Obskure Objekte der Begierde, Angstlust und Bibliophilie

Thomas Kniesche ist „Büchermorden“ auf der Spur

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir müssen uns Büchersammler als zutiefst gefährdete Menschen vorstellen. Die obskuren Gegenstände, mit denen sie sich umgeben, können nicht nur einschüchternd sein ob ihrer aufgespeicherten Weisheit, tendenziell lebensfeindlich aufgrund ihrer eskapistischen Verlockungen und physisch bedrohlich, wenn ihre Zahl zu groß wird und der Sammler Gefahr läuft, von seinen Preziosen erschlagen zu werden. Sie sind offenbar, das verrät ein Blick in die Geschichte des Kriminalgenres, nicht selten auch tödlich: als Waffe, als Objekte der Begierde oder indirekt, als Kulisse für möglichst elegant arrangierte Morde. Jeder vernünftige Mensch sollte sich nicht allzu häufig auf die Suche nach geheimnisvollen Handschriften oder seltenen Drucken begeben und sich möglichst wenig in Bibliotheken aufhalten. Mord lauert immer und überall.

Nein, das heißt nun nicht, dass jegliche Form der lustvollen Lektüre oder der Bibliophilie unausweichlich wegen dräuender Todesgefahr verboten werden sollte. Wohl aber ist zu konstatieren, dass es eine gewisse Affinität von „Buch“ zu „Mord“ gibt. Thomas Kniesche, Literaturwissenschaftler und Kenner des Kriminalgenres, geht in seinem schlanken (physisch mithin nicht allzu bedrohlichen) Büchlein Büchermorde – Mordsbücher dieser Affinität nach. „Büchermorde“, so räumt der Autor gleich im ersten Satz (grammatisch etwas schief) ein, sei „nur ein anderes Wort für Kriminalroman“. Es handle sich um Morde im Gebiet der Fiktionalität. Allerdings sei damit die Bedeutung des Begriffs nicht erschöpft, denn „Büchermorde sind nicht nur Morde, die ausschließlich in Büchern geschehen, es sind auch Morde, die wegen, mit oder im Umfeld von Büchern, also zum Beispiel in Bibliotheken begangen werden“. Der zweite Teil des Titels ist dann weniger kriminalistisch als kulinarisch zu verstehen: „Mordsbücher“ ist eine Analogiebildung zu „Mordsgaudi“ und bezeichnet Bücher, die einen großen Spaß versprechen.

Damit ist das Feld abgesteckt, das Kniesche auslotet: vergnügliche Bücher, in denen es um Morde geht, die ihrerseits mit Büchern zu tun haben. Die Nähe von Mordgeschichten und Büchern betont der Autor, wenn er die „enge Verbindung von Detektiven und Büchern“ hervorhebt – die literarischen Meisterdetektive C. Auguste Dupin, Sherlock Holmes und Lord Peter Whimsey seien durch „eine ausgeprägte Liebe für Bücher“ gekennzeichnet. Zwar wäre zu diskutieren, ob diese Liebe von Detektiven zu Büchern konstitutiv oder doch eher ornamental ist und ob es nicht andere, tiefergreifende Analogien zwischen Ermittlern und Bücherschaffenden beziehungsweise zwischen Kriminalfällen und literarischen Geschichten gibt, aber für Kniesche ist das weniger ein tragendes Argument als ein Aufhänger.

Wie jede Liebe kennt auch die zum Buch Steigerungen, Obsessionen und Perversionen. Bibliophilie kann mithin in Bibliomanie umschlagen, die ihrerseits zu einer Beschaffungskriminalität mit Mord als Begleitumstand führen kann, oder auch dazu, sich das begehrte Buch buchstäblich einzuverleiben. Das damit zumindest umrissene motivische Spektrum, das der Geschichte der Kriminalliteratur entnommen wird, analogisiert Kniesche mit einer gegenwärtigen medienhistorischen Perspektive: dem „absehbaren Tod des Buches“. Gänzlich überzeugen kann diese Engführung allerdings nicht. Sie bleibt den Ausführungen weitgehend äußerlich, ohne systematisches Erkenntnispotenzial entwickeln zu können. Zwar betont der Verfasser am Ende (mit Bezug auf Jorge Luis Borges, den notorischen Schutzpatronen jedes zünftigen postmodernen Bibliomanen), dass der befürchtete „Büchertod nie absolut sein könne“, da das Buch zwar durch andere Datenträger ergänzt und partiell ersetzt werden, schwerlich aber ganz verschwinden könne: „Das Buch wird uns weiter faszinieren, es wird weiter – und jetzt erst recht – ein Objekt der Begierde sein“. Dieses Credo eines idealistischen Liebenden ist außerordentlich sympathisch, trägt aber wenig zu einem vertieften Verständnis medialer Wandlungsprozesse bei.

Die faszinierende Aura des eigentümlichen Objektes Buch belegen die von Kniesche versammelten Büchermorde. Den Anfang der Betrachtungen bilden historische Bücherdiebstähle seit der Frühen Neuzeit, die ihrerseits einen literarischen Niederschlag fanden, etwa im Neuen Pitaval aus dem 19. Jahrhundert. Von hier spannt er einen Bogen über sechs Kapitel, die keiner strengen Chronologie verpflichtet sind. Das seinerseits mit zahlreichen (etwas klischeehaften) Verzierungen (eine Lupe über einem Fingerabdruck, eine mutmaßlich tödliche Spritze, Blutspuren, Handschellen und dergleichen mehr) versehene Buch lädt zu einer geradezu wilden und ungeordneten Lektüre ein, die im Rückgriff auf übliche Verdächtige wie Agatha Christies Der Tote in der Bibliothek oder Umberto Ecos Der Name der Rose zahlreiche Beispiele anführt, aber keine Vollständigkeit anstrebt. Es wäre daher wenig zielführend, wollte ein besserwisserischer kleingeistiger Rezensent das Fehlen eines einschlägigen Klassikers wie Der Meister des jüngsten Tages von Leo Perutz beklagen – einem Kriminalroman an der Grenze zur literarischen Phantastik, bei dem es um ein monströses Buch geht, das für diverse Todesfälle verantwortlich gemacht wird. Andere Leser*innen werden andere Texte vermissen; als motivgeschichtliche akademische Abhandlung will und soll das Buch aber nicht verstanden werden. Dennoch finden die geneigten Freund*innen des gepflegten Büchermordes mancherlei Anregungen zur weiterführenden Lektüre, quer durch unterschiedliche Literatursprachen bis in die Gegenwartsliteratur. Das ist keine geringe Leistung eines Buches, das zudem immer wieder mit klugen allgemeineren Passagen zu Spielarten der Kriminalliteratur aufwartet. Über die volle Distanz ist das Prinzip der Aneinanderreihung von auf einen Motivkomplex zugespitzten Inhaltsangaben literarischer Plots sowohl der Lesbarkeit als auch dem auf allgemeinere Aspekte ausgerichteten Erkenntnisgewinn nicht immer zuträglich. Die Machart des Textes ist jedoch darauf angelegt, dass gelegentliches Überblättern durchaus erlaubt ist. Ein Namen- oder Titelregister hätte die Lust an der kursorischen Lektüre noch erhöht, ebenso wird eine Art Abrundung am Ende der einzelnen Kapitel vermisst. Die Einzelbeobachtungen bleiben etwas unverbunden nebeneinander stehen.

Bedauerlich ist, dass Kniesche mancher historischer und philologischer Fehler unterläuft. Bei Arthur Conan Doyles Ein Skandal in Böhmen wird als Erscheinungsjahr mal 1887, dann (korrekterweise) 1891 genannt; dass diese Erzählung (!) den Ruhm Conan Doyles „als Verfasser der Sherlock-Holmes-Romane begründete“, ist terminologisch zumindest inkonsequent; ob der in Rede stehende Holmes, der Milieustudien absolviert und jeden Tatort selbst in Augenschein nehmen will, als Musterbild für den Typus des seine Denkerklause nicht verlassenden „Lehnstuhl-Detektivs“ taugt, ist zu bezweifeln; dass die „hard-boiled“ Privatdetektive in „amerikanischen Krimis der dreißiger und vierziger Jahre“ reüssieren, ist nicht falsch, unterschlägt aber, dass der als Kronzeuge angeführte Dashiell Hammett das Genre bereits in den 1920er Jahren mit dem hartgesottenen „Continental Op“ und einem ganz neuen, abgebrühten Sound revolutionierte. Zugegeben: Das essayistisch angelegte Buch richtet sich weniger an ein literaturwissenschaftliches Fachpublikum als an eine breitere Öffentlichkeit. Diese Freiheit der Form darf gerne mit den freiesten Lizenzen des Denkens einhergehen, sollte aber nicht zu einer Vernachlässigung sachlicher Akkuratesse führen.

Als populärwissenschaftliche Fingerübung über eine reizvolle Facette der Kriminalliteratur ist diese Kompilation von „Büchermorden“ vergnüglich und lehrreich. Die genannten Einwände legen nahe, dass es sich nicht um ein „Mordsbuch“ handelt. Allerdings auch sicherlich um keines, dessen Lektüre tödlich langweilig ist.

Titelbild

Thomas Kniesche: Büchermorde – Mordsbücher.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2016.
144 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783650401601

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