Me too und Medialität

„Die Nachricht“ von Doris Knecht bringt Feminismus auf die Romanbühne

Von Andreas UrbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Urban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Briefe, Dokumente, Nachrichten – im Drama des 18. und 19. Jahrhunderts hatte das Briefmotiv Hochkonjunktur. Johann Nestroy, Gotthold Ephraim Lessing oder Friedrich Schiller machten in ihren Bühnenstücken reichlich Gebrauch von schriftlichen Medien. Verständlich: Die Effekte für den Spannungsaufbau waren enorm. Wurde bei einem Täuschungsversuch anhand einer Handschrift sogar der wahre Urheber eines Briefes erkannt, kam noch eine detektivisch-aufklärerische Note ins Spiel. Der Roman Die Nachricht von Doris Knecht schließt an dieses bewährte Motiv des bürgerlichen Theaters an und transportiert es ins Zeitalter von Social Media.

Die Hauptfigur und Ich-Erzählerin des Romans, Ruth Ziegler, lebt als feministische Drehbuchautorin in Österreich in der Nähe von Wien. Da sie früher als TV-Moderatorin gearbeitet hat, ist sie eine Person des öffentlichen Lebens. Doch ganz Privatmensch, bewohnt sie nach dem Tod ihres Mannes Ludwig das gemeinsam erbaute Holzhaus, das sich mitsamt Garten in der Nähe eines Flusses befindet. 20 Jahre währte diese Ehe, die eine Patchworkfamilie mit Stieftochter und zwei Söhnen hervorgehen ließ. Die Trauer um den Tod ihres Mannes bleibt auch jetzt, einige Jahre später, während der gesamten Romanhandlung spürbar. Die Vokabel „guttun“ ist einer der am häufigsten vorkommenden Begriffe des Romans und scheint sich permanent im Suchfeld der Protagonistin zu befinden.

Ruth hat einen weiten Kreis an Freunden und Bekannten, ist über ihre Accounts bei Facebook, Twitter und Instagram aktiv auf Social Media. Schließlich – und damit beginnt der Roman – erhält sie hierüber anonym sexistische Nachrichten. Und nicht nur sie: Der Absender schickt auch an ihre Freunde und Bekannte brüskierende Nachrichten mit Details aus Ruths Privatleben.

Im Laufe des Romans hat Ruth insgesamt zwei Verdächtige im Auge. Mit detektivischem Spürsinn entwickelt sie – fein säuberlich getrennt in zwei Romanhälften – für beide jeweils eine passende Indizienlage. In der Mittelpartie des Buches erhält Ruth hingegen zeitweilig keine belästigenden Nachrichten. Mit ihrer Stieftochter Sophie und ihrem guten Freund Wolf stehen in dieser unterbrochenen Episode die Geschichten zweier Personen im Mittelpunkt, die sich auf einmal mit existenziellen Änderungen in ihrem Leben konfrontiert sehen. Die Erzählerin erfährt von Sophie die Umstände, die zu ihrer ungewollten Schwangerschaft führten; Ruths Freund Wolf enthüllt ihr erstmals, unheilbar krank zu sein. Im Umkehrschluss wird mit dieser Konstruktion digitales Stalking auf die Ebene persönlicher Katastrophen gehoben – damit leistet Die Nachricht von Doris Knecht auf diesem Feld ohne Frage wertvolle Arbeit.

Den weitaus größeren Teil des Romans nehmen Ruths Überlegungen zur Urheberschaft der Nachrichten ein. Die Haupthandlung ist mit hohem Spannungsreichtum im Stil eines Whodunit geschrieben und der Roman wird unversehens zum Pageturner. Dies ist der Wahl des klassischen Brief- beziehungsweise Nachrichtenmotivs zu verdanken. Dass Knecht ihre Protagonistin gegen Ende des Romans aber zum Beispiel eine Reise unternehmen lässt, die die Geschichte voranbringen soll, dann retardieren lässt und auf diese Weise doch wieder entscheidend beeinflusst, enttäuscht eher. Zu sehr vertraut es auf ein gängiges Erzählschema. So überlagert die Motivwahl Schwächen in der Handlungsführung.

Interessanter sind da schon die Stilmittel, die die Zunahme an Nachrichten jeweils begleiten. Auffallend sind etwa die Widersprüche, die die Ich-Erzählerin plötzlich gehäuft formuliert. So wollte sie sich eigentlich von ihrem Mann trennen und konstatiert: „[I]ch hatte Ideen in meinem Kopf, in denen Ludwig nicht mehr vorkam.“ Genau an dem Tag, an dem Ludwig tödlich verunglücken sollte, zog sie sich unter Vorwänden allein in ein Hotel zurück und plante bereits ihr neues Leben ohne ihn. Doch im Gegensatz dazu bestimmt die Trauer um Ludwig und die Erinnerung an das gemeinsame, glückliche Familienleben den Grundton der Erzählung. An einer anderen Stelle verspürt sie Mitleid mit Ludwigs Geliebter Valerie, aber sie selbst mag es nicht, wenn man mit ihr Mitleid hat. Immer dann, wenn Doris Knecht solche Widersprüche in ihre Story einbaut, häufen sich auch die Nachrichten an Ruth wieder.

Ein weiteres Mittel sind fast wortgleiche Wiederholungen von Aussagen nach nur wenigen Sätzen. Als das Bild der ersten verdächtigten Person Kontur gewinnt, erzählt Ruth von Besuchen bei ihrer Freundin Danica: „Unter der Woche war Danicas Mann nicht da, sie […] freute sich, wenn ich kam.“ Und wenige Sätze später, als wäre es nicht schon so ähnlich gesagt worden: „Wenn er [Danicas Mann] nicht da war, fuhr ich manchmal zu Danica.“ Über Ludwigs Geringschätzung gegenüber ihrer Arbeit als Autorin hält Ruth fest: „Ich hatte irgendwann genug davon, dass er meine Arbeit und damit mich nicht ernst nahm“. Gerade einmal zwei Seiten später heißt es: „Es nervte mich, dass er meine Arbeit und damit mich nicht ernst nahm“.

Zur Unschärfe, die durch Widerspruch und Wiederholung eingebracht wird, tritt jedoch eine deutliche stilistische Gegenfigur. Sie findet sich in den Momenten, in denen Ruth ihre Gesprächspartner korrigiert. Im Restaurant verbessert sie ihre beste Freundin Johanna, als sie „das Risotto“ bestellen möchte: „‘Der. Der Risotto. Nicht das Risotto. Nichts für ungut, da bin ich streng.‘“ Im Gespräch über einen ihrer Söhne wirft ihr Wolf spaßeshalber vor, eine Glucke zu sein. Konter von Ruth: „‘Glucke sagt man nicht. Man sagt Helicopter-Mum.‘“

Über die Kontrastfigur des Korrigierens, als Lektorin der Nachrichten, stößt Ruth schließlich gegen Ende auf das wichtigste Indiz bei der Tätersuche: Dass sich die Schreibweisen von Wörtern im Hochdeutschen zwischen den Ländergrenzen Österreich, Deutschland und der Schweiz unterscheiden, wird zum Schlüssel in der Aufklärung über den anonymen Verfasser der beleidigenden Nachrichten. Ein Lösungsschritt, der mit jenen klassischen Theaterstücken vergleichbar ist, in denen eine Handschrift den Verfasser des Briefes verrät – und bei denen schriftliche Medien zum Spielort von Verbergung und Wahrheit werden.

Interessant ist dabei, dass die mediale Welt der sozialen Kanäle im Schlussteil selbst zum Medium der Enthüllung wird. Nämlich in dem Moment, als der Klarnamen des anonymen Nachrichtenschreibers zusätzlich und unabhängig von Ruths Überlegungen innerhalb der Facebookgemeinde aufgedeckt wird.

In diesem Moment ist die Geschichte allerdings längst an einem Punkt angekommen, an dem Ruth innere Ruhe gewonnen hat: „Zeit vergeht. Wunden heilen“. Und zum Lektorat kommt auf den letzten Seiten noch der Lockdown. Im Herbst 2020 wird Ruths Lebenskreis coronabedingt durch Ausgangsbeschränkungen auf ihr Grundstück eingegrenzt. Das Naturbild von Haus, Garten und Fluss erhält verstärkte Symbolkraft. In einer idyllischen Situation in der Mitte des Romans stellt sie bereits angesichts des nahenden Herbstes – fast schon glorifizierend – fest: „Noch glänzte meine Wiese grün“ und sie sieht einen „Fluss, der in der Ferne leuchtete“. Die Natur ist ihr sogar „Spiegel meiner Existenz“.

Folgerichtig endet der Roman im Grünen, im Blauen, in einem Raum von Ruhe und Natur. Auch äußerlich zehrt das Buch von dieser Farbsymbolik: Beim Schutzumschlag dominiert das saftige Grün eines Gartens, beim Einband das pastellfarbene Blau eines Flusses. Eine gestalterische Einheit, die auf Erzählebene so leider nicht vollzogen wird: Das Schlusskapitel bricht die erzählerisch-fiktionale Einheit auf und liest sich wie ein Selbstkommentar über die zuvor wiedergegebene Romanhandlung. Dieses Satyrspiel hätte das Buch gar nicht gebraucht; es macht den vorgeblich erreichten Zustand innerer Ruhe jedenfalls nicht plausibler.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Doris Knecht: Die Nachricht.
Hanser Berlin, Berlin 2021.
256 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783446271036

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