Die Primzahlen der Literatur

Im ersten Band einer neuen Reihe des Haymon Verlags schwärmt Michael Köhlmeier von den Märchen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haymon schwärmt heißt die neue Reihe des in Innsbruck und Wien beheimateten Haymon Verlags, deren ersten Band Michael Köhlmeier mit einer Lobrede auf die Märchen füllt. Mit Köhlmeier (geb.1949), einem dem Verlag seit Langem verbundenen Erzähler, äußert sich dabei jemand zur Märchengattung, in dessen eigenem, umfangreichem Werk Nach- und Neuerzählungen von Märchen aus aller Welt neben Auseinandersetzungen mit den Geschichten der Bibel und den Sagen des klassischen Altertums eine erhebliche Rolle spielen. Dass der vielseitig talentierte, heute im vorarlbergischen Hohenems lebende Köhlmeier Märchen nicht nur aufschreibt, sondern sie auch, mit erhellenden Anmerkungen und Verknüpfungen verbunden, bis heute in seiner besonderen Weise mündlich vorträgt – in der wöchentlichen Sendereihe Köhlmeiers Märchen auf BR alpha etwa – macht seine Auseinandersetzung mit diesen Texten zu etwas ganz Besonderem.

Kein Wunder also, wenn der Autor bereits im ersten Satz seines mit Eine lebenslange Liebe untertitelten neuen Buchs Märchen als die „Primzahlen der Literatur“ bezeichnet. Der mathematische Vergleich hebt auf die Besonderheit ab, dass Märchen nach Köhlmeier nur aus sich selbst heraus verstehbar sind, keine Fragen stellen, auf nichts antworten und nichts erklären. Das Märchen „steht stumm wie eine Statue und ist, was es ist“, heißt es im 38. und vorletztem Kapitel des kleinen Breviers. Allenfalls hat es einen Vorläufer, den Mythos, und da, wo es endet, beginnt die Welt des Romans.

Natürlich ist auch Michael Köhlmeier über seine Großmutter an die ersten Märchen seines Lebens gekommen. Noch knapper als bei den Grimms nachlesbar, „unaufgeregt, unbeteiligt, mit gleichgültiger Stimme, undramatisch, ohne jeden Versuch, meine Gefühle zu lenken“, ging deren Erzählen vor sich. Und da die Großmutter nur erzählte, ohne sich auf Erklärungen einzulassen (was bedeutet hätte, das jeweilige Märchen in ein Beziehungsnetz einzubetten), übernahm auch der Enkel diesen Stil und verstand Märchen fortan als tautologisch – „sie verweisen auf nichts anderes als sich selbst“ –, stumm – „Sie wehren sich weder gegen Missbrauch, noch bieten sie sich an, zu welchem Gebrauch auch immer.“ – und untereinander weder verwandt noch verschwägert: „Schneewitchen ist Dornröschen nie begegnet, sie hätten einander nie begegnen können.“

Vor allem am den Märchen scheinbar innewohnenden Lehrhaften stieß Köhlmeier sich von Beginn an: „Sehr früh hatte ich eine Nase dafür, wenn jemand mithilfe dieser stummen Schönheiten mir seinen Braten schmackhaft machen wollte.“ Das heißt andererseits aber auch: Märchen sind in seinen Augen eigentlich nicht primär für Kinder gedacht. Denn Kinder wollen immer wissen warum und suchen sich auch gern Figuren aus, mit denen sie sich identifizieren können.

Doch mit wem soll sich ein Kind identifizieren in dem Grimmʼschen Märchen, an dem wie an einem roten Faden entlang Köhlmeier seine Leser in die Märchenwelt einführt? Denn in Herr Korbes trifft man nur Tiere – ein Hühnchen, ein Hähnchen, eine Katze und eine Ente – sowie Dinge – ein Ei, eine Nähnadel, eine Stecknadel und einen Mühlstein – an, die sich in einem von vier Mäuschen gezogenem Wagen zum Haus der Titelfigur chauffieren lassen, um diese kurzerhand ums Leben zu bringen. Und jenen den kurzen Text beschließenden Satz „Der Herr Korbes muß ein recht böser Mann gewesen sein.“, der die ganze Angelegenheit scheinbar pädagogisch wieder geraderückt, findet man in den meisten Ausgaben der Sammlung gar nicht. Er wurde von Wilhelm Grimm erst später hinzugefügt, um „den Lesern die Unruhe“ zu nehmen. Dass damit aber auch „dieses kleine Märchen der Behaglichkeit des Tages geopfert wurde“, steht für Köhlmeier außer Frage.

An der Bedeutung der Brüder Grimm lässt der Autor ansonsten freilich keinerlei Zweifel aufkommen. Jacob – der für ihn der Gewissenhafte, der Märchentheoretiker, der der Sprache des in den Märchen sich ausdrückenden Volkes nachforschende spätere Gründervater von Germanistik, Sprachwissenschaft und Volkskunde war – und Wilhelm – der mit „seinem unvergleichlichen Märchenton“ zum eigentlichen Erfinder der „Gattung Grimm“ wurde, sind für ihn Heroen ihrer Zeit. Die Romantiker, vor allem Clemens Brentano und Achim von Arnim, fallen dagegen deutlich ab. Und Goethe, der in seine Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten einen Text mit dem Titel Das Märchen einfügte, was klingt, als würde hier etwas Ultimatives, für das Genre Paradigmatisches literarische Gestalt gewinnen, muss sich gar damit begnügen, dass Köhlmeier „leider bis heute keinen Zugang“ zu diesem Märchen gefunden hat. Aber keine Angst: „Ich bemühe mich weiter.“

Von den Märchen erzählt unterhaltsam und wunderbar leicht formuliert von einer lebenslangen Faszination. Das Buch hebt auf die Geschichte der Märchen ab und bezieht auf fassbare Art und Weise Stationen der Märchenforschung ein. Wissenschaftler wie André Jolles, Hans Naumann, Vladimir Propp, Heinz Rölleke und Ingeborg Weber-Kellermann finden mit ihren Verdiensten um die Gattung Erwähnung. Leider vermisst man den Namen von Franz Fühmann (1922–1984), dessen Werk für die DDR-Leser und ihre Beziehung zu Märchen und Mythen von ähnlicher Bedeutung war wie das von Michael Köhlmeier heute.

Komplettiert wird das Büchlein durch Ausflüge in Philosophie und Psychologie. Und nicht zuletzt wird der Frage nachgegangen, wieso es geschehen konnte, dass Märchen in jüngerer Zeit nicht nur „als Bewahrer einer repressiven Ordnung, als fauenfeindlich, vernunftfeindlich, fortschrittsfeindlich“ in Verruf gerieten, nachdem sie sich in der Nazizeit bereits als bevorzugte Gegenstände der durch einige ihrer wichtigsten Adepten ideologisch schwer beschädigten „Volkskunde“ diskretitiert zu haben schienen. Letzteres machte es noch dem Marburger Studenten Michael Köhlmeier schwer, sich als Liebhaber frei zu den Texten zu bekennen, die ihn seit seinen Kindertagen treu begleiteten.

Den größten Eindruck in dem kleinen, bibliophil ausgestatteten Büchlein aber hinterlassen jene Kapitel, in denen der Autor Stationen seiner eigenen Auseinandersetzung mit den Märchen beschreibt, die Großmutter ins Spiel kommt, der sich so gar nicht für Märchen interessierende Vater lieber Episoden aus der Weltgeschichte nacherzählt und der achtjährige Richard, Bruder des besten Freundes, zur gespannt lauschenden Testperson wird, wenn sich der drei Jahre ältere Köhlmeier selbst erstmalig darin übt, Märchen nachzuerzählen. Ein kleiner Gang durch die über Jahre und Jahrzehnte gewachsene Märchensammlung des Autors rundet das gelungene Buch ab. Man legt es mit Gewinn beiseite, lange noch den Satz im Ohr: „Märchen stehen mit nichts in Beziehung, was mich umgibt: will ich in sie eintauchen, muss ich das Meine aufgeben und das Ihre annehmen, und manchmal ist das dem Märchen Eigene eine Teufelshaut, in die ein Mensch nicht hineinpasst.“

Titelbild

Michael Köhlmeier: Von den Märchen. Eine lebenslange Liebe.
Haymon Verlag, Innsbruck 2018.
206 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783709934234

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