche Studie Le Deuxième Sexe (Das andere Geschlecht), die als die Bibel der feministischen Bewegung gilt. Hier steht der Satz: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Beauvoirs verschiedene langjährige Liebespartner waren zugleich ihre intellektuellen Freunde, unter ihnen als der bekannteste der Philosoph Jean-Paul Sartre und der Regisseur Claude Lanzmann. Sie wurde oft angegriffen, besonders in ihren späten Jahren. Für die Konservativen war sie eine ehrlose Frau (François Mauriac schrieb nach der Beauvoir-Lektüre: „Nun kenne ich ihre Vagina“), den Linken war sie nicht klassenkämpferisch genug, den jüngeren Feministinnen war sie zu bürgerlich-traditionell (sie wollte „immer die Männerrolle spielen“, hieß es in La Libération, der französischen taz).

Dass sie auch lesbische Beziehungen gepflegt hat, wurde erst nach ihrem Tode bekannt, als ihr Tagebuch und ihre Briefe an Sartre publiziert wurden. Das war ein besonderes Skandalon. Inzwischen sind sich die Kritiker einig, dass auch eine Memoirenschreiberin das Recht hat, etwas zu verschweigen und sich so die Souveränität und die letzte Kontrolle über ihr Schreiben zu erhalten. Dies umso mehr, als 2018 Beauvoirs Hauptwerke mit reichem Kommentar in die renommierte Reihe La Pléiade aufgenommen worden sind. Die Schriftstellerin hat damit ihre öffentliche Weihe erhalten. Da ist es nur folgerichtig, nun eine Biografie über diese große Frau zu verfassen.

Kate Kirkpatrick hat ihr Buch in 16 Kapitel unterteilt. Beauvoir stammt aus Pariser großbürgerlichen Kreisen; sie wird katholisch erzogen. Nach einem Studium mit glänzenden Noten wird sie Gymnasiallehrerin im Fach Philosophie. 1929 schließt sie mit dem etwa gleichaltrigen Sartre einen intimen Freundschaftsbund, der lebenslang gelten soll (und dann auch tatsächlich gilt) und doch nicht zur Treue verpflichtet. Ab 1943 ist sie freie Schriftstellerin, ihr erster Roman und ihr philosophischer Essay Pyrrhus und Cinéas erscheinen. Wir erfahren auch Details über Beauvoirs geistige Entwicklung. Als Kind liebt sie Gottesdienste und das religiöse Meditieren, später liest sie philosophische und theologische Werke französischer und deutscher Denker und die modernen amerikanischen Erzähler; Kirkpatrick listet fast 50 Autoren auf!

Das 10. Kapitel mit dem Titel „Königin des Existenzialismus“ und das 11. Kapitel beschreiben die als existenzialistische Philosophin erfolgreiche Schriftstellerin. Sie ist 1944, nach der Befreiung Frankreichs von den Deutschen, Mitbegründerin der Zeitschrift Les Temps Modernes und unternimmt 1947 und 1948 Vortragsreisen in die USA. Dort profiliert sie sich mit Thesen über die Unterdrückung der Frau.

Die letzten Kapitel stellen dar, wie Beauvoir zunehmend für soziale Fragen sensibel wird. 1949 erscheint Le Deuxième Sexe, das weltweiten Erfolg hat. Beauvoir agiert gegen politische und soziale Missstände und stellt sich im Mai 1968 auf die Seite der rebellierenden Studenten. Ihre Gesellschaftskritik wird schärfer und abstrakter, 1972 erklärt sie in einem Zeitungsartikel: „Ich bin für die Abschaffung der Familie.“ Sie unternimmt weitere große Reisen: nach Kuba (kurz nach der Revolution), in die Sowjetunion und nach China. Zwischen 1958 und 1972 erscheinen ihre Memoiren. In der Zeremonie des Abschieds (1981) und anderen Schriften setzt sie sich mit dem Sterben auseinander.

Simone de Beauvoir führte ein vorwärtsdrängendes Leben. Freiheit und Disziplin waren ihr gleichermaßen wichtig. Sehr aufschlussreich sind da drei Themenbereiche dieser Biografie. Zum einen: die Moralistin Beauvoir. Die Lehre des Existenzialismus ist individualistisch geprägt („Der Mensch ist das, wozu er sich macht“, so Sartres Devise), aber Beauvoir geht weiter. Sie erörtert die Spannungen, die daher rühren, dass man Einzelner und zugleich Gesellschaftswesen ist, und erkennt, dass das Handeln immer von den Entscheidungen anderer abhängt. Die eigene Freiheit verwirkliche sich darin, dass sie anderen ihre Freiheit ermöglicht. Wer das missachte – so die Folgerung im Essay Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (1947) – sei geistig tot.

Zum anderen: Beauvoirs lesbische Liebschaften. Sie war um die dreißig, ihre Partnerinnen (Olga Kosakiewicz, Bianca Bienenfeld, Nathalie Sorokine) waren ihre Schülerinnen, zwischen 17 und 20 Jahre alt. Ausgangspunkt war, dass Beauvoir sich in die drei Mädchen rasend verliebte, während es die drei vor allem genossen, von ihrer Philosophielehrerin bevorzugt zu werden. Beauvoir muss eine beeindruckende Lehrerin gewesen sein. Lebenslang war sie sich einer Schuld bewusst (besonders im Falle Bienenfelds, die kurze Zeit sogar noch Sartres Geliebte wurde), doch bis zuletzt blieben die drei Frauen, die alle heirateten, freundschaftlich mit Simone verbunden.

Schließlich: das Liebesverhältnis mit dem amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren (1909–1981). Die beiden lernten sich 1947 in Chicago kennen. Die Beziehung währte bis 1965, als Algren, der sogar zur Heirat bereit war, aus Beauvoirs Buch La Force des choses (Der Lauf der Dinge) zu seinem Entsetzen erfuhr, wie wichtig ihr Sartre war. Gleichwohl waren es viele Jahre einer tief empfundenen Liebe, die in gegenseitigen Besuchen und gemeinsamen Reisen durch Europa und durch Nordamerika gelebt wurde. Freilich hing Beauvoir so an ihrem Pariser Umfeld, dass sie einmal eine Reise mit Algren nach Mexiko vorzeitig abbrach. Sie bekannte ihm gegenüber: „Ich liebte Sie um der Liebe willen, die Sie mir gegeben hatten […].“

Interessant noch dies: Simone de Beauvoirs Vielseitigkeit erkennt man schon, wenn man im Schlussteil der Biografie blättert. Ein Foto präsentiert Simone bei einem multikulturellen Sit-in, ein anderes zeigt ihr gepflegt bürgerliches, fast plüschiges Wohnzimmer, und eine Textpassage dicht dabei erzählt, wie sie und ihr amerikanischer Lover das „‚Crazy Horse‘ oder andere Stripclubs“ frequentieren.

Kirkpatricks Absicht ist, exakt zu beschreiben und historisch einzuordnen, weniger will sie bewerten. „Was dachte sich Beauvoir dabei?“, fragt sie einmal, ohne eine Antwort zu geben. Kirkpatricks Stil ist ungekünstelt und leicht lesbar, was natürlich den beiden Übersetzerinnen mit zu verdanken ist. Sie hat sorgfältig recherchiert, auch was die politischen Ereignisse – die deutsche Besatzung in Paris, den Algerienkrieg, die Sexismus-Debatten – betrifft, und insbesondere die zahlreichen Briefwechsel durchgearbeitet. Ihr Personenregister enthält 300 Namen.

Ärgerlich an dieser Edition ist, dass die Übersetzerinnen sich allein an der deutschsprachigen Leserschaft und dem deutschen Literaturmarkt orientiert haben. Nur ganz selten und dann leider mit allerlei Druckfehlern werden französische Buchtitel oder französische Begriffe genannt. Etwa heißt es in der Bibliografie: „In den besten Jahren, Reinbek, Rowohlt 1969“. Dass es sich hier um das Werk La Force de l’âge, erschienen 1960, handelt, geht völlig unter, übrigens auch das Faktum, dass Rowohlt die erste Auflage schon 1961 herausgebracht hat.

Kirkpatrick erklärt, indem sie die norwegische Feministin Toril Moi zitiert, die Beauvoir habe ihren Geist „vollständig ausgeschöpft“. Man möchte sagen: Genau dies zeigt uns diese ausgezeichnete Biografie.

Titelbild

Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben.
Aus dem Englischen von Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson.
Piper Verlag, München 2020.
576 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783492070331

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