Mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Harvard nach Abu Ghraib

Knuth Müller hat in zwei fulminanten Bänden akribisch die jahrzehntelange Zusammenarbeit zwischen US-Geheimdiensten und Vertretern der organisierten Psychoanalyse dokumentiert

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als ich mir die Aufgabe stellte,
das, was die Menschen verstecken, ans Licht zu bringen,
hielt ich die Aufgabe für schwerer, als sie wirklich ist.
Sigmund Freud, 1905

Psychoanalyse und Geheimdienste … passt das überhaupt zusammen? Warum denn nicht, wurde doch schon in der Gründungsphase der organisierten Psychoanalyse ein so genanntes ‚Geheimes Komitee‘ einberufen. Ernest Jones hatte, wie er in der von ihm verfassten Freud-Biographie schreibt, den Vorschlag gemacht, einen Kreis um Freud „nach Art der Paladine Karls des Großen zu scharen“. Am 1. August 1912 erhielt er diese Antwort von Freud: „This committee had to be strictly secret in his existence and his actions“ (Herv. i. Orig.). Der Zirkel sollte der „Überwachung der Entwicklung der Psychoanalyse“ dienen, heißt es in einem Brief, den Freud kurz darauf an Sándor Ferenczi schrieb. Dem vereinsinternen Überwachungsorgan gehörten neben Freud anfangs Jones, Ferenczi, Karl Abraham, Hanns Sachs und Otto Rank an, später kam Max Eitingon hinzu. Er war von 1924 bis 1935 Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) und finanzierte aus seinem Privatvermögen das Berliner Psychoanalytische Institut, die damit verbundene psychoanalytische Poliklinik und den Internationalen Psychoanalytischen Verlag. Woher hatte Eitingon das viele Geld?

Nach der Revolution hatte seine (erweiterte) Familie von den Bolschewiken ein nahezu vollständiges Monopol für den Handel mit russischen Pelzen erhalten. Eduard Hitschmann soll deshalb angeblich gesagt haben, „die besten Fälle der Analyse sind die Felle des alten Eitingon“. Isabella Ginor und Gideon Remez, Mitarbeiter am Truman Institute der Hebräischen Universität in Jerusalem, haben die Familienkonstellation der Eitingons rekonstruiert. Danach leitete Motty Eitingon, ein Cousin von Max, den amerikanischen Zweig des Handelsunternehmens. In seinem Haus verkehrte zeitweise Naum Isaakowitsch Eitingon, ein Cousin zweiten Grades von Max, der unter dem Pseudonym Leonid Naumow als Mitarbeiter der Auslandsabteilung des sowjetischen Geheimdienstes an der Planung der Ermordung Leo Trotzkis in Mexiko 1940 beteiligt war. Und er baute einen Spionagering auf, dem es gelang, Informationen über die US-Atombombe zu erhalten. Der Physiker Yuli Khariton, der als ‚Vater‘ der sowjetischen Atombombe gilt, war ein Sohn aus der ersten Ehe von Max Eitingons Frau Mirra – und damit dessen Stiefsohn. Er arbeitete in den 1920er Jahren vorübergehend im Physiklabor von Ernest Rutherford in Cambridge, wo damals bereits eine sowjetische Spionagezelle operierte. Auf seinem Weg nach England und auf seinem Rückweg in die Sowjetunion zwei Jahre später wohnte er in der Berliner Villa seiner Mutter Mirra und seines Stiefvaters Max (Ginor, I. & Remez, G: Her Son, the Atomic Scientist: Mirra Birens, Yuli Khariton, and Max Eitingons Services for the Soviets, Journal of Modern Jewish Studies, 2012). Dort gastierten 1931 auch die russische Volkssängerin Nadezhda Plevitskaya und ihr Ehemann, die als sowjetische Agenten rekrutiert wurden. Inwieweit Max Eitingon dem sowjetischen Geheimdienst zuarbeitete oder aufgrund seiner familiären Situation nur indirekte Dienste leistete, bleibt umstritten (s. Karl Pfeifer, Jüdische Allgemeine 31.07.2012; https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/liebesgruesse-aus-moskau/ – Aufruf: 27.05.2021).

Ebenfalls umstritten ist die Aussagekraft einer Postkarte, die Julia Kristeva am 13. März 1972 an den Geheimdienstagenten Luka Draganov schrieb, der damals als Diplomat an der bulgarischen Botschaft in Paris akkreditiert war: „Grüße aus Belgien, danach fahre ich in den Urlaub, nach den Feiertagen werde ich mich melden.“ Diese handschriftlich verfasste Postkarte der (späteren) Psychoanalytikerin fand sich in einem Dossier, das nach dem Zusammenbruch des ‚real existierenden‘ Sozialismus von der „Kommission für die Offenlegung der Dokumente und die Bekanntgabe der Zugehörigkeit von bulgarischen Staatsbürgern zur Staatssicherheit und zu den Geheimdiensten der Bulgarischen Volksarmee“ veröffentlicht wurde. Demnach soll Julia Kristeva, die 1965 mit einem Stipendium von Sofia nach Paris kam, was damals nur besonders linientreuen – sprich: ideologisch gefestigten – Studentinnen erlaubt wurde, eine Zeit lang für den bulgarischen Geheimdienst gearbeitet haben. Als sie 2018 von Journalisten der ZEIT nach dem Empfänger der Postkarte gefragt wurde, äußerte die „Erfinderin der ‚Intertextualität‘, die von der Spießer-Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen nichts mehr wissen wollte“ (so DIE ZEIT): „Ich kenne diesen Mann nicht. Sein Name sagt mir nichts“ (https://www.zeit.de/2018/15/julia-kristeva-auslandsgeheimdienst-bulgarien-gespraech/komplettansicht – Aufruf: 03.06.2021). Der Titel eines ihrer Bücher sagt womöglich mehr: Etrangers à nous-mêmes, 1988 (dt.Fremde sind wir uns selbst, 1990).

1974, also zwei Jahre, nachdem sie die Postkarte an Luka Draganov geschrieben hatte, begab sich Julia Kristeva abermals auf Reisen, diesmal betreut von der chinesischen Botschaft in Paris. Begleitet von ihrem Ehemann Phillippe Sollers und Roland Barthes besichtigte sie ein Land, in dem ab Mitte der 1960er Jahre Millionen Menschen einer so genannten ‚Kulturrevolution‘ zum Opfer fielen. Nach ihrer Rückkehr danach gefragt, sagte Julia Kristeva, sie habe in China keinerlei Gewalt wahrgenommen. Mit dieser Aussage kam sie einem ‚Kaiser‘ zuvor, der vier Jahrzehnte später nach seiner Rückkehr aus Katar auf die Frage, was er von den Bedingungen halte, unter denen die dort tätigen ausländischen Arbeiter leben müssten, antwortete: „Also, ich hab’ noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen.“ Anders als Beckenbauer hielt sich Kristeva aber nicht mit Sprüchen auf, vielmehr verfasste sie ein neues Buch, in dem sie Mao Tse-tung pries, weil er die Geschlechterungleichheit beendet habe: Des Chinoise, 1974 (dt. Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China, 1976) (s. dazu: https://journals.univie.ac.at/index.php/oezg/article/view/3844 – Aufruf: 29.05.2021).

Carl Gustav Jung, der erste Präsident der IPV, dessen 1912 begonnener Konflikt mit Freud Anlass für die Gründung des ‚Geheimen Komitees‘ war, das hinter seinem Rücken seinen Sturz plante, hatte – anders als Kristeva – kein Problem, sich zu seiner Tätigkeit als Mitarbeiter eines Geheimdienstes zu bekennen. In Jungs Fall handelte es sich um das OSS (Office of Strategic Services), Vorläufer der 1947 gegründeten CIA (Central Intelligence Agency). Allen Welsh Dulles, der zwischen 1953 und 1961 amtierender Direktor der CIA war, hielt sich während des Zweiten Weltkriegs als Mitarbeiter des OSS in der Schweiz auf. Dort arbeitete er mit Mary Bancroft zusammen, eine ehemalige Patientin Jungs, die das Schriftstück eines Mitverschwörers des 20. Juli ins Englische übersetzte. Durch sie lernte Dulles Jung kennen, der nun als „Agent 488“ für das OSS psychologische Profile verschiedener NS-Größen erstellte. Nach dem Krieg sagte Dulles über Jung: „Seine Beurteilung dieser Führer und ihrer wahrscheinlichen Reaktion auf bestimmte Ereignisse war mir eine wirkliche Hilfe bei meinem Bemühen, die politische Situation einzuschätzen.“ Bleibt anzumerken, dass Dulles als CIA-Chef für den Sturz des demokratisch gewählten Premierministers Mohammad Mossadegh im Iran 1953 sowie für die Ermordung des demokratisch gewählten Premierministers Patrice Lumumba im Kongo 1961 verantwortlich war. Auch der Sturz von Jacobo Árbenz Guzmáns 1954, des demokratisch gewählten Präsidenten Guatemalas, der es gewagt hatte, von der United Fruit Company kontrolliertes Land zu verstaatlichen, fand unter der Regie von Dulles statt. Diesen Putsch verkaufte Edward Bernays – ein Neffe Sigmund Freuds, der als Nestor der Public Relation gilt – als ‚Volksaufstand‘.

In den 1940er Jahren arbeitete aber nicht nur C. G. Jung für den US-Geheimdienst. Auch Emmy Radó, die dritte Ehefrau des Psychoanalytikers Sándor Radó, war für das OSS tätig. Sie bat Carl Zuckmayer um Persönlichkeitsprofile von Schauspielern, Regisseuren, Schriftstellern etc., die er von früher kannte und die jetzt im Kulturbetrieb des ‚Dritten Reichs‘ Positionen innehatten. Daraufhin fertigte Zuckmayer (der seit 1939 in den USA lebte) für die „Field Unit of Biographical Records“ des OSS die gewünschten Charakterskizzen an, für die sich Emmy Radó überschwänglich bedankte: „Ihre dramatischen Skizzen haben die grösste Begeisterung erregt. Wenn ich schreiben könnte, würde ich versuchen, Ihnen zu erklären, wie gut das Material ist“ (https://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/36050162/ameisenbau-des-nazistaates_82-86.pdf – Aufruf: 20.08.2021; s. dazu: Zuckmayers 2002 im Wallstein Verlag erschienenen „Geheimreport“). Auch andere deutsche Emigranten – darunter Max Horkheimer, Kurt Lewin und Herbert Marcuse – sowie andere US-Wissenschaftler – darunter Margaret Mead und Gregory Bateson – stellten ihr Know-how für den Kampf gegen Hitler-Deutschland zur Verfügung. Knuth Müller hat diese Arbeit Im Auftrag der Firma – so der Titel seines Buches, der auf die Kurzbezeichnung der Central Intelligence Agency als ‚Agency‘ (dt. Firma) anspielt – detailliert nachgezeichnet. Großen Raum nimmt dabei die Gruppe um Walter C. Langer ein. Er war 1938 als Lehranalysand Anna Freuds in Wien und besorgte vielen jüdischen Kollegen nach dem ‚Anschluss‘ das zur Einreise in die USA nötige Affidavit. 1949 wurde Langer, obgleich er ‚nur‘ Psychologe, also so genannter ‚Laienanalytiker‘ war, in die Boston Psychoanalytic Society aufgenommen. 1943 verfasste Langer eine psychologische Studie zu Hitler – unterstützt von Henry A. Murray (Harvard Psychological Clinic), Ernst Kris (New School for Social Research) und Bertram D. Lewin (New York Psychoanalytic Institute), der im Titel dieses Buches fälschlich „Lawin“ genannt wird –, in der er den Selbstmord des ‚Führers‘ vorausgesagte, wie dies schon C. G. Jung in seiner Stellungnahme für das OSS getan hatte (https://web.archive.org/web/20150807144006/http://www.iiit.ac.in/~bipin/files/Dawkins/Psychology%20-%20Psychological%20Analysis%20Of%20Hitler.pdf – Aufruf: 03.06.2021). Zum selben Schluss kam später auch Henry A. Murray, der Autor des Thematischen Apperzeptionstests (TAT), in seiner 1943 veröffentlichten Analysis of The Personality of Adolph Hitler. Murray nahm an, der Führer könnte sich auf Berges Höhen (Obersalzberg) erschießen, Hitler zog dann aber doch die Tiefen eines Berliner Bunkers vor (http://hydraprod.library.cornell.edu/fedora/objects/nur:01134/datastreams/pdf/content – Aufruf: 03.06.2021).

Wichtiger als diese Hitler-Studie war das Assessment-Projekt, für dessen Leitung sich Murray durch sein 1938 erschienenes Buch Explorations in Personality empfohlen hatte (https://archive.org/details/explorationsinpe031973mbp/page/n7/mode/2up – Aufruf: 03.06.2021). Bei dem Assessement-Projekt ging es um die Auswahl künftiger OSS-Agenten. Geprüft wurde u. a. das Durchhaltevermögen in Stresssituationen. So sollten sich die Agentenanwärter etwa eine fiktive Biographie ausdenken und in einem anschließenden Belastungs-Interview glaubhaft an dieser Geschichte festhalten. Wer sich verriet, wurde (fiktiv) erschossen. Die Qualität dieses Stress-Verhörs illustrierte Murray später einmal so: „Ein Flüchtling aus Europa, der einschlägige Erfahrungen mit der Gestapo hat sammeln müssen, […] geriet während des Stressinterviews in geistige Verwirrung. […] Es war klar, dass es unklug gewesen wäre, ihn zum Abschluss des Assessment-Programms zu zwingen, da er für verdeckte Einsätze in Europa absolut untauglich war.“ Mit anderen Worten: Ein traumatisierter Flüchtling wurde einer Retraumatisierung ausgesetzt – und Murray war stolz darauf, dass die ‚Schwäche‘ dieses Mannes durch das Testprogramm aufgedeckt wurde.

Die Zusammenarbeit zwischen Vertretern der US-amerikanischen Psychoanalyse und den nachrichtlichen Diensten der USA – die unter Trump siebzehn verschiedene Organisationen und Behörden umfassten und jährlich etwa 80 Milliarden Dollar verschlangen – hatte mit dem Eintritt der USA in den Krieg begonnen. Bereits im Mai 1941 berief die American Psychoanalytic Association (APsaA) daher ein ‚Committee on Morale‘ ein. Dem Vorstand gehörte eine Reihe prominenter Psychoanalytiker an, darunter Roy R. Grinker (Chicago Psychoanalytic Society), William Menninger (Topeka Psychoanalytic Society), M. Ralph Kaufman (Boston Psychoanalytic Society), Abraham A. Brill (New York Psychoanalytic Society) und Leo H. Bartemeier (Detroit Psychoanalytic Society). Das Committe versandte einen Fragebogen, in dem die Mitglieder der APsaA darüber Auskunft geben sollten, ob sie „wichtiges analytisches oder historisches Material“ in Besitz hatten, „das sich mit dem Vorhandensein faschistischer, kommunistischer oder ähnlichen Einstellungen bei Patienten in Ihrer Praxis oder in der Ihrer Kollegen beschäftigt“. Und weiter hieß es in diesem Schreiben: „Wir denken, dass es möglich sein sollte, all jene Mechanismen aufspüren und tabellarisieren zu können, die typisch für diese Fälle sind, bei gleichzeitigem Bemühen die mögliche Identifizierung dieser Individuen zu vermeiden; eine Gefahr, die allerdings fast unmöglich auszuschließen ist, wenn umfangreiche Falldarstellungen publiziert werden.“ Laut Müller hatte bis Ende 1941 mehr als die Hälfte der APsaA-Mitglieder den Fragebogen ausgefüllt.

Leo H. Bartemeier, Vorstandsmitglied des ‚Committee on Morale‘, forderte seinen Kollegen Alan D. Finlayson, den er offenbar näher kannte, mit ultimativen Worten zur Bespitzelung von Patienten auf: „Ich hoffe ernsthaft, dass Du Dir ab sofort schriftliche Aufzeichnungen von jedwedem spontan geäußerten und den Krieg betreffenden Material machst […].“ Eben dieser Bartemeier wurde beim 16. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Zürich 1949 Vorsitzender der IPV. Sein Vorgänger im Amt, Ernstes Jones, hatte zuvor noch einmal ausdrücklich betont, dass sich Psychoanalytiker politisch ‚abstinent‘ und ‚neutral‘ zu verhalten hätten. Damit waren allerdings nicht die vom ‚Committee on Morale‘ angeschriebenen patriotisch gesinnten US-Analytiker gemeint, vielmehr Linksfreudianer wie Otto Fenichel, Edith Buxbaum, Erik Erikson, Erich Fromm, Martin Grotjahn und Clara Happel, die nach der Emigration in den USA vom FBI überwacht wurden – aber auch Wilhelm Reich, den die IPV vorsichtshalber bereits in den 1930er Jahren ausgeschlossen hatte. Selbst Joseph Wortis, der bei Freud in Analyse war (My Analysis with Freud, 1954; https://archive.org/stream/fragmentsofanana011502mbp/fragmentsofanana011502mbp_djvu.txt – Aufruf: 03.06.2021), wurde in der McCarthy-Ära wegen seines 1951 erschienen Buches Soviet Psychiatry vor ein United States Senate Subcommittee on Internal Security gezerrt.

 

Ich konnte an Menschen Versuche machen,
die sonst nur an Kaninchen möglich sind.

Hans Wilhelm Münch, Lagerarzt in Auschwitz und Dachau,
in einem SPIEGEL-Interview, 1988

Thompson readily admits
that this procedure was ‚unethical‘,
but he says: ‚We felt we had to do it for the good of country.‘
John Marks, The Search of the Manchurian Candidate. The CIA Mind Control, 1979
(https://www.cia.gov/library/abbottabad-compound/12/129E144131F2E093FB1E441C737ACF92_SearchForTheManchurianCandidate.rtf.pdf – Aufruf: 03.06.2021)

Vormalige KZ-Ärzte und andere CIA-Verhörspezialisten

Im Oktober 1942 berief das OSS ein ‚Truth-and-Drug-Committee‘ ein, das den Effekt so genannter Wahrheitsdrogen (Mescalin, Cannabis etc.) bei Verhören evaluieren sollte. Als ‚freiwillige‘ Testpersonen wurden u.a. Mitarbeiter des Manhattan-Projekts – also Wissenschaftler, die an der Entwicklung der US-Atombombe beteiligt waren – angeworben, denen man ohne ihr Wissen psychoaktive Substanzen verabreichte. Würden sie unter dieser Bedingung geheimes Wissen preisgeben? Das Humanexperiment wurde unter der Leitung des Psychoanalytikers Lawrence S. Kubie durchgeführt, der von 1939 bis 1940 erster Vorsitzender des New York Psychoanalytic Institute war und von 1939 bis 1941 dem dortigen Weiterbildungsausschuss angehörte. Später veröffentlichte er gemeinsam mit Sydney G. Margolin, der von 1945 bis 1955 psychiatrischer Berater der US-Army war und 1950 in die APsaA (und damit in die IPV) aufgenommen wurde, einen Artikel, in dem die Wirkung psychoaktiver Drogen beschrieben wurde, ohne Erwähnung des ursprünglich geheimdienstlichen Hintergrunds (Kubie, L. S. & Margolin, S.: The Therapeutic Role of Drugs in the Process of Repression, Dissociation and Synthesis. Psychosomatic Medicine 1945, 7, 147-151). Als in den 1990er Jahren das Opfer eines solchen im geheimdienstlichen Auftrag durchgeführten Menschenversuchs Klage einreichte, äußerte William Brennan, ehemaliger Richter am US-Supreme Court, man habe doch schon anlässlich der Nürnberger Ärzteprozesse Experimente als verwerflich verurteilt, die an Menschen vorgenommen werden, die über den Sinn und Zweck der Versuche nicht aufgeklärt oder gar gegen ihren Willen dazu gezwungen werden. Die US-Geheimdienste, die solche Experimente dennoch in Auftrag gaben, um chemische und biologische Materialien zu testen, hätten deshalb wiederholt gegen den Nürnberger Kodex verstoßen. Doch Geheimdienste haben bekanntlich ihren eigenen Kodex.

Und deshalb gab es nach dem Ende des NS-Regimes nicht nur eine ‚Rattenlinie‘, die über den Vatikan nach Südamerika führte, sondern auch eine – in der Öffentlichkeit weniger bekannte – Verbindungslinie, die aus Hitlers vormaligem Reich direkt in die USA führte. Auf diesem Weg wurden NS-Wissenschaftler ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten geschleust (Codename ‚Operation Paperclip‘ = dt. Büroklammer), deren Know-how für die US-Geheimdienste von besonderem Wert war, darunter auch Ärzte, die Experimente an KZ-Häftlingen vorgenommen hatten (s. Bernd Nitzschke: Die nationalsozialistischen „medizinischen“ Experimente oder Die Vernunft empört sich über ihr Spiegelbild, in dem sie nicht sich, sondern das Andere erblickt. Bochumer Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 1984; http://ur.dadaweb.de/archiv_b.htm – Aufruf: 14.06.2021).

Manche dieser von der US-Army geschätzten NS-Experten blieben aber auch in Deutschland – wie zum Beispiel Otto Ambros, ein Chemiker, unter dessen Leitung in Auschwitz Giftgasexperimente an KZ-Häftlingen stattfanden, weshalb er in Nürnberg zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde. 1951 war er wieder ein freier Mann und konnte nun sein Wissen dem US-Army Chemical Corps zur Verfügung stellen. Nach seiner Anleitung wurde am Edgewood Arsenal in Maryland eine Gaskammer nachgebaut, in der man US-Soldaten Gas aussetzte, um herauszufinden, ob sie bei Verhören suggestibler und widerstandsunfähiger sein würden. In anderen Experimenten wurden chemische Kampfstoffe eingesetzt, um Kleidung und Arzneien zu testen, die dagegen Schutz bieten würden. Am Edgewood Arsenal nahmen schätzungsweise 7.000 Soldaten an Experimenten teil, bei denen die Wirkung von mehr als 250 verschiedenen Chemikalien überprüft wurde. 1965 fand dort eine Konferenz zum Thema Behavioral Sciences statt, an der auch Psychoanalytiker teilnahmen, darunter Eugene B. Brody, der in Nürnberg Prozessbeobachter war. Die Tatsache, dass für das Edgewood Arsenal auch ehemalige KZ-Ärzte tätig waren, hielt ihn nicht von der Teilnahme an dieser Konferenz ab. Im Rückblick sagte Brody, seine Aufgabe in Nürnberg sei für ihn nur unter Berücksichtigung der Menschenrechte zu erfüllen gewesen. Nach seiner Rückkehr aus Nürnberg leitete Brody an der Yale University von 1949 bis 1952 ein Lobotomie-Projekt (zur Lobotomie s. unten mehr).

Auch der in Nürnberg angeklagte, dort aber freigesprochene Luftfahrtmediziner Siegfried Ruff blieb nach dem Krieg in Deutschland. Er nahm am Aero Medical Center in Heidelberg eine neue Unterdruckkammer in Betrieb, um herauszufinden, was Piloten erleiden müssen, wenn sie ihr Flugzeug in großer Höhe notfallmäßig verlassen. Entsprechende Versuche hatte man im ‚Dritten Reich‘ an KZ-Häftlingen vorgenommenen: „Die Atmung hielt bis 30 Minuten an. Bei 4 Minuten begann VP [Versuchsperson] zu schwitzen und mit dem Kopf zu wackeln. Bei 5 Minuten traten Krämpfe auf, zwischen 6 und 10 Minuten wurde die Atmung schneller, VP bewusstlos, von 11 Minuten bis 30 Minuten verlangsamte sich die Atmung bis 3 Atemzüge pro Minute, um dann ganz aufzuhören. […] Anschließend, etwa 1 Stunde nach Aufhören der Atmung, Beginn der Sektion“. Soweit die Beschreibung des Todeskampfes (https://www.sueddeutsche.de/leben/menschenversuche-die-perversion-des-heilens-1.926062 – Aufruf: 14.06.2021).

Es gab auch Unterkühlungsexperimente, bei denen KZ-Häftlinge stundenlang in Eiswasser getaucht wurden oder bei Minusgraden nackt im Freien stehen mussten. Bei den Überlebenden sollte anschließend untersucht werden, wie schnell sich ihr Körper wieder aufwärmen ließ. In Nürnberg sagte der dort verurteilte KZ-Arzt Hermann Becker-Freyseng aus, Dr. med. Hubertus Strughold hätte als Leiter des Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstituts solche Kälteexperimente unterbinden können. Strughold wurde in Nürnberg aber nicht angeklagt, vielmehr sagte er dort als Zeuge aus, um Angeklagte zu entlasten. Zunächst war er der deutsche Leiter des Aero Medical Centers in Heidelberg (1945-47), bevor er dann per ‚Operation Paperclip‘ in die USA geschleust wurde. Hier gilt er noch heute als ‚Vater der Raumfahrtmedizin‘. Auch in Deutschland mangelte es ihm nicht an Ehrbekundungen. So konnte man beispielsweise in dem 2012 anlässlich der 50. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin erschienen Programmheft lesen, die Mitglieder hätten „einstimmig beschlossen, Herrn Professor Dr. med. Strughold, den Altmeister der deutschen Luftfahrtmedizin, zum Ehrenmitglied zu ernennen“ (https://dglrm.de/index.php?option=com_attachments&task=download&id=35 – Aufruf: 03.06.2021).

Als weiteres Beispiel eines NS-Arztes, der mit der ‚Operation Paperclip‘ in die USA geschleust wurde, führt Müller in seiner Dokumentation Dr. med. Walter Schreiber an. Er trat 1933 in die NSDAP ein. 1942 nahm er an einer Tagung zum Thema ‚Ärztliche Fragen bei Seenot und Winternot‘ teil, bei der über die Unterkühlungsversuche an Häftlingen des KZ Dachau diskutiert wurde. Ein Jahr später war Schreiber Teilnehmer einer Konferenz, bei der Fleckfieber-Impfstoff-Experten über die Ergebnisse der Menschenversuche in Natzweiler, Mauthausen und Buchenwald berichteten. In Nürnberg wurde er nicht angeklagt, vielmehr sagte er dort als Zeuge aus. Später trat Schreiber eine Stelle als Arzt bei den US-Streitkräften im Camp King nahe Oberursel an. 1951 kam er in die USA, um an der School of Aviation Medicine der Randolph Air Force Base in San Antonio weiterzuarbeiten. Als Journalisten ihn mit seiner NS-Vergangenheit konfrontierten, entzog er sich weiteren Nachforschungen und reiste 1952, unterstützt von der US-Regierung, nach Argentinien aus, wo er bis 1970 lebte.

Müller stützt sich bei seinen Recherchen über das geheime Zentrum der CIA in der Nähe von Oberursel auf Alfred W. McCoys Artikel Science in Dachau’s Shadow: Hebb, Beecher, and the Developement of CIA Psychological Torture and Modern Medical Ethics (https://ia801300.us.archive.org/17/items/ScienceInDachausShadow/Science-in-Dachaus-Shadow.pdf – Aufruf: 14.06.2021). Demnach wurden dort an gefangenen sowjetischen Agenten „gefährliche Kombinationen von Medikamenten wie Benzedrin und Pentothal-Natrium“ getestet. Die „Entsorgung des Körpers“ der dabei zu Tode gekommenen Gefangenen sollte „kein Problem“ darstellen, heißt es in dem zitierten Artikel. An diesen Menschenversuchen nahm 1952 auch der Psychiater Samuel V. Thompson teil, der ein Jahr später nach seiner Rückkehr in die USA Mitglied der Washington Psychoanalytic Society wurde. Bei Müller heißt es dazu, „Thompson war eingebunden in nationalsozialistisch inspirierte Menschenexperimente im Rahmen eines Navy-Verhaltenskontrollprogrammes mit der Tarnbezeichnung CHATTER, welches den Tod der Versuchspersonen mit einkalkulierte“.

Die US-Geheimdienste hatten damals großes Interesse an psychoanalytisch ausgebildeten Psychiatern. Die APasA hielt deshalb 1946 eine National Conference on Postwar Problems of Psychoanalytic Training ab, bei der beschlossen wurde, dass Militärpsychiater bei der Zulassung zur psychoanalytischen Ausbildung zivilen Kandidaten vorzuziehen seien. Bei Müller heißt es ergänzend, dass „Ärzte, die militärisch eingebunden waren, ihre psychoanalytische Ausbildung via ‚GI Bill‘ von der US-Regierung finanziert bekamen – mehr noch: Die Versicherungsleistungen für Militärangehörige deckten 80 Prozent der Kosten für eine Psychoanalyse ab; auch mehrjährige Psychoanalysen mit vier Sitzungen pro Woche wurden durch entsprechende Regierungsentscheidungen vom US-amerikanischen Steuerzahler finanziert.“ Diese auf Anpassung an die Bedürfnisse des Militärs (beziehungsweise der Geheimdienste) ausgerichtete Psychoanalyse kam nach dem Krieg unter der IPV-Präsidentschaft des bereits erwähnten Leo H. Bartemeier, der im Auftrag des OSS zur Bespitzelung von Analysepatienten aufgefordert hatte, als ‚wahre‘ Freud’sche Psychoanalyse nach Deutschland zurück, wo sie der ‚Gründungsvater‘ der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) Carl Müller-Braunschweig in Empfang nahm, der zwischen 1933 und 1945 selbst bereits ausreichend Erfahrungen mit Anpassungsleistungen gemacht hatte. So erläuterte er schon 1933, das die Psychoanalyse den „gerade jetzt neu herausgestellten Linien wertvoll […] dienen“ könne (https://literaturkritik.de/reich-massenpsychologie-des-faschismus-die-wiederkehr-eines-verdraengten,27469.html – Aufruf: 16.06.2021).

Ebenso doppelbödig wie die Karriere Carl Müller-Braunschweigs verlief die Karriere des in Harvard lehrenden Anästhesisten Henry K. Beecher, den Müller als eines von vielen Beispielen für den Widerspruch zwischen propagierter ärztlicher Ethik und tatsächlichem Verhalten anführt. In seinem 1966 publizierten Artikel Ethics and Clinical Research verurteilte Beecher ‚medizinische‘ Experimente vehement, die aufgrund von Täuschung der Versuchsperson oder gar erzwungenermaßen zustande kommen. Dieses Eintreten für Patientenschutz wird vom Center for Bioethics der Harvard Medical School durch die alljährliche Verleihung des ‚Henry K. Beecher Prize in Medical Ethics‘ gewürdigt (https://bioethics.hms.harvard.edu/education/annual-beecher-prize-medical-ethics – Aufruf: 16.06.2021).

Soweit zu Dr. Jekyll-Beecher. Und nun zu Mr. Hyde-Beecher, der im September 1951, laut Müller, in Oberursel mit sechs Angehörigen der US-Army zusammentraf, „darunter ein Major Hart, Leiter eines ‚brutalen Verhörteams‘, bekannt als die ‚rauen Jungs‘, und Captain Malcolm Hilty, Chefvernehmer“, um mit ihnen „den möglichen Einsatz von Drogen bei Verhören“ zu besprechen. Spätestens seit Februar 1947 waren Beecher auch die Ergebnisse der an KZ-Häftlingen vorgenommenen Experimente mit psychoaktiven Substanzen bekannt. Damals hatte er von Arthur R. Turner, dem Chef des Medical Intelligence Branch, einen Bericht über entsprechende Menschenversuche erhalten. Im Begleitbrief hieß es: „Ich weiß nicht, ob er [der Bericht] Informationen enthält, die Sie nutzen können, aber ich dachte, er stößt vielleicht auf Ihr Interesse.“ Beecher führte auch selbst Menschenversuche durch, bei denen er „Ego-Depressants“ einsetzte, die „eine regressive Wirkung auf das Ich“ ausübten. Er wollte herausfinden, ob man damit die bewusste Kontrolle der Versuchspersonen außer Kraft setzen konnte.

 

To persuade a good and moral man to do evil […]
it is not necessary first to persuade him to
become evil.
It is only necessary to teach him that he is doing good.
William Ryan, Blaming the Victim, 1971

Bradbury further inquired whether it was possible to tell reliably
[…]
whether a detainee is experiencing severe pain.
The CIA responded that ‚all pain is subjective, not objective‘
[…].
US Senate Report on CIA Torture, 2014 (p. 418)
(https://www.intelligence.senate.gov/sites/default/files/publications/CRPT-113srpt288.pdf – Aufruf: 16.06.2021)

Die Rückversetzung in den Zustand absoluter Hilflosigkeit

Rekapitulieren wir noch einmal: Nach dem Krieg wurden die Ergebnisse der Versuche an KZ-Häftlingen zunächst noch vom OSS und später von der CIA ausgewertet. In der Nähe von Oberursel fanden damals an sowjetischen Gefangenen Menschenversuche statt. Daran beteiligten sich auch Psychiater, die mit US-psychoanalytischen Organisationen verbunden waren. Die so gewonnenen Ergebnisse gingen in die Forschungsprogramme ein, die in den USA an verschiedenen Universitäten und geheimen Militäreinrichtungen fortgeführt wurden. Daraus entstanden Foltermanuale wie das Counterintelligence Interrogation Manual KUBARK, das die Bush-Administration noch im Kampf gegen den ‚Terrorismus‘ einsetzte (https://www.academia.edu/3364175/Laboratory_of_war_Abu_Ghraib_the_human_intelligence_network_and_the_Global_War_on_Terror – Aufruf: 16.06.2021). Ziel der psychologischen Foltermethoden war es, den Gefangenen in den Zustand absoluter Hilflosigkeit zurückzuversetzen – sprich: in den Zustand eines kleinen Kindes, das für die Regulation seines psychosomatischen (emotionalen) Gleichgewichts noch auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist.

Im Fall eines Kleinkindes ist das in der Regel die Mutter. An deren Stelle will sich der Folterer setzen, wobei er zunächst psychologische Techniken anwendet, mit denen er den Widerstand des Opfers Schritt für Schritt brechen kann. Hat er das Opfer auf diesem Weg (Regression) in einen Zustand gebracht, in dem es sein emotionales Gleichgewicht nicht mehr aus eigener Kraft regulieren kann, dann ist es auf seinen Wärter so angewiesen wie ein Kind auf die Mutter (Übertragung). Bei Müller heißt es dazu: „Alle Methoden, die zur Überwindung von Widerständen im Laufe eines Verhörs angewandt werden, die gesamte Bandbreite von einfacher Isolation bis hin zur Hypnose und Betäubung, sind im Grunde Methoden zur Beschleunigung dieses Regressionsprozesses“. Das DDD-Syndrom (Debility – Dependency – Dread) beschreibt, wie man diesen hilflosen Zustand am effektivsten erreichen kann. Farber, Harlow und West haben diesen Weg in der Studie Brainwashing, Conditioning, and DDD bereits 1957 dargestellt, wobei sie auf Schilderungen von US-Soldaten zurückgriffen, die während des Koreakriegs (1950-1953) in chinesische oder nordkoreanische Gefangenschaft geraten waren (https://www.jstor.org/stable/2785980?origin=crossref – Aufruf: 16.06.2021):

* Debility (Schwächung) – wird durch Nahrungseinschränkung (Hunger, Durst), Müdigkeit infolge von Schlafentzug und/oder Veränderung des Tag-Nacht-Rhythmus (Finsternis am Tag, gleißendes Licht bei Nacht) sowie durch Schmerzen hergestellt, die beim stundenlangen Stehen, Liegen, Strecken, Bücken usw. entstehen, also durch Körperhaltungen, bei denen sich das Opfer als Verursacher seiner Schmerzen erleben muss. Die Folgen sind Verlust der Widerstandskraft, Verwahrlosung, Apathie und allgemeine Schwächung des Immunsystems, die somatische Erkrankungen begünstigt.

* Dependency (Abhängigkeit) – wird durch den Entzug von Schlaf, Nahrung und allen Mitteln, die für die Körperhygiene notwendig sind, sowie durch den Entzug angemessener Kleidung hergestellt. Hinzu kommen: sensorischer (akustischer und visueller) Reizentzug, der mit Überreizung (ununterbrochen lautdröhnende Musik u. dgl.) abwechselt; Entzug aller sozialen Beziehungen – mit Ausnahme der Beziehung zum Folterer, auf dessen Gunst und Zuwendung sich das Opfer nun immer mehr angewiesen fühlt. Der Gefangene soll nun glauben, er könne sich aus eigener Kraft (= scheinbare Umkehrung der Machtverhältnisse) von seinen Qualen befreien, wenn er nur die Forderungen der ihm einzig verbliebenen Bezugsperson (des Folterers) erfüllt. Die Folgen sind Scham- und Schuldgefühle des seinem Peiniger vollständig ausgelieferten Opfers.

* Dread (Furch, Angst und Schrecken) – wird durch die Androhung chronischer körperlicher und seelischer Leiden sowie durch Drohungen gegen Leib und Leben von Angehörigen hergestellt. Die Folgen sind Panik und Verlust des Lebenswillens.

Diese Foltermethoden, die zur Destabilisierung der Persönlichkeit führen sollen, wurden später durch simuliertes Ertränken (‚Waterboarding‘) ergänzt, eine Methode, deren Anwendung bis in die Zeit der Heiligen Inquisition zurückverfolgt werden kann, in der die Geständnisse noch im Namen Gottes erpresst wurden. James Mitchell, ein US-Psychologe, hat ‚Waterboarding‘ in das von ihm entwickelte Verhörprogramm integriert, für das er von der CIA 81 Millionen US-Dollar erhielt.

Das vom OSS als CHATTER (dt. ‚Plaudern‘) bezeichnete Verhaltenskontrollprogramm wurde 1953 dem CIA-Forschungsprogramm MKULTRA eingemeindet, welches bis ca. 1964 fortgeführt wurde. Nach Müller war MKULTRA in 1149 Subprojekte aufgegliedert, an denen insgesamt 185 Wissenschaftler beteiligt waren, die an 44 Universitäten, 12 Krankenhäusern, 3 Gefängnissen und 15 nicht näher bezeichneten Forschungseinrichtungen arbeiteten. Die Mehrzahl der Wissenschaftler, die solche Experimente an Krankenhauspatienten und Gefängnisinsassen durchführten, kannte die wahren Auftraggeber allerdings nicht, da viele der Forschungsprogramme von scheinbar neutralen, tatsächlich aber CIA-bestimmten Fördereinrichtungen und Stiftungen finanziert wurden.

Mitte der 1970er Jahre versuchte der US-Kongress, Einblick in dieses Geflecht der MKULTRA-Forschungsprogramme zu gewinnen, was allerdings nur unzureichend gelang. CIA-Direktor Richard Helms (1966-1973) hatte zuvor dafür gesorgt, dass so viele Akten wie möglich vernichtet wurden. Die Kenntnis des MKULTURA-Projekts, das der Erforschung der Wirkung von Drogen, Giften, Chemikalien, Hypnose, Psychotherapie, Elektroschocks, Krankheitserregern, Operationen, Gas u. dgl. m. diente, muss daher notgedrungen lückenhaft bleiben. Müller hat dennoch versucht, einige dieser Forschungsprogramme zu rekonstruieren, darunter auch das von Henry A. Murray geleitete Multiform Assessments of Personality Development, das – wie Müller vorsichtig schreibt – „wahrscheinlich im Rahmen von MKULTRA“ durchgeführt wurde. Zwischen 1959 und 1962 nahmen an diesem Projekt zweiundzwanzig Studenten der Harvard University teil, die jede Woche eine Stunde lang in einer simulierten Verhörsituation verbal erniedrigt und gedemütigt wurden. Man wollte herausfinden, wie sich dieser Stress auswirken würde. Unter den Versuchspersonen war auch der damals 17-jährige Mathematikstudent Theodore Kaczynski, der Jahre später als ‚Unabomber‘ bekannt werden sollte. Als solcher verschickte er zwischen 1978 und 1995 Briefbomben (bevorzug an Hochschullehrer). Die Attentate, die er als Notwehrmaßnahmen begriff, hatten zahlreiche Verletzte zur Folge und kosteten drei Menschen das Leben. 1995 verfasste er dann ein Manifest mit dem Titel Industrial Society and Its Future, das er an verschiedene Zeitungen sandte. Darin hieß es, die industriell-technologische Gesellschaft bedrohe die Würde des Menschen und führe zu psychischen Erkrankungen. 1996 wurde Kaczynski verhaftet. Man bescheinigte ihm paranoide Schizophrenie – und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. Im Gefängnis schrieb Kaczynski das Buch Anti-Tech Revolution: Why and How (2015). Bei Amazon heißt es dazu: „The book discusses the problems of modern technology that will ultimately lead to the destruction of our society and the environment.“

Bereits in den 1940er Jahren hatte Donald E. Cameron, der 1943 an der McGill University in Montreal das Allan Memorial Institute gründete und von 1957 bis 1964 am CIA-Programm MKULTRA beteiligt war, für das OSS zwei Programme der Verhaltensmanipulation entwickelt: das Depatterning Treatment (Aufhebung von Verhaltensmustern durch Elektroschocks) und das Psychic Driving (die Versuchsperson wird einer sich ständig wiederholenden Audio-Nachricht ausgesetzt). 1962 veröffentlichte Cameron dann gemeinsam mit zwei psychoanalytisch ausgebildeten Ärzten – John George Lohrenz (Mitglied der Canadian Psychoanalytic Society seit 1966) und Kenneth A. Handcock (IPV-Mitglied seit 1967) – den Beitrag The Depatterning Treatment of Schizophrenia, in dem das Behandlungsprogramm der ‚Psychodialyse‘ genauer beschrieben wird. Müller zitiert daraus (in deutscher Übersetzung) folgenden Passus: „In ihrer ursprünglichen Form basierte die Methode auf der Anwendung von zwei bis vier Elektroschockgaben täglich bis hin zur Entwicklung eines organischen Hirnsyndroms beim Patienten, welches mit akuter Verwirrung, Desorganisation und Beeinträchtigungen bezüglich erlernter Gewohnheiten wie Nahrungsaufnahme, Blasen- und Darmkontrolle einherging. In diesem Zustand verlor der Patient seine schizophrene Symptomatik. Wenn die Elektroschocks nach ca. dreißig Anwendungen eingestellt wurden, folgte eine Reorganisation. Die organischen Symptome gingen rasch zurück und, in günstigen Fällen, trat die schizophrene Symptomatik nicht mehr auf.“ Soweit ein erster Eindruck von dieser vermeintlich erfolgreichen therapeutischen Maßnahme. Weiter heißt es in dem zitierten Artikel, nach massivem Depatterning sei der Patient „unfähig […], ohne Unterstützung zu laufen, Nahrung aufzunehmen, und kann doppelte Inkontinenz zeigen [Urin & Fäzes]. […] Seine Kommunikation ist kurz und selten spontan, seine Antworten auf Fragen sind in keinerlei Weise von Erinnerungen an die Vergangenheit oder von Zukunftsantizipationen geprägt. […] Er lebt, so scheint es, in einem sehr engen Zeit- und Raumsegment. Alle Aspekte seines Erinnerungsvermögens sind schwer gestört. Er kann nichts von dem aufnehmen, was um ihn herum passiert. Er kann sich an keine Daten der Vergangenheit erinnern.“ Die Veröffentlichung dieser Prozedur, der in Camerons Klinik im Laufe der Jahre hunderte Patienten unterzogen wurden (darunter die Frau eines kanadischen Parlamentsabgeordneten, die hinterher nur noch den Verstand eines Kleinkinds besaß und keine Erinnerung an ihren Ehemann und ihre Kinder mehr hatte), in der Fachzeitschrift Comprehensive Psychiatry stieß bei den Lesern auf keinerlei Widerspruch.

Zu Camerons Team gehörte auch der psychoanalytisch ausgebildete Psychiater Hassan Azima, der Anfang der 1960er Jahre dessen Techniken in die so genannte ‚anaklitische‘ Psychotherapie integrierte, als deren ‚Erfinder‘ Sydney G. Margolin gilt, der (wie oben erwähnt) an einem Wahrheitsdrogenprojekt des OSS teilgenommen hatte. Margolin fasste die anaklitische Therapie als eine der Mutter-Säuglings-Interaktion nachgebildete Übertragungsreaktion auf. Azima experimentierte bei seiner Anwendung dieser Therapie mit verschiedenen regressionsfördernden Techniken unter Einschluss sensorischer Deprivation und barbituratinduziertem Dauerschlaf. Hatte er den Patienten in den Zustand primärer Bedürftigkeit zurückversetzt, behandelte er ihn, als wäre er (wieder) ein Säugling, dem Azima dann wie eine Mutter begegnete: mit Flaschenfütterung, Windeln, symbolischem Spiel mit Knete (anstelle von Kot), Gips, Fingerfarben usw. So sollte die Persönlichkeitsentwicklung des Patienten unter Ausschluss aller Erinnerungen hier und jetzt neu in Gang gesetzt werden.

Für derartige Techniken interessierte sich auch die CIA, die deshalb im Juni 1958 an der Harvard Medical School ein Symposium zur sensorischen Deprivation finanzierte, an dem neben Azima viele prominente Psychoanalytiker teilnahmen, darunter Grete Bibring-Lehner, Robert R. Holt, George S. Klein, Lawrence S. Kubie, John C. Lilly und Sydney G. Margolin. Ein weiterer Teilnehmer war der für die Entwicklung von Gehirnwäschebefragungsmethoden bekannte und vielfach ausgezeichnete Psychologe Donald O. Hebb, der von der American Psychological Association (APA) 1961 den Distinguished Scientific Contribution Award bekam. Die Vorträge dieses Harvard-Symposiums erschienen im selben Jahr in dem von Philip Solomon et al. herausgegebenen Band Sensory Deprivation: A Symposium Held at Harvard Medical School (1961). Hebb kommt in diesem Buch wie folgt zu Wort: „Die Arbeit, die wir an der McGill University leisteten, setzte sich zu Beginn mit dem Problem der Gehirnwäsche auseinander. Natürlich durften wir dies in den ersten Publikationen nicht so nennen. Hauptgrund hierfür waren die so erlangten ‚Geständnisse‘ in Gerichtsverfahren gegen russische Kommunisten. Der Begriff ‚Gehirnwäsche‘ tauchte später im Zusammenhang mit Methoden der Chinesen auf. Wir wussten nicht, wie die Methoden der Russen aussahen. Jedenfalls führten sie zu auffälligen Verhaltensänderungen. Wie diese erreicht wurden? Nun, eine Möglichkeit war die Einschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit der Befragten. Und genau hierauf konzentrierten wir uns bei unserer Forschung“ (deutsche Übersetzung Müller).

Der Militärsoziologe Albert D. Biderman hatte anhand der Aussagen freigelassener US-Soldaten, die während des Korea-Kriegs in Gefangenschaft geraten und gefoltert worden waren, eine Liste entsprechender Verhörmethoden zusammengestellt (http://www.uni-kiel.de/psychologie/psychophysik/mausfeld/Mausfeld_Psychologie%20und%20Folter.pdf – Aufruf: 16.06.2021). In einem Nachruf der Washington Post vom 21. Juni 2003 heißt es über Biderman: „His work on forceful interrogation led to changes in U.S. military policy and training“. Zu den nach ihm benannten ‚Biderman-Prinzipien‘ gehörte neben Erniedrigung und Ängstigung der Gefangenen der Einsatz sensorischer Deprivation. 1961 gaben Biderman und Zimmer ein von der CIA finanziertes Buch mit dem Titel The Manipulation of Human Behavior heraus, in dem auch Louis A. Gottschalk zu Wort kam, der 1956 Mitglied der APsaA und 1977 Lehranalytiker des Southern California Psychoanalytic Institute wurde. Er beschrieb in dem genannten Sammelband den Einsatz von Wahrheitsdrogen bei Verhören.

In einer der vielen Tabellen seines Buches gibt Müller einen Überblick der im KUBARK-Manual zusammengefassten Forschungsarbeiten zu „psychologischen Foltertechniken und Methoden der Verhaltensmanipulation“. Eine Arbeit Gottschalks, die hier angeführt wird, zitiert Müller wie folgt: „Die heimliche Verabreichung einer Droge beinhaltet eine wohlüberlegte und der Persönlichkeit des Subjekts angepasste Auswahl eines Mittels mit minimalen Nebenwirkungen sowie die sorgfältige Dosierung und das Abwarten des richtigen Zeitpunkts […]. […] Subjekte, die voller Scham- und Schuldgefühle stecken, werden mit großer Wahrscheinlichkeit unter dem Einfluss von Drogen ihr Herz ausschütten […]. ‚Ich wurde unter Drogen gesetzt‘, ist eine der besten Entschuldigungen.“ Jahre später erinnerte sich Gottschalk mit Stolz an verschiedene Stationen seines wissenschaftlichen Werdegangs, darunter auch am „Allan Memorial Institute, Montréal“:  „[…] und, wissen Sie, […] ich war dort der Assistenzarzt, der mit Cameron zusammenarbeitete“ (deutsche Übersetzung Müller).

 

I am a physician and I practice the healing art.
I am interested in treating sick behavior –
not in controlling behavior.
Robert G. Heath,
Aussage bei einer Anhörung vor dem US-Senat, 1973

Auch Neurowissenschaftler waren willige Helfer

Herbert E. Krugman hat 1953 im Artikel The Role of Hostility in the Appeal of Communism in the United States die Ergebnisse der Behandlung von 22 Analysepatienten ‚mit kommunistischer Einstellung‘ erörtert. Die dafür nötigen Daten hatten ihm deren Psychoanalytiker (meist orthodox freudscher Provenienz) zur Verfügung gestellt. Krugman führte mit jedem dieser (im Artikel namentlich nicht genannten) Therapeuten noch ein persönliches Gespräch. Dabei wurden u.a. die politische Biographie des Patienten, die psychologische Funktion kommunistischer Verbindungen und Einstellungen und besondere Aspekte dieses Patienten im Vergleich zu anderen ohne kommunistische Einstellung besprochen. Die Psychoanalytiker, die solche Auskünfte zur Verfügung stellten, ohne die Genehmigung ihrer Patienten eingeholt zu haben, verstießen gegen Grundsätze der ärztlichen Ethik.

An anderer Stelle führt Müller das Beispiel eines Psychiaters mit psychoanalytischer Ausbildung an, der ebenfalls wiederholt gegen medizinethische Grundsätze verstoßen hat: Nolan D. C. Lewis, Direktor des New York State Psychiatric Institute, den die CIA 1952 zum Geheimnisträger ernannte. In einem Nachruf der New York Times vom Dezember 1979 heißt es: „In 1946 and 1947, he was a psychiatric consultant at the war crime trials in Nuremburg, and, on a special assignment, he did research for the United States Government on Nazi medical experiments.“ Obgleich Lewis also Kenntnis über die an KZ-Häftlingen unternommenen Experimente aus erster Hand hatte, wurden an der von ihm geleiteten Klinik Menschenversuche mit Halluzinogenen durchgeführt. Außerdem wusste er über die Experimente Bescheid, denen Strafgefangene im Gefängnis Sing Sing unterworfen wurden. Auch diese Versuche sollten über die Wirkung so genannter ‚Wahrheitsdrogen‘ Aufschluss geben.

1969 gründete Lewis mit James P. Cattell (psychoanalytische Ausbildung am Center for Psychoanalytic Training der Columbia University) und Henry P. Laughlin (psychoanalytische Ausbildung am Washington-Baltimore Psychoanalytic Institute; Autor u.a. der Bücher The Neuroses in Clinical Practice, 1956, und The Ego and Its Defenses, 1979) das American College of Psychoanalysts (ACOPSA), das – laut Müller – zum „Sammelbecken für Psychoanalytiker mit nachrichtendienstlicher Anbindung“ wurde. Henry P. Laughlin, der spätere ACOPSA-Ehrenpräsident auf Lebenszeit, verfasste 1952 im Auftrag der ‚Firma‘ den so genannten Laughlin-Report, in dem er – wie Müller schreibt – „die damals gängigen psychiatrischen Methoden zur Manipulation menschlichen Verhaltens und Bewusstseins“ mit sowjetischen Techniken der Gehirnwäsche verglich. Der Report bestand aus neun Abschnitten, in denen u. a. Narkoanalyse, Schlafentzug, Gehirnwäsche und Lobotomie beschrieben wurden.

Die zuletzt genannte Prozedur begann damit, dass man den Patienten durch Elektroschocks zur Bewusstlosigkeit brachte und ihm anschließend hinter dem Augapfel mit einem Hammer und einer Stahlnadel der Schädel öffnete, um die dort verlaufenden Nervenbahnen vom Stirnlappen zum Hirnzentrum zu zerstören. Walter J. Freeman soll diese ‚Operation‘ bis zu 25-mal täglich (und im Laufe seines Berufslebens etwa 3.500-mal) durchgeführt haben. Sein prominentestes Opfer war Rosemary Kennedy, eine Schwester des späteren US-Präsidenten, an der er 1941 eine Lobotomie vornahm. Danach konnte sie sich nur noch in einer geschlossenen Anstalt aufhalten (https://www.aerzteblatt.de/archiv/60000/Die-Lobotomie-Wie-ein-Relikt-aus-finsterer-Zeit – Aufruf: 30.06.2021). Beim Besuch des State Hospital in West Virginia konnte Laughlin das ‚therapeutische‘ Handwerk Freemans aus nächster Nähe beobachten. Er sah zu, wie Freeman an zwei Tagen zweiundzwanzig Patienten den Schädel aufhämmerte. Im Anschluss daran gab Laughlin dann zwar zu bedenken, dass die „Nutzung dieser Prozedur […] von einigen Gruppen als fantastisch angesehen werden“ könnte, doch dann fügte er hinzu: „Wenn es möglich wäre, diese Art des Eingriffs an Mitgliedern des Politbüros durchzuführen, würde die UdSSR für uns kein Problem mehr darstellen!“

Im Laughlin-Report wird schließlich auch noch die Frage erörtert, ob die sowjetischen Verhörmethoden in den USA übernommen werden könnten. Dafür wären drei Voraussetzungen nötig, meinte Laughlin: (1) Die Verhörspezialisten müssten sich durch Geschicklichkeit, Ausdauer und fehlendes Mitgefühl auszeichnen; (2) die Abwesenheit normaler Skrupel, Moral und Ethik – „Aspekte, die wir nach wie vor schätzen“ – müsste gewährleistet sein; und (3) müssten die Folterer von der Gerechtigkeit, Wahrheit und Richtigkeit ihrer Beweggründe zutiefst überzeugt sein. „Würden wir jemals etwas Ähnliches anwenden, befänden wir uns sicherlich nicht mehr in einer Position, andere kritisieren zu können, die diese [Techniken] einführten und nutzten.“

Der Laughlin-Report von 1952 war nur einer von vielen Schritten auf dem langen Weg der Sammlung, Erforschung und Anwendung psychologischer Techniken, die euphemistisch ‚weiße‘ Folter genannt werden, weil sie keine sichtbaren körperlichen Schäden hinterlassen, wohl aber die Persönlichkeit der Gefolterten systematisch zerstören (vgl. C. Hilbrand: Saubere Folter. Auf den Spuren unsichtbarer Gewalt, 2015). Im KUBARK-Manual von 1953 wurden sie systematisiert. Später wurden sie wiederholt angewandt. Zum Beispiel durch das im Vietnamkrieg eingesetzte PHOENIX-Programm, in dessen Verlauf 20.000 Vietkong (oder auch nur Vietkong-Sympathisanten) zu Tode gefoltert wurden. In einem Artikel aus dem Jahr 2006 heißt es dazu: „Am Bien Hoa Hospital erschien im Juli 1968 ein Team der CIA mit einem Neurochirurgen, der, wie ein Journalist es beschrieb, ‚kleine Elektroden in die Gehirne dreier Vietkong-Gefangener implantierte‘. In ersten […] Tests nutzten die CIA-Verhaltensspezialisten ‚Radiofrequenzen […], um die Versuchspersonen unvermittelt zum Defäkieren oder zum Erbrechen zu bringen‘. Danach gaben sie ihnen Messer in die Hand, sperrten sie in einen Raum ein und gingen daran, ‚die Knöpfe ihrer Handsteuerungen zu drücken […], um ihre Versuchspersonen gewalttätig werden zu lassen‘. Nach einer Woche […] reisten die Wissenschaftler wieder ab, während die Gefangenen von den Soldaten der Green Berets erschossen und ihre Körper verbrannt wurden“ (dt. Übersetzung Müller; s. dazu: https://www.researchgate.net/publication/271506252_A_Question_of_Torture_CIA_Interrogation_From_the_Cold_War_to_the_War_on_Terror – Aufruf: 30.06.2021). Diesem Beispiel ‚angewandter‘ Wissenschaft fügte Müller hinzu: „Die Grundlagenforschung für diesbezügliche Versuche [mit ins Hirn eingepflanzten Elektroden] wurden u. a. von drei Psychoanalytikern durchgeführt: John C. Lilly, Robert G. Heath und Russell R. Monroe.“

Während Heath und Monroe direkt im Auftrag der CIA forschten, arbeitete Lilly im Rahmen einer regierungsbezogenen Anstellung. Die Ergebnisse seiner Arbeit kamen jedoch auch der CIA zugute. Einen Teil seiner psychoanalytischen Ausbildung hatte Lilly 1949-1957 an der Philadelphia Association for Psychoanalysis / Philadelphia Psychoanalytic Society absolviert. Sein damaliger Lehranalytiker war Robert Waelder, der vormals dem ‚Committee on Morale‘ angehört hatte, das im Auftrag des OSS APsaP-Mitglieder zur Bespitzlung von Analysepatienten aufforderte. 1965 war Lilly Teilnehmer der Proceedings of a Contractor’s Conference on Behavioral Sciences am Edgewood Arsenal, eine Tagung, zu der neben Mitarbeitern dieses geheimen Militärforschungszentrums auch andere „kompetente Wissenschaftler“ eingeladen wurden. Bereits in den 1950er Jahren hatte Lilly mit Hilfe von Elektroden die Muster der elektrischen Aktivität des Gehirns auf einem Kathodenstrahl-Bildschirm demonstriert. Danach beschäftigte er sich mit den Folgen sensorischer Deprivation. Zu diesem Zweck benutzte er einen Isoliertank, in dem er die Versuchspersonen von äußeren Reizen abgeschirmt wie Embryos in der Fruchtblase mit einer Atemmaske ausgestattet in Salzwasser schwimmen ließ. Schließlich verabreichte er ihnen auch noch psychoaktive Drogen. Als er herausgefunden hatte, dass Menschen auch mit Delphinen kommunizieren können, wurde der Saulus-Lilly zum Paulus-Lilly, der für eine Welt ohne Tierversuche eintrat.

Robert Galbraith Heath, der – im Unterschied zu Lilly – direkt an der Grundlagenforschung für das CIA-Folterprogramm MKULTRA beteiligt war, hatte seine psychoanalytische Ausbildung am Center for Psychoanalytic Training der Columbia University abgeschlossen. 1954 wurde er Mitglied der Association for Psychoanalytic Medicine. 1949 gründete er an der Tulane University in New Orleans das Department of Psychiatry and Neurology. Dort unterzog er Patienten, denen er vorher Elektroden ins Hirn gepflanzt hatte, einer Deep Brain Stimulation (DBS). Vom Erfolg dieser Methode war er so sehr überzeugt, dass er sich noch 1972 damit brüstete, er habe einen homosexuellen zu einem heterosexuellen Mann machen können. In den 1950er Jahren pflanzten Heath und sein Kollege Bailey dann auch noch afroamerikanischen Gefangenen des Louisiana State Penitentiary Elektroden ins Gehirn. Später sagte Bailey, es sei damals „billiger“ gewesen, „Neger zu benutzen als Katzen“ (http://www.tulanelink.com/tulanelink/twoviews_04a.htm – Aufruf: 30.06.2021). Anderen Strafgefangenen verabreichte Heath ein – schizophrenen Patienten entnommenes – Substrat namens Taraxein, um herauszufinden, ob er bei ihnen damit Schizophrenie auslösen konnte. Müller zitiert eine Arbeit von Clarence L. Mohr und Joseph E. Gordon (2001), in der es heißt: „Über einen Zeitraum von einem Vierteljahrhundert operierten Heath und seine Kollegen mehr als 60 Patienten, implantierten bis zu 125 Elektroden in den Schädel eines einzigen Individuums und entwickelten Methoden, die es erlaubten, dass Elektroden über Jahre hinweg im Gehirn verbleiben konnten.“ Bleibt anzumerken, dass zu Ehren von Heath an der Tulane University seit 1985 eine Heath Endowed Lectureship in Psychiatry and Neurology besteht.

Russell Ronald Monroe, der zweite oben genannte Arzt, der direkt am MKULTRA-Programm beteiligt war, führte an der Tulane University ebenfalls Humanexperimente mit Elektroden und psychoaktiven Drogen durch (s. http://www.tulanelink.com/mind/tulane_role_04a.htm – Aufruf: 30.06.2021). Wie Heath hatte Monroe seine psychoanalytische Ausbildung am Center for Psychoanalytic Training der Columbia University absolviert. 1976 wurde er Direktor der psychiatrischen Abteilung der University of Maryland, wo er im Auftrag der ‚Firma‘ weiterarbeitete – unterstützt von den Psychoanalytikern Charles Savage und Walter Weintraub. Für eine Dokumentation des Fernsehsenders ABC zum CIA-Forschungsprogramm MKULTRA wurde 1979 auch Monroe gefragt, der dabei etwas unbeholfen wirkte:

Interviewer: „Dr. Monroe, what …what do you think the Army Medical Corps was looking for in all of this testing?“
Dr. Monroe: „They were looking for an incapacitating agent. Ah …an agent that would not harm a person permanently, but would incapacitate them temporarily. That seems like a … a humanistic way to …[lacht] t…t… to wage a war, if war is necessary.“

 

As in ethical matters generally,
the case of psychoanalysis [… is] best served
in seeking to resolve this matter
in an orderly confidential manner without public debate.
Bernard M. Malloy, 1975

Ein Whistleblower soll „neutralisiert“ werden

Im Januar 1969 trat Richard (‚Tricky Dick‘) Nixon sein Amt als 37. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika an. Anderthalb Jahre später geriet That Arrogant Dick Nixon (so der Titel eines Rocksongs von Frank Zappa) in ernsthafte Schwierigkeiten. Die New York Times hatte am 13. Juni 1973 damit begonnen, die ‚Pentagon-Papiere‘ zu veröffentlichen (https://www.archives.gov/research/pentagon-papers – Aufruf: 05.07.2021). Mit Berufung auf die ‚nationale Sicherheit‘ verbot Nixon die weitere Veröffentlichung. Am 30. Juni 1973 hob der Oberste Gerichtshof der USA das Verbot wieder auf. Nixon war außer sich. Dank einer illegalen Abhöraktion seines Justizministers John N. Mitchell war ihm der Name des Whistleblowers aber bereits bekannt: Daniel Ellsberg, der in den 1960er Jahren als Militäranalyst in Vietnam war und nach seiner Rückkehr an der von Verteidigungsminister McNamara bei der RAND Corporation in Auftrag gegebenen Studie United States-Vietnam Relations, 1945–1967: A Study Prepared by the Department of Defense mitgearbeitet hatte.

Aus dieser Studie ging hervor, mit welchen Argumenten die US-Öffentlichkeit über die Hintergründe des Krieges in Vietnam jahrzehntelang getäuscht worden war. So sollte 1964 zum Beispiel ein Angriff nordvietnamesischer Schnellbote auf zwei US-Kriegsschiffe im Golf von Tonkin stattgefunden haben, eine Lüge, mit der die Bombardierung Nordvietnams gerechtfertigt wurde. Ellsberg wollte mit der Weitergabe der Pentagon-Papiere die Fortsetzung dieses mit falschen Begründungen geführten Kriegs zumindest erschweren. Erinnern wir uns: Der Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten in den Irak 2003 wurde auch mit einer Lüge begründet. Angeblich gab es Massenvernichtungswaffen, die zerstört werden mussten. In Deutschland waren damals die lautesten Claqueure von Bush und Blair Enzensberger und Biermann, die den Irakkrieg mit pseudointellektuellen Blendgranaten unterstützten. Ellsberg hatte hingegen noch einen moralischen Kompass und stellte sich den regierungsamtlichen Lügen in den Weg. Nixon klagte ihn deshalb wegen ‚Spionage‘ an. Der Prozess platzte jedoch und Ellsberg blieb ein freier Mann, nachdem ein gegen ihn gerichtetes Komplott der Nixon-Regierung aufgedeckt worden war. In dieses Komplott waren – wenngleich in sehr unterschiedlicher Weise – auch zwei Mitglieder der US-amerikanischen Psychoanalyse verwickelt. In einem Kapitel seines Buches mit der Überschrift „Daniel Ellsbergs ‚Pentagon Papiere‘, Bernard M. Malloy und die APsaA“ hat Müller diesen Fall detailliert dargestellt.

Demnach hatte der vormalige CIA-Agent E. Howard Hunt, der zu Nixons ‚Klempner‘-Gruppe gehörte – so genannt, weil sie (Informations)-Lecks im Regierungsapparat aufspüren und abdichten sollte – den Einbruch in die Praxis des Psychoanalytikers Lewis J. Fielding vorgeschlagen, bei dem Ellsberg vorübergehend in Behandlung war. Die Ellsberg betreffenden Akten sollten gestohlen und zwecks „Neutralisierung von Ellsberg“ verdeckt der Presse zugespielt werden, um die Glaubwürdigkeit des Whistleblowers als eines psychisch Kranken zu untergraben. Im September 1971 war es soweit: Die ‚Klempner‘ brachen in Fieldings Praxis ein und stahlen die Akten (https://www.smithsonianmag.com/history/the-worlds-most-famous-filing-cabinet-36568830/ – Aufruf: 05.07.2021). Ein halbes Jahr später versuchten sie auch noch, in den Watergate-Bürokomplex einzubrechen, in dem sich das Hauptquartier der Demokratischen Partei befand. Der Einbruch scheiterte dank der Aufmerksamkeit eines Wachmanns. Die ‚Klempner‘ wurden als Nixons Mitverschwörer erkannt, gegen den ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wurde, dessem Ausgang Nixon durch Rücktritt im August 1974 zuvorkam. Einen Monat später begnadigte ihn sein Nachfolger Gerald Ford, der damit alle weiteren Strafprozesse gegen Nixon verhinderte. Soviel zu zwei US-Republikanern im Weißen Haus, deren vorläufig letzter Nachfolger Donald J. Trump seine zweite Amtszeit als Präsident der USA nur wegen einer ‚Big Lie‘ nicht antreten konnte (It was all a big lie / There was no heart to break / Everything seemed about it fake / Like it just didn‘t take – Song: Van Morrison).

Daniel Ellsberg war, soweit bekannt, der erste US-Staatsbürger, gegen den der Auslandsgeheimdienst CIA eingesetzt wurde. Nixons engste Berater wussten Bescheid – darunter Henry Kissinger, der für den von der CIA 1973 organisierten Putsch gegen Chiles demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende verantwortlich war (https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB437/ – Aufruf: 05.07.2021). Beim Komplott gegen Ellsberg kam dem Leitenden Psychiater des Office of Medical Services der CIA Bernard M. Malloy eine besondere Rolle zu. Müller nimmt aufgrund der Phyllis Greenacre Papers (Manuscript Division, Library of Congress, Subject File, 1903–1999) an, dass Malloy zeitweise auch mit Phyllis Greenacre Kontakt hatte. Sie gehörte in den 1950er und 1960er Jahren dem psychiatrischen Beraterteam der CIA an. In dieser Zeit war sie Vorsitzende der New Yorker Psychoanalytischen Gesellschaft (1956/57). Später wurde sie Vizepräsidentin (1964/65) und schließlich Ehrenpräsidentin der IPV. Bezüglich der gegen Ellsberg ergriffenen Maßnahmen [https://www.archives.gov/files/research/jfk/releases/104-10104-10145.pdf – Aufruf: 05.07.2021] heißt es in den 1974 veröffentlichten Memoiren des ‚Klempners‘ Hunt: „Ich rief […] Dr. Bernard Malloy an und lud ihn für eine Konferenz im Raum 16 des Weißen Hauses ein […]. Bevor er ging, überließen wir Dr. Malloy den Großteil der geheimen Informationen, die bisher über Daniel Ellsberg gesammelt worden waren, und baten ihn um die schnellstmögliche Erstellung eines ‚indirekten Gutachtens seiner Persönlichkeit‘“.

Aus den 1975 veröffentlichten Protokollen des Watergate-Untersuchungsausschusses geht hervor, dass Malloy sehr genau wusste, warum er ein ‚Gutachten‘ anfertigen sollte: „The information that they gave me was to the effect that they wished to try Dr. Ellsberg in public“ (https://books.google.de/books?id=bgPSAAAAMAAJ&pg=PA25&lpg=PA25&dq=Bernard+M.+Malloy+cia&source=bl&ots=7XsS0eGCCk&sig=ACfU3U1iG_nh3-geHtSDnIuahtJV2vgpzw&hl=de&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q=Bernard%20M.%20Malloy%20cia&f=false – Aufruf: 05.07.2021). Die erste Fassung des ,Gutachtens‘ fertigte ein Mitarbeiter Malloys an. Da man mit der Qualität dieser Arbeit nicht zufrieden war, wurde ein zweites ‚Gutachten‘ in Auftrag gegeben, für das Malloy weitere Informationen anforderte („Dr. Ellsberg’s early life, his childhood, information concening his progress through life, may be school records, yearbooks from college and so forth and so on“). Malloys Vorgesetzter Dr. Tietjen äußerte sich vor dem Watergate-Untersuchungsausschuss später so zur Qualität dieses von Malloy angefertigten Gutachtens: „I think it is the best we could have done under the circumstances.“

Nachdem durch den Watergate-Untersuchungsausschuss Malloys Beteiligung am Versuch bekannt geworden war, Ellsberg öffentlich bloßzustellen, musste er um seinen guten Ruf fürchten (https://www.nytimes.com/1973/09/26/archives/doctor-at-cia-links-kissinger-to-request-for-ellsberg-profile-c-i-a.html – Aufruf: 05.07.2021). Und als dann auch noch George H. Pollock, der Präsident der APsaA, einen Brief erhielt, in dem die Rolle des CIA-‚Gutachters‘ Malloy kritisch hinterfragt wurde, stand ihm das Wasser bis zum Hals: „Lieber Dr. Pollock: Wie sie ohne Zweifel wissen, wurde im letzten Jahr in der Presse ausführlich über die Verbindungen eines Dr. Bernard M. Malloy mit den Watergate-Untersuchungen berichtet, der an einer ‚psychiatrischen Studie‘ über Dr. Ellsberg beteiligt war. Der Rat der Association for Psychoanalytic Medicine wurde darauf aufmerksam, dass Dr. Malloy kürzlich seine Ausbildung an einem Ausbildungsinstitut abgeschlossen hat, welches durch die American Psychoanalytic Association akkreditiert ist […]. Unser Rat möchte hiermit Sorge darüber zum Ausdruck bringen, welche Auswirkungen es haben könnte, wenn ein Mitglied der American Psychoanalytic Association an politischen Manövern teilhat, die an sowjetische Techniken erinnern, bei denen Regierungsunternehmungen dazu dienen, die ‚Psychiatrie‘ einzubinden, um politische Dissidenten einzuschüchtern […]“ (dt. Übersetzung des Briefes n. Müller).

Es dauerte nicht lang – und Pollock erhielt einen zweiten Brief, diesmal von Dr. Malloy persönlich: „Mir wurde mündlich mitgeteilt, dass eventuell eine Beschwerde eingereicht werden würde, bezüglich meiner angeblichen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Erstellung eines Persönlichkeitsprofils von Daniel Ellsberg […]. Ich hoffe, dass […] verhindert werden kann, dass mein Name unnötigerweise in die Öffentlichkeit getragen wird.“ Schließlich hatte der stellvertretende Leiter des Nachrichtendienstes der CIA ja schon bescheinigt, dass Malloy nur seine Pflicht erfüllt hatte. Demnach war die Abfassung des Ellsberg-Profils „eine Notwendigkeit, die aus Interessen der nationalen Sicherheit erwuchs“. Die Funktionäre der ehrenwerten psychoanalytischen Gesellschaft, der Malloy angehörte, sahen das offenbar ähnlich. Jedenfalls ließen auch sie Nachsicht walten. Müller merkt dazu an: 2006 wurde „der CIA-Psychiater“ und „White House Special Investigation Unit-Konspirator“ Dr. Bernard M. Malloy „von der […] Baltimore Washington Society for Psychoanalysis als Life Member gelistet – ein Freispruch mit exquisiter Ehrbekundung von Seiten der psychoanalytischen Gemeinschaft“.

 

The ‚Lobo-Cabernite Affair‘,
[…] certainly constitutes one of the most shameful episodes
[…] within the history of psychoanalysis […].
Robert S. Wallerstein, 1985/89 Präsident der IPV, 2005

Ein Folterarzt als psychoanalytischer Ausbildungskandidat

Die eingangs gestellte Frage, ob es denkbar sei, dass Psychoanalytiker mit Geheimdiensten zusammenarbeiten, ist aufgrund der von Knuth Müller geleisteten Pionierarbeit zumindest im Hinblick auf Vertreter der US-Psychoanalyse eindeutig zu beantworten: ja! Einige stellten ihre Dienste den US-Geheimdiensten direkt und bewusst zur Verfügung, andere nahmen – möglicherweise ohne dies zu wissen – an Forschungsprogrammen teil, die von CIA-Tarnorganisationen finanziert wurden. Und schließlich konnte man das Wissen über ‚weiße‘ Foltertechniken auch noch mit Partnern in befreundeten Ländern (etwa Israel) teilen (https://www.haaretz.com/opinion/.premium-will-the-u-s-stop-importing-israeli-torture-techniques-1.5437667 – Aufruf: 16.06.2021; https://monde-diplomatique.de/artikel/!3206153 – Aufruf: 05.07.2021).

Die so oder so erbrachten Forschungsergebnisse fanden Eingang in geheime Foltermanuale, die für die Schulung von Verhörspezialisten der USA und befreundeter Länder benutzt wurden. Das geschah zum Beispiel am Latin American Training Center – Ground Division, das 1946 in der damals noch von den USA kontrollierten Panamakanalzone gegründet wurde. Hier erlernten vor allem süd- und mittelamerikanische Militärs das Folterhandwerk, das sie für die Aufrechterhaltung der (von den USA gewünschten) ‚Ordnung‘ in ihren Ländern benötigten. 1984 zog diese ‚School of the Americas‘ genannte Einrichtung nach Fort Benning (Georgia) um, wo sie seither Western Hemisphere Institute for Security Cooperation heißt (https://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/soa2004/terroristenschule.htm – Aufruf: 20.07.2021).

Müller hat in seinem Buch dem Kapitel „Evolution psychologischer Folterforschung in den USA 1945-1983“ dieses Zitat von Bernhard Rubin vorangestellt: „For to protect an institution, any institution, for any reason, at the expense of human beings is to betray psychoanalysis. But more profoundly, it is also to betray the humanity which psychoanalysis understands itself to be born to serve.“ Rubin bezeichnet es demnach als Verrat an psychoanalytischen Grundsätzen, wenn die Interessen einer Institution (welcher auch immer) über den Schutz von Menschen gestellt werden. Rubin bezieht sich dabei konkret auf das Verhalten der Repräsentanten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung während (aber nicht nur) der Militärdiktatur in Brasilien (1964-1985). Nach einem von der CIA unterstützten Militärputsch waren dort gutausgebildete Verhörspezialisten gefragt. Dabei kam es zu schwersten Menschenrechtsverletzungen – darunter Folter mit Vergewaltigungen und anschließendem ‚Verschwindenlassen‘ (Verscharren, Verbrennen usw.) der Gefolterten (https://www.dandc.eu/de/article/brasiliens-demokratie-muss-lehren-aus-dem-schrecken-der-militaerdiktatur-ziehen – Aufruf: 20.07.2021).

Zum Folterteam der Militärpolizei gehörte damals auch ein Ausbildungskandidat der Sociedade Brasileira de Psicanálise do Rio de Janeiro (SPRJ), Amílcar Lobo, der als Arzt dafür zu sorgen hatte, dass die Folteropfer solange durchhielten, bis sie die erwünschten ‚Geständnisse‘ abgelegt hatten (http://www7.bbk.ac.uk/hiddenpersuaders/blog/torture-brazil/ – Aufruf: 20.07.2021). Leão Cabernite, sein Lehranalytiker, war ein angesehener Repräsentant der Psychoanalyse Südamerikas, der zeitweise sogar für das Amt des IPV-Präsidenten im Gespräch war. Der Fall kam ans Licht, nachdem Marie Langer, eine Mitbegründerin der Asociación Psicoanalítica Argentina, im Sommer 1973 – zu dieser Zeit war sie schon nicht mehr Mitglied der IPV (s. dazu unten mehr) – eine Ausgabe der brasilianischen Untergrundzeitschrift Voz Operária erhalten hatte, in der über Folter berichtet wurde. Am Ende des Artikels stand eine handschriftliche Notiz mit näheren Angaben zu Lobo und Cabernite. Marie Langer und Armando Bauleo veröffentlichten den Artikel 1973 in der argentinischen Zeitschrift Cuestionamos unter dem Titel Algo más sobre la tortura (dt. Mehr zum Thema Folter). Sie fügten einen Kommentar hinzu, in dem es hieß, der Lehranalytiker des Folterarztes scheue wohl deshalb vor Maßnahmen gegen dieses „perverse Subjekt“ zurück, weil er aufgrund von dessen Machtposition Konsequenzen für sich und die SPRJ befürchte. Marie Langer schickte Kopien der Dokumente an Serge Lebovici, den Präsidenten der IPV.

Lebovici wandte sich daraufhin an Cabernite und bat um weitere Auskünfte. Die erhielt er auch. Cabernite versicherte ihm, dass es sich bei den Anschuldigungen um böswillige Verleumdungen handle – und gab gleichzeitig ein graphologisches Gutachten in Auftrag, um herauszufinden, wer die handschriftliche Notiz am Ende des Artikels verfasst hatte. Offenbar hatte er auch davon eine Kopie erhalten (wer könnte ihm die gegeben haben?). Anhand des Vergleichs der Schriftproben von Mitgliedern und Kandidaten der SPRJ konnte die Verfasserin der Notiz ermittelt werden: Helena Besserman Vianna, eine Ausbildungskandidatin des Rio 2 Instituts, die jetzt um Leib und Leben fürchten musste, während Amílcar Lobo seine psychoanalytische Ausbildung mit Zustimmung seines Lehranalytikers Cabernite an dem von der IPV anerkannten Rio 1 Institut fortsetzen konnte.

In ihrem 1994 in Brasilien erschienen Buch, das leider noch nicht auf Deutsch, wohl aber in französischer Übersetzung vorliegt (Politique de la psychanalyse face à la dictature et à la torture. N‘en parlez à personne …, 1997), beschreibt Besserman Vianna die dramatische Situation, in der sie sich damals befand. Bei einer Veranstaltung zum Thema Psychoanalyse und Nationalsozialismus, die in den 1980er Jahren in Rio stattfand, äußerte ein vormaliger politischer Gefangener, er selbst habe Amílcar Lobo unter den Folterern gesehen. Lobo verlor die Approbation und musste die psychoanalytische Ausbildung beenden. Leão Cabernite, sein Lehranalytiker, blieb hingegen noch viele weitere Jahre Mitglied der SPRJ (und der IPV).

Anstatt sich schützend vor Helena Besserman Vianna zu stellen, standen Funktionäre und Mitglieder der SPRJ (und der IPV) auch weiterhin zu Cabernite. Als Ende der 1990er Jahre die Luft dann aber doch immer dünner für ihn wurde, kündigte Cabernite von sich aus die Mitgliedschaft in der SPRJ (und damit in der IPV). Bis dahin hatten sich sieben IPV-Präsidenten – von Serge Lebovici (1973-1977) bis  Otto Kernberg (1997-2001) – während drei Jahrzehnten vergebens darum bemüht, genügend Licht ins Dunkel der ‚Lobo-Cabernite-Affäre‘ zu bringen. Robert S. Wallerstein, der Präsident der IPV von 1985 bis 1989, stellte dazu im Rückblick zerknirscht und irritiert fest: „We were therefore totally unprepared for the surprise, […] when we found that Cabernite, despite his condemnation by the medical and judicial authorities of the State of Rio de Janeiro, had not only been allowed to function in the intervening years in an influential position within the SPRJ, but was actually being honored for his long-time and important contributions to the society and to psychoanalysis in Brazil.“

Bernard Rubin hat die ‚Lobo-Cabernite-Affäre‘ im Themenheft Politics and Psychoanalysis der Zeitschrift Psychoanalytic Review (2005) kritisch kommentiert. Im selben Heft stellte Lucila Villela die ‚unpolitsche‘ Politik der IPV zur Diskussion. Darauf reagierte Wallerstein mit einer Replik, die man auch als Versuch einer Rechtfertigung in eigener Sache verstehen kann, war er doch als IPV-Präsident (1985-1989) selbst in diesen Skandal verwickelt (https://bsf.spp.asso.fr/index.php?lvl=bulletin_display&id=5838&lang_sel=en_UK – Aufruf: 20.07.2021; s. dazu auch den Artikel von A. Rubin, B. Mandelbaum & S. Frosh ‘No memory, no desire’: psychoanalysis in Brazil during repressive times in der Zeitschrift Psychoanalysis and History, 2016). Ja, manchmal dauert es eben etwas länger, bis man ein Mitglied losgeworden ist. Im Fall des vor der Gestapo aus Hitler-Deutschland geflohenen Wilhelm Reich ging das allerdings wesentlich schneller als im Fall des mit der brasilianischen Militärdiktatur kooperierenden Leão Cabernite. Reich, ein erklärter Gegner des NS-Regimes, wurde nur wenige Monate nach der ‚Machtergreifung‘ mit Hilfe eines klandestin inszenierten Coups aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) und damit aus der IPV ausgeschlossen. Diesen Ausschluss bezeichneten Vereinsapologeten bis in die 1990er Jahre als – gar ‚freiwilligen‘ – ‚Austritt‘ Wilhelm Reichs aus der DPG/IPV (https://literaturkritik.de/reich-massenpsychologie-des-faschismus-die-wiederkehr-eines-verdraengten,27469.html – Aufruf: 20.07.2021).

Und manchmal kann man politisch unerwünschte Mitglieder auch auf andere Weise kaltstellen, wie das Beispiel Marie Langer zeigt. Sie hatte in den 1930er Jahren in Wien ihre psychoanalytische Ausbildung begonnen. Nachdem sie dort wegen politischen Widerstands gegen das austrofaschistische Regime kurzzeitig inhaftiert worden war, drohten ihr die Funktionäre der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) an, sie müsse die psychoanalytische Ausbildung beenden, sollte sie noch einmal gegen das von der WPV erlassene politische Abstinenzgebot verstoßen. Marie Langer verließ 1936 Wien und schloss sich der 15. Internationalen Brigade in Spanien an, um als Ärztin mitzuhelfen, die Republik gegen die Faschisten zu verteidigen. Nach deren Sieg emigrierte sie über Uruguay nach Argentinien. 1971 kehrte sie in ihre alte Heimat zurück, um beim 27. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Wien einen Vortrag zu halten: Psychoanalyse und/oder soziale Revolution. Anders als üblich wurde die Veröffentlichung dieses Vortrags im International Journal of Psychoanalysis – wegen ‚Platzmangel‘ – abgelehnt. Daraufhin räumte Marie Langer ihren Platz in der IPV.

 

Unsere Analyse hat eigentlich auch Pech gehabt.
Kaum dass sie von den Kriegsneurosen aus
die Welt zu interessieren beginnt, nimmt der Krieg ein Ende […].

Sigmund Freud, 1918

Der militärisch- wissenschaftliche Komplex

Rückblende: Im September 1918 fand in Budapest der 5. Internationale Psychoanalytische Kongress statt, an dem nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch hochrangige Militärs teilnahmen: als Abgesandter des Deutschen Reichs war Stabsarzt Professor Dr. Casten zugegen, als Vertreter Österreich-Ungarns nahmen Generalstabsarzt Dr. Adalbert Pausz und Stabsarzt Dr. Ödön von Németh teil. Diesmal standen nämlich nicht nur übliche Themen wie Die Frigidität des Weibes oder Neue Forschungen zum Kastrationskomplex zur Diskussion, diesmal gab es auch noch ein Thema von militärischer Relevanz: die Kriegsneurosen. Anfang 1919 erschien dazu im neu gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Verlag der Band Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Beitrag zur Diskussion über Kriegsneurosen, Internationaler Psychoanalytischer Kongreß, Budapest, 28./29. September 1918, der Beiträge von Freud, Ferenczi, Abraham, Simmel und Jones enthielt. Doch da war der Krieg schon vorbei. In einem Brief an Ferenczi schrieb Freud im November 1918 bedauernd, „die Analyse“ habe „eigentlich auch Pech gehabt“, denn kaum sei das Interesse der (militärischen) Öffentlichkeit an der Analyse erwacht, da sei die Geldquelle schon wieder versiegt, aus der man die Erforschung der Kriegsneurosen durch die Psychoanalytiker weiter hätte finanzieren können.

Das sollte aber nicht so bleiben, denn auch wenn aus Kriegsministern zwischenzeitlich Verteidigungsminister wurden, Kriege gab es immer wieder. Und deshalb sprudelten auch wieder neue Geldquellen – darunter eine Kooperation des US-Militärs mit der American Psychoanalytic Association. Über diese ‚Service Members and Veterans Initiative‘ erfährt man auf der Homepage der APsaA Näheres (https://apsa.org/content/service-members-veterans-initiative – Aufruf: 20.07.2021). Unter anderem wird man hier über „The Invisible Wounds of War“ aufgeklärt, womit die einstmals als Kriegsneurosen bezeichneten Traumata der Soldaten (und ihrer Familienangehörigen) gemeint sind. Ein Schelm, wer dabei auch noch an die ‚Invisible Wounds‘ denkt‚ die durch ‚weiße‘ Foltertechniken verursacht werden, zu deren Entwicklung APsaA-Mitglieder durch jahrzehntelange Forschung beigetragen haben.

Müller schreibt, die Zusammenarbeit zwischen Militär, Geheimdiensten und Vertretern der psychoanalytischen Gemeinschaft „führte innerhalb der US-amerikanischen ärztlich/psychiatrischen und psychoanalytischen Profession zur Auflösung medizinisch-ethischer Grenzen“. Das geschah „unter Missachtung des Nürnberger Kodex, der gerade wegen der massiven Verletzungen ärztlich-ethischen Handelns während des NS-Regimes von den Alliierten verfasst wurde“. Experimente, bei denen Menschen als Versuchsobjekte missbraucht werden, gelten seither als Folter. Es gibt also nicht nur ein Zusammenspiel von Politikern, Militär und (Aktionären der) Rüstungsindustrie, das der US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 als ‚militärisch-industriellen Komplex‘ gekennzeichnet hat; es gibt auch einen ‚militärisch-wissenschaftlichen Komplex‘, der die Zusammenarbeit von Militär, Geheimdiensten und Forschern an Universitäten oder bei Think Tanks meint. Zu letzteren gehörte Daniel Ellsberg, der 1973 die Pentagon-Papiere an die New York Times weitergab und damit einen Blick hinter die Kulissen staatlich organisierter Irreführung ermöglichte. Ein halbes Jahrhundert später veröffentlichte Ellsberg im Guardian einen Artikel (https://www.theguardian.com/commentisfree/2013/jun/10/edward-snowden-united-stasi-america – Aufruf: 20.07.2021), in dem er Edward Snowden, den ehemaligen CIA-Mitarbeiter und späteren IT-Experten der Beraterfirma Booz Allen Hamilton, dafür lobte, dass er 2013 die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken der Geheimdienste der USA und Großbritanniens aufdeckte. Wie seinerzeit gegen Ellsberg, so wurde auch gegen Snowden der Vorwurf der ‚Spionage‘ erhoben. Snowden lebt heute in Russland im Exil, weil ‚demokratische‘ Länder (darunter Deutschland, Österreich und Frankreich) seinen Asylantrag abgelehnt haben.

Noch schlechter als Snowden erging es Bradley Edward Manning (seit 2014: Chelsea Elizabeth Manning), ein/e US-Soldat/in und IT-Spezialist/in, der/die im Irak 2009/10 stationiert war. Durch das von Manning an WikiLeaks gelieferte geheime Material, darunter Videoaufnahmen, die die Ermordung von Zivilisten in Bagdad 2007 durch Schützen eines US-Kampfhubschraubers zeigen, konnten US-Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan öffentlich aufgedeckt werden. Wie gegen Ellsberg und Snowden so wurde auch gegen Manning ein Haftbefehl wegen ‚Spionage‘ erlassen. Manning wurde 2010 verhaftet und 2013 – also genau in dem Jahr, in dem Snowden sein Material an die Öffentlichkeit brachte – zu einer 35jährigen Haftstrafe verurteilt. Manning saß zeitweise dreiundzwanzig Stunden isoliert in seiner Mini-Zelle. Der demokratische Abgeordnete Dennis Kucinich kommentierte diese Behandlung mit der Feststellung: „Das ist Abu Ghuraib, nur auf amerikanischem Boden.“ Da Manning wiederholt grausamen und erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt war, unterzeichneten mehr als 250 renommierte amerikanische Wissenschaftler eine Protesterklärung (https://www.spiegel.de/politik/ausland/haftbedingungen-von-bradley-manning-grausame-und-ungewoehnliche-bestrafung-a-756226.html -– Aufruf: 20.07.2021). Obama begnadigte Manning 2017, die aber noch einmal in Beugehaft kam, weil sie sich weigerte, vor einer Grand Jury gegen den WikiLeaks-Gründer Julian Assange auszusagen.

Assange hatte noch weniger Glück als Manning. Nachdem aufgrund eines Vergewaltigungsvorwurfs in Schweden 2010 – das heißt genau in dem Jahr, in dem die WikiLeaks-Veröffentlichungen über US-Kriegsverbrechen im Irak begannen – Haftbefehl gegen Assange erlassen wurde, flüchtete er nach Großbritannien, wo er in der ecuadorianischen Botschaft Zuflucht fand. Dort hielt er sich mehrere Jahre auf. 2017 trat Lenín Moreno, der neugewählte Präsident Ecuadors, sein Amt an, der bereits kurz nach der Wahl Besuch von Paul Manafort bekam (Trumps Politikberater, der 2019 wegen Steuerhinterziehung und Bankbetrug verurteilt und 2020 von Trump begnadigt wurde). Die beiden sprachen über die Möglichkeit, Assange an die USA auszuliefern. Moreno entzog Assange das Asyl. Assange wurde von der britischen Polizei festgenommen und in das Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh gebracht, wo er bis heute (August 2021) einsitzt. 2019 suchte der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates zum Thema Folter, der Schweizer Völkerrechtler Nils Melzer, Assange im Gefängnis auf und stellte fest, dass Assange dort ‚weißer‘ Folter ausgesetzt wurde.

Ellsberg, Snowden, Manning und Assange haben ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit durch die Weitergabe geheimer Dokumente staatlich organisierte Gesetzesbrüche – bis hin zu schwersten Verstößen gegen die Menschenrechte – aufgedeckt. Für diesen Mut wurden sie vielfach ausgezeichnet. Ellsberg erhielt u.a. 2006 den Right Livelihood Award (auch ‚Alternativer Nobelpreis‘ genannt). Snowden erhielt u.a. den Fritz-Bauer-Preis 2014, den Right Livelihood Award 2014 und die Carl-von-Ossietzky-Medaille 2014. Manning wurde u.a. 2012 mit dem Publikumspreis der Menschenrechtsorganisation Global Exchange und 2013 mit dem Sean MacBride Peace Price ausgezeichnet. Assange bekam u.a. 2009 den Media Award von Amnesty International, 2011 die Goldmedaille für Frieden und Gerechtigkeit der Sydney Peace Foundation und 2013 den Yoko Ono Lennon Courage Award for the Arts.

Apropos Mut: Bereits 2004 gab es erste Berichte über Folter im Zusammenhang mit dem von Bush jr. ausgerufenen Global War on Terrorism (s. Archiv des US-Department of State: https://2001-2009.state.gov/s/ct/rls/wh/6947.htm – Aufruf: 20.07.2021). Zwei Jahre später kamen die ersten Bilddokumente an die Öffentlichkeit, auf denen zu sehen war, wie Menschen nach Anleitung der CIA-Foltermanuale (und zum Teil durch deren exzessive Überschreitung) gequält wurden. Diesen Manualen lagen Forschungsergebnisse zugrunde, die auch – wie durch die Dokumentation von Müller umfangreich belegt wird – von Vertretern der US-amerikanischen Psychoanalyse erbrachten wurden. Es sollte allerdings Jahre dauern (nämlich bis 2017), bevor auch die IPV dazu bereit war – wie das zuvor die „anderen psychosozialen und medizinischen Berufsverbände“ getan hatten – die „Anwendung von Folter auf das Schärfste“ zu verurteilen. Und weiter heißt es auf der Homepage dieses internationalen Berufsverbands der Psychoanalytiker: „Wir verurteilen […] die Beteiligung oder Beaufsichtigung von psychiatrischem oder medizinischem Personal bei allen Aspekten der Folter“ (https://www.ipa.world/IPA/en/IPA1/Procedural_Code/Statement_on_Torture.aspx – Aufruf: 20.07.2021). Dieser wohlfeilen Erklärung gegen die Folter folgt kein Wort des Bedauerns darüber, dass Mitglieder der IPV zu der Forschung beigetragen haben, die den CIA-Foltermanualen und deren Anwendung in Abu Ghraib und anderswo zugrunde lag.

Knuth Müller hat den militärisch-wissenschaftlichen Komplex an einem Beispiel dargestellt – an der Kooperation zwischen den US-Geheimdiensten und Vertretern der US-amerikanischen Psychoanalyse – und in zwei Bänden beschrieben, die in den Bücherschrank eines jeden gehören, der das Eintreten für Menschenrechte auch im Zeitalter ubiquitärer Überwachung noch nicht aufgegeben hat. Die Lektüre dieser Dokumentation setzt allerdings Geduld und starke Nerven voraus, denn ich konnte in meiner Besprechung nur auf einige der Ungeheuerlichkeiten eingehen, die Dr. Jekyll in Harvard ausgedacht und Mr. Hyde in Abu Ghraib umgesetzt hat.

Rita Teusch (sie ist Lehranalytikerin der Boston Psychoanalytic Society und Dozentin in Harvard) kommt in ihrer Besprechung des Buches zu folgendem Resümee: Müllers Untersuchungen bestätigten, wie leicht es sein kann, Verhaltensweisen zu rationalisieren, die mit den eigenen manifesten ethischen Überzeugungen nicht übereinstimmen, und wie Mechanismen der Idealisierung, der Verleugnung, des Wunsches nach Macht und Anerkennung zu Kooperationen [mit Geheimdiensten und Militär] führen […]. Vielleicht ist die Zeit reif für eine offene Diskussion dieser heiklen Geschichte, die eine noch immer andauernde Herausforderung für unserer psychoanalytischen Organisationen, Gesellschaften und Institute darstellt“ (https://bpsi.org/found-in-translation-rita-teuschs-review-of-commissioned-by-the-company/ – Aufruf: 20.07.2021). Ja, die Leistung, die der in Berlin in eigener Praxis niedergelassene Psychoanalytiker Knuth Müller erbracht hat, ist gar nicht hoch genug zu loben. Das Anliegen, dem er durch akribische Recherchen nachgekommen ist, lässt sich in einem Satz zusammenfassen, mit dem er seine Dokumentation eingeleitet hat: „Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, einen wesentlichen Aspekt psychoanalytischer Denkweise auf ihre Geschichte anzuwenden: Verleugnetes zu integrieren, Verdrängtes bewusst werden zu lassen.“ Knuth Müller hat dieses Anliegen vollumfänglich erfüllt und mit der Untersuchung eines bedeutsamen Teils der Geschichte der Psychoanalyse allen eine Richtschnur in die Hand gegeben, denen die Zukunft dieser Wissenschaft am Herzen liegt.

Titelbild

Knuth Müller: Im Auftrag der Firma. Geschichte und Folgen einer unerwarteten Liaison zwischen Psychoanalyse und militärisch-nachrichtendienstlichen Netzwerken der USA seit 1940.
2 Bände.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2017.
1157 Seiten, 99,90 EUR.
ISBN-13: 9783837925241

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