Die japanische Kultur des antistaatlichen Widerstands nach 1945

Till Knaudt beleuchtet in „Von Revolution zu Befreiung“ ein Kapitel kaum bekannter Zeitgeschichte

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von literarischer Warte aus ist die 1968er Studentenbewegung Japans relativ präsent, wenn man an die Werke Murakami Harukis denkt, der sich etwa in Naokos Lächeln (Noruwei no mori, 1987) auf diese wichtige Phase der Zeitgeschichte bezieht. Jay Rubin, Verfasser von Murakami und die Melodie des Lebens (2004), erklärt, der Autor habe in dem Text die Campus-Radikalen ironisiert, was plausibel klingt angesichts folgender Zeilen aus dem Roman, die den Auftritt von zwei Aktivisten in einem Seminar beschreiben:

Während der Lange die Flugblätter verteilte, trat der Dicke auf das Podium und fing an zu reden. Das Flugblatt bestand aus den üblichen Parolen. „Nieder mit der Manipulation bei der Wahl des Unipräsidenten“ – „Mobilisierung aller Kräfte für den Uni-Streik“ – „Nieder mit dem imperialistischen Bildungssystem“. Gegen den Inhalt hatte ich nichts, aber der Stil war bar jeder Überzeugungskraft, weder vertrauenserweckend noch mitreißend. Und die Rede des Dicken war noch schlimmer. Immer die alte Leier. Die gleiche Melodie mit wechselndem Text. Meiner Meinung nach war nicht der Staat der wahre Feind dieser Leute, sondern ihr Mangel an Phantasie.

Unentdecktes Land

Während Murakamis Urteil über die Studentenbewegung und ihre Vertreter doch eher zurückhaltend auszufallen scheint, weiß der deutsche Leser die damalige Situation nur schwer einzuschätzen: Zu wenig ist über die Entstehung und die Entwicklungen des studentischen Aktivismus von 1968 bekannt. Auch in Fachkreisen ist das Thema kaum behandelt worden. Nun wagt Till Knaudt mit der Veröffentlichung seiner 2014 eingereichten Dissertationsschrift in aktueller Buchfassung (2016) einen neuen Zugang zur Materie. Unter dem Titel Von Revolution zu Befreiung. Studentenbewegung, Antiimperialismus und Terrorismus in Japan (1968–1975) behandelt der Heidelberger Japanologe die politischen Strömungen der Nachkriegsdekaden im Zeichen einer antistaatlichen Protestkultur. Dabei fallen in der Gliederung zentrale Begriffe wie „soziale Bewegungen“, „Terrorismus“, „Neomarxismus“, „Antiimperialismus“, „Dritte-Welt-Theorie“, „Kommunismus“, „Nachkriegskapitalismus“, „Neue Linke“, „Antijapanismus“ und „Antikolonialismus“. Knaudt geht, so der erste Eindruck, chronologisch vor, wenn er, beginnend im zweiten Kapitel mit einem Exkurs zu Kommunismus und Neomarxismus, verschiedene Stationen und Stadien politischen Denkens und politischer Aktion mit Anfängen im Neomarxismus, einer Neuorientierung an „Minderheiten- und Prekariatstheorien“ und einer weiteren Ausprägung auf dem Feld des Antikolonialismus bis hin zu Antijapanismus und Terrorismus beschreibt.

Im Detail greift der Autor spannende Themen wie die Entstehung des Antijapanismus in der Neuen Linken, die transpazifische Weltrevolution, die Buraku-Befreiung und die Wiederentdeckung der Ainu-Nation auf, um ein Tableau des Wandels der ideologischen Orientierungen in der antistaatlichen Protestszene Japans zu entwerfen. Angerissen werden zudem die Kommentare und – in Bezug auf die Analyse von Reinold Ophüls (1998) – die familientheoretischen Erwägungen des bekannten „Intellektuellen“ und neomarxistischen Denkers Yoshimoto Takaaki (1924–2012); dessen zum Teil widersprüchliche Argumentationen kann man allerdings auf knappen acht Seiten kaum adäquat rezipieren.

Die Rolle von Politik und Protest in der japanischen Gegenwartsgesellschaft ist spätestens seit den Kundgebungen vor der Residenz des Ministerpräsidenten anlässlich des Aufbrandens von Volkes Unwillen im Zusammenhang mit „3.11“, das heißt der Dreifachkatastrophe von Fukushima und den unbewältigten Folgen der Reaktorhavarien, wieder ins Blickfeld der politisch bewussten Öffentlichkeit im Westen geraten. In den Japanwissenschaften hatten die Ereignisse eine neue Beschäftigung mit der japanischen Protestkultur und ihrer Geschichte zur Folge. Seit Fukushima behandeln etliche Studien einschlägige Themen im Kontext von Politik, Gesellschaft und – um es mit einer aktuellen Vokabel auszudrücken – versuchen, eine neue Form von Widerständigkeit zu beschreiben. Vorausschickend sei festgehalten, dass der materialreiche Beitrag deshalb für etliche Forschungsfelder der Japanologie ebenso wie für die Geschichtswissenschaften beziehungsweise für die politische Ideengeschichte oder für neuere Forschungsgemeinschaften zu Protestkulturen wie das Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) von großem Interesse sein dürfte.

Schwierigkeiten mit Rahmung und Begriffsfülle

Der Titel der Studie benennt „Studentenbewegung“, „Antiimperialismus“ und „Terrorismus“ als die im Fokus der Betrachtung stehenden Momente – in der Gliederung finden sich weitere Schlüsselbegriffe. Die großflächige Streuung dieser Leittermini bedingt eine strukturelle und definitorische Vagheit, die es etwas erschwert, ein völlig klares Bild der komplexen Gemengelage um den japanischen antistaatlichen Aktivismus in Theorie und Praxis zu erlangen. Eventuell hätten Titel wie eben „antistaatlicher Aktivismus in Japan 1945–1970“ oder „Zeit- und Ideengeschichte der Neuen Linken“ – Knaudt subsumiert die Erkenntnisse der Abhandlung am Ende in ganz ähnlicher Diktion – den Inhalt der Studie besser wiedergegeben, ist es doch im Grunde nicht die Analyse der Studentenbewegung als solche, die den Band ausmacht, sondern die facettenreiche Rekonstruktion einer Zeitgeschichte des japanischen linksradikalen Widerstands nach 1945, der sich in verschiedenen Gruppierungen unter diversen ideologischen Konzepten und Aktionsplänen zusammenfand. Unklar bleibt auch das Motto „Von Revolution zu Befreiung“. Knaudt definiert die Begriffe nicht systematisch und vertritt selbst die zum Motto doch konträr stehende aber plausible Ansicht, die Geschichte der Studentenbewegung könne heute nicht mehr linear und quasi monokausal erzählt werden, wie dies in den seltenen Vorgängerstudien (Claudia Derichs 1995) noch der Fall gewesen sei. Dabei hebt er die sozialwissenschaftlichen, auf Feldstudien beruhenden Analysen von Patricia Steinhoff, ihrerseits im Besitz eines Archivs, das sie Knaudt zugänglich machte, lobend hervor. Schade, dass er nicht einfach die günstige Gelegenheit genutzt und bislang unerschlossenes Material aus diesem Fundus in den Mittelpunkt seiner Studie gestellt hat.

Der Verfasser distanziert sich also von Ansätzen organisationsstruktureller (Derichs) und sozialpsychologischer Art (Oguma), deutet die eigene Perspektive auf die Dinge aber letztlich als eine sozialhistorisch-ideengeschichtliche (nicht auch multidisziplinär sozialwissenschaftliche oder mentalitätsgeschichtliche? Siehe die erste Einordnung von Ogumas umfangreicher Forschung), „postmoderne“ sowie am Problem der Differenz zwischen Theorie und Praxis orientierte an, während diese Forschungskonstellation nur implizit zu Tage tritt oder zumindest einigermaßen skizzenhafte Züge aufweist. Wäre der Fokus der Studie das Theorie-Praxis-Gefälle innerhalb der radikalen Linken gewesen, hätte sich die Charakterisierung des Zugangs etwa mit der Themensetzung „historische Analyse der terroristischen Praxis“ in Japan angeboten.

Die vorliegende Arbeit, erschienen in einer Reihe zur Globalgeschichte, beabsichtigt die Geschichte des japanischen Widerstands – unter anderen Aspekten – aus transnationaler Sicht zu kommentieren, was mit dem Jahr 2008 als dem 40. Jahrestag der Bewegung state of the art im Forschungsfeld sei. Zudem spiele die „Postmoderne“ für den Zugang zum Thema eine zentrale Rolle. Letzteren Aspekt konturiert der Verfasser mit dem Hinweis, dass er die Theorie und Praxis der Neuen Linken nicht in eine „große Erzählung der Entstehung der Postmoderne“ einbetten möchte, sondern vielmehr eine postmodernistische Entwicklungslinie nachvollzogen werden soll, die die kapitalistische und kommunistische Moderne kritisch wahrnehme und mit „Raumkonzepten“ sowie mit „Konzepten von Autonomie und Identität“ argumentiere – eine Aussage, die als solche nachvollziehbar ist, jedoch den Wunsch aufkommen lässt, dass die neu genannten Koordinaten „Postmoderne“, „Raumkonzepte“, „Autonomie“ und „Identität“, am besten schon auf den ersten Seiten der Studie, mit den anderen Termini in einen Zusammenhang und in einen hierarchischen Bezug gestellt werden mögen.

In puncto Postmoderne fällt dann der Schlusssatz der Studie auf, der sich sprachlich als durchaus wirkungsvoll erweist, inhaltlich aber enigmatisch bleibt: „Auch die Postmoderne wurde mit Gewalt geboren“. Wird hier „Postmoderne“ als Ideologie verstanden, die ein Wissenschaftler in diesen Tagen gewissermaßen zu würdigen und ihr nahezustehen habe, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Radikalität nicht fremd sei? Gegen welche zu überwindenden Positionen wird demzufolge angegangen? Solchen Überlegungen schließt sich die Frage nach der beiläufigen Erwähnung bestimmter Anglizismen wie „frame alignements“ oder „flows“ an, die auf einen theoretischen Kontext hinweisen, der in der Einleitung der Studie nicht konsequent als der wesentliche Bezugsrahmen erörtert wurde. Eventuell hängt dieser Umstand mit der wissenschaftlichen Prosa zusammen, in der Knaudt die spannenden Einblicke vorträgt und die den Text in seinen berichtenden Passagen gut lesbar macht. Es ist nicht unbedingt die „stilistische Askese“ (Wolfgang J. Mommsen) des gegenwärtigen Historikers, der sein Sujet meist relativ trocken darbietet, sondern die Beschreibungssprache des historiografischen Japanologen, der aufgrund seiner kulturwissenschaftlich-ideengeschichtlichen Grundlagen das wissenschaftliche Narrativ in Teilen manchmal literaturnah gestaltet.

Die peinliche Bombe und die Frauen

Ein solch erzählerisches Moment wäre zum Beispiel mit der Passage gegeben, in der Knaudt vom Scheitern der Bewegung um Katô Saburô durch einen „peinlichen Unfall“ berichtet. Das Ende gerät spektakulär, denn: „Katô hatte – zusammen mit einer weiteren Aktivistin – allerdings Schwierigkeiten beim Scharfmachen des Zeitzünders, die schließlich zu einer ungeplanten Explosion der ‚Scheiß-Bombe‘ in der Wohnung von Katô führten“. Bei dieser Szene stellt sich freilich die Frage nach gewollter Legendenbildung durch bestimmte Akteure sowie nach dem Gehalt der Information in Bezug auf ihre ideologische und zeitgeschichtliche Signifikanz. Insgesamt hätte Knaudts Darbietung des sehr informativen Materials noch strukturierterer Abschnitte, einer Hierarchisierung der Begrifflichkeit und einer strikteren Erzähllogik bedurft, die sowohl die eine wesentliche Herangehensweise beziehungsweise eine stringente Leitthese und die eigene Position des Wissenschaftlers zu seinem Stoff sowie zu der von ihm favorisierten theoretischen Linie nachvollziehbarer gemacht hätten.

Von einer neuen Sichtung der japanischen Neuen Linken hätte man sich darüber hinaus gewünscht, dass sie die Rolle des weiblichen antistaatlichen Aktivismus zeitgemäßer, das heißt ausführlicher und sensibler aufarbeitet: Zum Beispiel mit einer Neubewertung des Lebenswegs von Shigenobu Fusako und Shigenobu Mei – auch ohne den Rückgriff auf zusätzliches, das heißt auf gendertheoretisches Material. Murakami Harukis literarische Repräsentation hat hier schon viel früher den wunden Punkt getroffen, indem er nämlich die Einstellung der männlichen Aktivisten entlarvt und darauf verweist, dass die Ambitionen vieler Vertreter der japanischen Linken oft ebenso lächerlich wie beängstigend erscheinen mussten, wenn ihre Ideologien sie letztlich nicht vom alten, machtorientierten Machismo befreien konnten und sie weiterhin eine verächtliche Haltung gegenüber dem Weiblichen beibehielten, geschweige denn zu einer wahrhaftigen Konvivialität aller Menschen gefunden hätten.

Titelbild

Till Knaudt: Von Revolution zu Befreiung. Studentenbewegung, Antiimperialismus und Terrorismus in Japan (1968-1975).
Aus der Reihe Globalgeschichte, Band 22. Herausgegeben von Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Margrit Pernau.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
365 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783593505312

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