Ein Land, das glänzt, anlockt und leidet

Caroline Kodym deutet in kluger Weise die Präsenz Mexikos in der deutschsprachigen Literatur

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder wählen deutschsprachige Autoren Mexiko als Handlungsort, und auch sonst ist Mexiko ein Thema in der deutschen Literatur. Diese Beziehung zwischen hier und dort verläuft nur in einer Richtung. Caroline Kodym deutet dies schon im Buchtitel mit der Metapher ‚Conquista’ (also Eroberung) an, und dementsprechend ist in ihren Betrachtungen ‚Eurozentrismus’ ein Schlüsselwort. Ehe wir darauf eingehen, wenden wir uns Kodyms Darstellung einzelner literarischer Werke zu.

Diese ist vorwiegend nach Gattungen geordnet. Auf die Berichte der spanischen Entdecker und Invasoren um 1500 reagierten auch deutsche Autoren. Sebastian Brant bestaunt in seiner Satire Das Narrenschiff „Goldinseln“ und „nackte Leut“, und später kritisiert Johann Gottfried Herder (beeinflusst von Montaigne und Rousseau) die Brutalität der Eroberer und betont rigoros die Gleichheit der Menschen. Christoph Martin Wieland beschreibt (in Koxkox und Kikequetzel) das mexikanische Leben, um europäische Vorurteile anzuprangern, aber auch, um die Ureinwohner als unentwickelte Kinder vorzuführen. Später kontrastiert Heinrich Heines Gedicht Vitzliputzli das „farbensprühende“ Mexiko mit einem „verschimmelten“ Europa. Diese Autoren geben zu verstehen: Die abendländische Zivilisation muss sich angesichts dieser ungeahnten Fremde erst einmal rechtfertigen.

Eine Reihe von Reiseberichten widmen sich Mexiko. Kodym behandelt ausführlich Alexander von Humboldt und betont, dass er bei allem Authentizitätsanspruch literarische Texte habe liefern wollen: So beschreibe er, indem er die Fakten geschickt auswählt, nicht nur die Natur, sondern auch das persönliche Naturerlebnis und wolle so die Einheitlichkeit der ganzen Welt verkünden. Spätere Reiseschriftsteller wie die Österreicherin Ida Pfeiffer, Ernst Hesse-Wartegg und Harry Graf Kessler (im 19. Jahrhundert) bewegen sich schon auf touristischen Pfaden: Die Eisenbahn und andere Neuerungen erleichtern das Aufsuchen der ersehnten Orte, die gerade dadurch ihre Magie verlieren. Mexiko wird zum Land der Gegensätze, wo man hinter neuen Palästen die ursprüngliche Natur mühsam suchen muss.

Im 20. Jahrhundert sieht B. Traven Mexiko unheilvoll von der Zivilisation durchsetzt, bemerkt aber auch eine politische Perspektive: Es könnte ein Land der anarchischen Freiheit und auch des Sozialismus werden. Bei dem Autorenpaar Hans-Jürgen Heise und Annemarie Zornack (in ihrem Reisebericht Der Macho und der Kampfhahn, 1987) erscheinen Kofferradio und Coca-Cola als Sinnbilder der „Zerstörung Mexikos“. Dem Reisebericht nahe steht der ethnografische Roman von Charles Sealsfield, der ebenfalls Mexiko bereist hat. In seinem Werk Süden und Norden (1842) werden, wie Kodym sagt, das ganze Volk und seine Situation „zum ‚Helden‘ der Geschichte“.

Mexiko ist natürlich auch ein Thema der Abenteuerliteratur. Bei Karl May ist die Exotik der Landschaft klischeehaft, aber etwa im durchschwitzten durstigen Reiter zwischen „nacktem Gestein“ wird die Natur „selbst zum Abenteuer“. Heinz Erich Platte arbeitet in seinem Ich bin 15000 Pesos wert (1932) mit einer rastlosen Abfolge von Ereignissen, die das moderne Mexiko und zugleich den einzelnen Indio in seiner, so Plattes Erzähler voller Verachtung, Stumpfheit vorführen. Auch Krimis aus Deutschland und Österreich – von Thomas Fitzner, Bernhard Jaumann und Martina Bick – spielen in Mexiko, wobei mit sozialkritischem Einschlag der Moloch Hauptstadt und die korrupte Polizei (diese besonders bei Bick) im Vordergrund stehen. Übrigens ist das Muster vom guten Amerikaner und bösen Mexikaner, das die US-Wildwestfilme propagiert haben, diesen Autoren fremd. Ein ganz düsteres Bild von Mexiko – Land des Kapitalismus, der Slums, des Smogs, ja der psychischen Perversion – zeichnet der Roman Der König von Mexiko (2008) von Stefan Wimmer.

Kodym beleuchtet auch einige historische Fakten. Sie bespricht die Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés (1521), die Einmischung Europas in die mexikanische Innenpolitik mittels des sogenannten Kaisers von Mexiko, den die Großmächte einsetzten (1864–1867), und vor allem Mexiko als Exil für Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland. Seit 1938, unter Lázaro Cárdenas, war Mexiko ein Staat mit „antifaschistischer Grundhaltung“, und dieses Mexiko hat – laut den von Kodym zitierten Worten Erich Honeckers bei seinem Staatsbesuch 1981 – „in Verantwortung vor der menschlichen Zivilisation den deutschen Antifaschisten Gastfreundschaft und Solidarität erwiesen“. Zu den vielen Flüchtlingen in Mexiko – die dort mit behördlicher Hilfe eine Zeitung und einen international tätigen Verlag gründeten – zählen Bodo Uhse, Ludwig Renn, Gustav Regler, Walter Janka und vor allem der Prager ‚rasende Reporter’ Egon Erwin Kisch (1885–1948) und die später in der DDR erfolgreiche Anna Seghers (1900–1983). Kisch war der Erfinder der ‚Exilreportage’: Er beschrieb das Neue und Befremdliche und erörterte zugleich die Schwierigkeit, mit diesem Neuen innerlich fertig zu werden. Seghers pries in ihren mexikanischen Schriften die dortigen Volksmassen, die nach ihrer Beobachtung durchweg für Kunst und speziell für die sozialistische Kunst sehr empfänglich sind.

Kodyms Darlegungen mit ihrer Materialfülle – die dieses Resümee nur andeuten konnte – und all ihren Interpretationen und historischen Einordnungen sind zu bewundern. Sie sind in einem klaren, unprätentiösen Stil geschrieben und sowohl in ihrer gesamten Anlage als auch innerhalb der einzelnen Kapitel übersichtlich aufgebaut. Sicherlich könnte mancher Leser noch etwas nachtragen; ich möchte Arno Schmidts Erzählung Brand’s Haide (1951) nennen, wo eine verzweifelte junge Frau aus dem Nachkriegsdeutschland ihre Auswanderung nach Mexiko in die Wege leitet. Doch diese Ergänzung soll keine Kritik sein. Wirklich zu kritisieren ist aber, dass die Autorin ihren Anmerkungsapparat zu sorglos erstellt hat. Namen sind fehlerhaft geschrieben („Pauw de“ statt: de Pauw, „Suddhoff“ statt: Sudhoff, „Renate“ statt: Renata u. a.), Verlage sind falsch angegeben (statt Oldenburg wird eine Oldenburger Straße genannt, die den Verlag beherbergt; von den „gesammelten Werken der Karl-May-Gesellschaft“ ist die Rede), Seitenzahlen und Jahresangaben stimmen nicht. Wer da oder dort mit Kodyms bibliografischen Angaben arbeitet, gewinnt rasch den Eindruck, dass jede vierte Fußnote fehlerhaft ist.

Zum Schlüsselwort ‚Eurozentrismus’ in dieser Studie! In typisch eurozentrischer Weise drücken, sagt Kodym, die genannten literarischen Werke ihr Interesse an Mexiko aus. Der Europäer begeistert sich an Mexikos Zivilisationsferne, polemisiert aber gegen seine Primitivität, beklagt das moderne Mexiko, aber bewundert dessen buntes Leben mit einem Rest von Exotik – dieses Anlegen europäischer Maßstäbe zeige sich in unterschiedlichen Nuancen seit Herder bis heute bei allen Autoren. Sie sind, bewusst oder nicht, durch und durch Europäer und zwar auch dann, wenn sie Mexikos Exotik für die Kritik an Europa instrumentalisieren. Das ist scharfsinnig beobachtet, wenn auch etwas pauschal, und in der Tat beruft sich Kodym auf Edward W. Said und seine berühmte These, dass das europäische Bild einer fernen Kultur eine Konstruktion aus Macht, Überheblichkeit und dem Versessensein auf die eigene Kultur ist.

Aber Kodym erkennt andererseits auch die Eigengesetzlichkeit des Literarischen und merkt an: Selbst der kluge Egon Erwin Kisch musste, um Mexiko den Europäern „überhaupt fassbar zu machen“, seine Beschreibungen poetisch-exotisch aufladen. Kodym arbeitet noch dieses Detail heraus: Für die Europäer eigne sich Mexiko als Traum vom verlorenen und wiederzuerlangenden Paradies, und damit werde es egoistisch vereinnahmt, nämlich in den Dienst eines abendländischen Mythos gestellt.

Wer gern liest, erfreut sich auch an derartigen Spannungen und an den sich abzeichnenden Wunschbildern. Auch Caroline Kodym tut es. Sie wagt es, Mexiko „die Geliebte“ Europas zu nennen, und auf der letzten Seite stellt sie resigniert und zugleich versöhnlich und zukunftsfreudig fest: „Solange Europa in Mexiko noch das Andere finden kann, solange die Geliebte exotisch ist, bleibt die Liebesbeziehung zwischen Europa und Mexiko bestehen.“

 

Titelbild

Caroline Kodym: Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista. Über einen Sehnsuchtsort in der deutschsprachigen Literatur.
Transcript Verlag, Bielefeld 2020.
298 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783837650747

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