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Neue Literatur im Zeichen von Johann Wolfgang Goethes „Divan“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nun ist es beinahe vorbei, das Jubiläumsjahr: Vor zweihundert Jahren legte Johann Wolfgang Goethe den West-Östlichen Divan vor, die große Gedichtsammlung seines Alters – inspiriert von der Dichtung Persiens, der Türkei und der arabischen Welt, befeuert von der Liebe zur Frankfurter Bankiersgattin Marianne von Willemer, die sich mit einigen Gedichten selbst im Buchverewigte. Dass der Divan in den letzten Jahren so viel Resonanz fand, hat mit der politischen Großwetterlage seit dem 11. September 2001 zu tun und mit den Fragen, die sich daraus ergeben: Was ist der Islam? Welches Verhältnis sollte Europa zu ihm einnehmen? Werden die Flüchtlinge des Jahres 2015 auf mittlere Sicht die deutsche Gesellschaft verändern und wenn ja, wie?

Nicht, dass sich für Goethe diese Fragen so gestellt hätten; dafür war der Orient im Jahr 1819 zu exotisch und zu fremd, trotz aller Reiseberichte, die Goethe ebenfalls mit Interesse las. Seine intensive Beschäftigung mit dem Orient entstand zwar aus einer für die Zeit ungewöhnlichen Weltoffenheit heraus. Wahr ist aber auch, dass der Divan einen eskapistischen Zug hat. Goethe ging es darum, „im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten“, um dem teutonischen Patriotismus der Jahre 1813ff. zu entgehen und sich dafür eine neue poetische Weltgegend zu erschließen.

Goethes Interesse erstreckte sich weniger auf das Osmanische Reich, das Persien oder Indien seiner eigenen Zeit als auf auf schon damals jahrhundertealte Dichtungen. Die Texte las er selbstverständlich nicht im Original, sondern vermittelt durch vorzügliche Editionen europäischer Gelehrter, allen voran Josef Hammer-Purgstalls Übersetzungen des persischen Dichters Hafis. Diese Ausgaben hatten wiederum – direkt oder indirekt – den Kolonialismus in diesen „fernen“ Weltgegenden zur Voraussetzung, zumal den britischen und französischen, der ihnen Zugang zu den alten Manuskripten verschaffte. Und „Patriarchenluft“ schmeckt zudem nicht gerade nach parlamentarischer Demokratie. In gewisser Weise blieb Goethe zeitlebens ein Mann des 18. Jahrhunderts, für den es 1789 nicht gebraucht hätte, solange ein weiser, aufgeklärter Herrscher am Ruder saß, umgeben von kompetenten Beratern. Diese Fremdheit gegenüber den Idealen unserer Zeit ändert nichts an der lyrischen Größe des Divans, der seine Leser*innen 1819 in ungekannte Weiten führte – und beim Publikum auf entsprechendes Desinteresse stieß.

Wenn sich Literatur heute vom Divan inspirieren lässt, dann nicht, um aus der Gegenwart zu fliehen, sondern um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dies gilt auch für Michael Kleebergs Roman Der Idiot des 21. Jahrhunderts und die Gedichtsammlung A New Divan, die beide auf ihre Art den Dialog zwischen islamischen und westlichen Kulturen propagieren. Dabei ist der 1959 geborene Kleeberg trotz langer Karriere als Romancier eher ein Geheimtipp im Literaturbetrieb. Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan, sein dreizehnter Roman, zitiert im Titel neben Goethe gleich noch Fjodor M. Dostojewskis Helden Fürst Myschkin an, der fast zu gut für diese Welt ist, und am Ende seines Romans dem Wahnsinn verfällt. Ganz so dramatisch geht es bei Kleeberg nicht zu. Vielmehr nimmt er den Titel Divan ernst, der auch Sammlung, Zusammenkunft bedeutet. Im Haus des Paares Bernhard und Ulla, gelegen in Hauenstein im Taunus, kommt an einem Augustabend des Jahres 2015 ein großer Kreis von Verwandten, Freunden und anderen Gästen zusammen, um einander Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen.

Das Besondere ist nun, dass hier Gäste mit sehr unterschiedlichen Lebensläufen zusammenkommen. Nicht nur aus Hessen, sondern auch aus dem Iran, Syrien und dem Libanon. Ihre Geschichten verweben sich miteinander, ebenso wie viele der Figuren eine Biografie haben, die sich über mehrere Länder erstreckt. Wie nebenbei erfährt man etwas über die Gesellschaftsstruktur von Beirut während des Bürgerkriegs oder die strenge Ausbildung im persischen Gesang. Ein berühmter arabischer Dichter geht auf Lesetour, verliert seinen Mantel samt Ausweis und wird ins Asylbewerberheim gesperrt, während sein in Deutschland gekauftes Kleidungsstück an seiner Stelle vorträgt und politische Statements abgibt. Ein polnischer Handwerker berichtet von seinen regelmäßigen Reisen in den Westen, eine alte Frau von einer wahnwitzigen Flucht unter der Berliner Mauer hindurch. Der titelgebende „Idiot“ ist der Musiker und Lehrer Hermann, der gemeinsam mit der Perserin Maryam die größte Liebesgeschichte des Romans erlebt.

Ganze Welten, die der Leserin eines deutschen Durchschnittsromans sonst entgehen, werden in diesem Buch im Vorbeigehen erschlossen. Das ist Literatur, in der es um die existenziellen Dinge geht, und das auf hohem sprachlichem Niveau, in einer stilistischen Vielfalt, die ihresgleichen sucht; der Text changiert zwischen hoher Poesie, Traktatton und schnodderigem Alltagsjargon, je nachdem, was die Handlung gerade fordert. Das hat so gar nichts von den betont coolen, aber gleichförmigen Fünfwortsätzen, die man mit den Schreibschulen von Hildesheim und Leipzig verbindet.

In der Mischung, den hybriden Biografien vieler Figuren sind Orient und Okzident tatsächlich nicht mehr zu trennen, ganz wie Goethe dekretierte. Was nicht heißt, dass Kleeberg den Islam und die Muslime idealisiert. So lässt er einen assyrischen Christen aus Frankfurt zu Wort kommen, der vor der Übernahme Europas durch den Islam warnt. IS-Anhängerinnen und überzeugte Salafisten werden zitiert, wenn nicht im Originalton, so doch in einer glaubwürdigen Simulation. Das düstere Leben im Iran, das die Sängerin Maryam über Jahre hinweg erdulden muss, wird ungeschönt geschildert. Der mantellose Dichter wird von brutalen Algeriern ausgeraubt. Aber all das gehört in ein größeres Bild, in dem Ost und West sich nicht wie Schwarz und Weiß gegenüberstehen, sondern in all ihrem Reichtum und mit allen Grautönen gezeichnet werden sollen. Das Buch stellt sich den besagten Fragen der Gegenwart, seine Bilanz fällt im Großen vorsichtig optimistisch aus, im Kleinen ohnehin: Der Zirkel der Figuren lebt nicht ohne Konflikte, aber im Großen und Ganzen verkörpert er ein harmonisches Miteinander. Der Idiot des 21. Jahrhunderts ist nicht nur ein zutiefst humanistisches Buch, es ist auch große Literatur.

Nicht ganz so überzeugend ist die Anthologie A New Divan / Ein neuer Divan, die ihr Anliegen schon im Titel nennt: Nämlich zum 200. Jahrestag des Goethes-Bandes Dichter aus Ost und West zusammenzubringen und in den Dialog treten zu lassen. Dieses Projekt erscheint in einer deutschen und einer englischen Ausgabe; dem Rezensenten lag letztere vor. In welcher Tradition sie steht, machen die beiden Vorworte klar. Sie stammen vom israelischen Dirigenten Daniel Barenboim und der Witwe des palästinensisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Edward W. Said. 1999 hatten Barenboim und Said das West-Eastern Divan Orchestra gegründet, in dem junge Musiker aus Israel und Palästina nicht nur zusammenspielen, sondern sich auch wechselseitig ohne Angst kennen und respektieren lernen können – „to know ‚the Other‘ as equal through music and to learn to think in alternate ways“, wie Mariam C. Said es ausdrückt. Gegenseitiger Respekt durch das Kennenlernen von Dichtung, wenn auch in Übersetzung, das ist die Mission von A New Diwan. Wo Kleeberg diese Botschaft durch seine vielfältigen, aber immer auf Deutsch erzählten Geschichten vermittelt, steht hier das Mission Statement, dem dann alle Gedichte gerecht werden sollen. Soweit jedenfalls der Anspruch.

Die Herausgeber Barbara Schwepcke und Bill Swainson bringen hier je zwölf „westliche“ und „östliche“ Dichter zusammen, die sich jeweils mit Motiven und Formen der westlichen und orientalischen Dichtung, dem Kulturaustausch und seiner Bedrohung durch politischen Chauvinismus beschäftigen. Mit Durs Grünbein, Raoul Schrott und Jan Wagner ist dabei auch die (männliche) Creme der deutschsprachigen Gegenwarts-Lyrik vertreten. Alle Gedichte sind dabei sowohl im Original als auch auf Englisch beziehungsweise Deutsch abgedruckt. Dadurch, dass sie sozusagen in denselben Standard übersetzt werden, wird theoretisch ein Austausch zwischen den Autorinnen und Autoren möglich, wie ihn Goethe als Herzstück einer „künftigen Weltliteratur“ sah. Welche Qualität die Originale sowie die Übersetzungen haben, lässt sich für jemanden ohne die entsprechenden Sprachkenntnisse nur schwer erschließen. In vielen Fällen arbeiten die Übersetzer mit wörtlichen Übertragungen der Originale, die sie dann poetisch überformen. Anders als Kleebergs Figuren sind die Dichter des New Divan selbst keine hybriden Figuren – die kulturelle Hybridität kommt hier in der Übersetzung zustande. 

Zu lesen sind dann Gedichte von höchst unterschiedlicher Qualität: Eindringlich sind etwa das Eingangsgedicht Letter to Goethe des syrischen Altmeisters Adonis oder The Name of the Sad Dove des persischen Dichters Hafez Mousavi, das witzig mit Allusionen auf die deutsche Literatur von Goethe bis Paul Celan spielt, um dann eine religiöse Leere im Herzen der westlichen Kultur zu beklagen: „the name of the sad dove that’s flown their hearts is faith“. Schön auch Don Patersons sarkastische Eleven Maxims from the Book of Ill-Humour oder Fatemeh Shams Electrocardiogram. Auch Jan Wagners Ephesusghasele, in dem er kunstvoll die orientalische Form mit ihrem immer wiederkehrenden Reim nutzt, ist lesenswert. Aber nicht alle Gedichte – oder zumindest ihre Übersetzungen – bewegen sich auf diesem Niveau. Wenn Durs Grünbein dichtet „Groß in Mode heute ist das Kampfwort: Lüge“, möchte man ihm zwar zustimmen. Lyrisch bleibt er mit der thesenhaften Trilogie Der Teufel im Orient leider unter seinen Möglichkeiten. 

Ergänzt werden die 24 Gedichte um eine lockere Folge von sechs Essays, die sich mit dem literarischen Kulturtransfer zwischen Ost und West beschäftigen. Interessant ist hier vor allem Sibylle Wentkers Ehrenrettung der Hafis-Übertragung von Josef Hammer-Purgstall, die zwar Goethe zu seinem eigenen Divan inspirierte, die aber in der Forschung oft als mittelmäßig abgetan wird. Allerdings, so erinnert sie uns, können die allermeisten Goethe-Philologen (der Rezensent eingeschlossen) das mangels Sprachkenntnissen überhaupt nicht beurteilen. Stattdessen zeichnet sie den österreichischen Philologen Hammer-Purgstall, mit dem Goethe in anderen Kontexten direkt zusammenarbeitete, als kompetenten Übersetzer, der dem Ton des Originals gerecht zu werden suchte, auch wenn er aus den Vieldeutigkeiten der Originals zwangsläufig jeweils eine Variante auswählen musste. Dadurch, so Wentker, kam es zu einer Vernachlässigung der religiösen Dimension in Hafis’ Werk. Aber hätte ein „religiöserer“ Hafis den ausgesprochen säkular ausgerichteten Goethe zu seinem Zyklus inspirieren können? Wohl kaum.

Die Probleme, die sich für Hafis stellten, zeigen die Überlegungen von Narguess Farzad, Stefan Weidner und Kadhim J. Hassan, die jeweils über adäquate Wege nachdenken, ob und wie westliche Dichtung in persische und arabische oder umgekehrt übersetzt werden kann. Die sechs Aufsätze des zweiten Teils lassen sich so auch als Reflexion über das Projekt des New Divan lesen. Tatsächlich ist der Aspekt der Vermittlung bei Schwepckes und Swainsons Unternehmen nicht zu unterschätzen, und es spricht für sie, wenn sie auch die reflektierenden Beiträge in ihr Projekt aufnehmen. Wenig thematisiert wird in den Essays allerdings, welche Weltoffenheit und Neugier nötig ist, um sich überhaupt mit diesen Themen zu beschäftigen. Diese mag häufiger und reflektierter auftreten als zu Goethes Zeiten, eine Selbstverständlichkeit ist sie nicht. Das Unternehmen des New Divan ist zwar nicht so unmittelbar politisch, wie Barenboims und Saids Vorworte es suggerieren. Man sollte aber auch nicht glauben, dass ein lyrischer Austausch allein das gegenseitige Unverständnis der kulturellen Puristen überwinden wird.

Titelbild

Michael Kleeberg: Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan.
Galiani Verlag, Berlin 2018.
458 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711393

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Bill Swainson / Barbara Schwepcke (Hg.): A New Divan. A Lyrical Dialogue between East and West.
Gingko, London 2019.
187 Seiten,
ISBN-13: 9781909942288

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