Zu viel Geschichte

Gerd Koenen verliert sich in „Die Farbe Rot“ im historischen Erzählstrom über „Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schwer wiegt das Buch des Historikers Gerd Koenen in der Hand. Über 1.100 Seiten Ursprünge und Geschichte des Kommunismus haben Gewicht. Und fordern, wie der Autor selbst in einem kurzen Nachwort schreibt, den „Leserinnen und Lesern einiges an Ausdauer und Interesse“ ab. Eine „mittlere Linie der Komplexität“ wolle er dabei halten, um das im „archaischen Modus eines „Jägers und Sammlers“ zusammengetragene Material mit „beherzter Unbefangenheit“ zusammenzudenken, „um ein nachvollziehendes historisches Verstehen im Sinne eines „making sense“ zu ermöglichen.

Wer nun seinerseits mit beherzter Unbefangenheit das Buch zur Hand nimmt, den führt Koenen zunächst in eine Art Vorgeschichte des Kommunismus ein – und hinterlässt bereits eine erste offene Frage: Lassen sich die in der nun folgenden Parforcetour durch die Menschheitsgeschichte angeführten Ideen und Ereignisse tatsächlich so selbstverständlich als Vorboten des unter der roten Fahne machtvoll gewordenen Kommunismus des 20. Jahrhunderts verstehen? Koenen vereinnahmt die Idee einer idealen Staatsverfassung zum Wohle der Menschen, die seit der Antike über die Aufklärung bis in die moderne Utopie ihren Widerschein findet, ebenso wie den sich ebenfalls durch die Menschheitsgeschichte ziehenden Aufstand der Armen gegen ungerechte Herrschaftsverhältnisse im Sinne einer konsequenten Vorgeschichte dessen, was nach der russischen „Oktoberrevolution“ dann als Kommunismus wirkungsmächtig wurde. Im breiten Erzählstrom des Autors scheint sich alles zu ergeben.

„Das Marxʼsche Momentum“ beendet die Vorgeschichte und schafft eine neue theoretische  Grundlage für die politische Fortschrittsidee, als deren Ausdruck das „Gespenst“ gelten kann, das im Kommunistischen Manifest von 1848 die Vereinigung der Proletarier aller Länder fordert: der Kommunismus. Koenen erzählt ausgiebig von der Zeit im 19. Jahrhundert, die der Idee von der neuen gerechten Gesellschaft gewaltigen Auftrieb gibt. Dabei gelingen ihm anschauliche Passagen, wenn er beispielsweise ausführt, dass die Marx‘schen Ideen mit dem Aufkommen der großen Mitgliederparteien eine praktische Politisierung erfahren, die Marx und Engels immer wieder misstrauisch registrierten. So auch im Fall des Ferdinand Lassalle, den Koenen als ‚Urgründer‘ einer sozialistisch-kommunistischen Partei einführt. Lassalle, den Marx und Engels auch mit üblen antisemitischen Vorurteilen anfeindeten, wurde von seinen Anhängern fast schon messianisch verehrt, wie Koenen mit griffigen zeitgenössische Zitaten nachweist. Die Ähnlichkeiten mit den Erscheinungen des späteren realsozialistischen Personenkults sind verblüffend.

Koenens rückblickende Erzählung der Politisierungsphase im 19. Jahrhundert lässt Lücken. Was ist zum Beispiel mit der bis ins 20. Jahrhundert bedeutsamen, aber bis heute konsequent ins Abseits gedrängten anarchistischen Bewegung? Zu Recht ist sie nicht mit dem Realsozialismus in einen Topf zu werfen, aber sie kann doch auf gleiche Ursprünge verweisen.

Derartige unkontrollierbare Varianten der ‚großen‘ Idee waren August Bebels Sache nicht. Mit ihm wird ‚die Sozialdemokratie‘ geradezu zum europäischen Modell. Sie war, so bilanziert Koenen, „innerhalb des europäischen Sozialismus nun einmal der Gralshüter eines Marxismus, der in Frankreich und anderswo auch der ‚deutsche Sozialismus‘ genannt wurde, und dieses erhöhte Selbstbild fiel mit der von Marx selbst stammenden Nobilitierung der deutschen Arbeiter zusammen: ‚dass sie dem theoretischstem Volk Europas angehören‘“.

Doch Theorie macht keine Revolution. Sie blieb einem „Jahrhundertmann“ vorbehalten: Lenin. Koenens Fazit: „Ohne Lenin kein Bolschewismus, ohne Bolschewismus keine Sowjetunion, ohne Sowjetunion keine kommunistische Weltbewegung.“ Aber war, was Lenin 1917 in Gang setzte, noch Kommunismus? Hier wie auch an anderen Stellen vermisst man eine Diskussion über Begriffe: Sozialismus, Kommunismus, Marxismus – alles eine Sache? Viel zu selten wagt der Autor eine klare Bewertung. Die aus der Februarrevolution hervorgegangene Republik erscheint in seiner detailreichen, zuweilen überbordenden Darstellung als ein kurzer Moment der Freiheit, zugleich aber als „ein vergebliches, dem Untergang geweihtes Unternehmen […] bis alles in den fast kampflosen bolschewistischen Oktoberumsturz mündete“. Diese Unausweichlichkeit relativiert der Autor jedoch sogleich wieder: „Das kann man allerdings auch anders sehen. Wie niemals davor und niemals seither gab es 1917 […] ein Spektrum von Parteien, Verbänden, Publikationsorganen und Institutionen […], die ein neues, reformiertes Staats- und Gemeinwesen sehr wohl hätten tragen können.“ Das freilich hätte man dann gerne etwas genauer erklärt bekommen.

Über viele Seiten schildert Koenen die sich seit 1917 vollendende Sowjetisierung Russlands und der zum ‚russischen Imperium‘ gehörenden Territorien. Die Verfassung von 1918 nennt er eine „,vormoderne‘ Konstruktion […], die tief eingewurzelte Traditionen autokratischer Macht fortsetzte“ und setzt sie so in Beziehung zum zaristischen Vorgängerstaat. Zugleich beschreibt er sie als eine „fatal moderne Konstruktion“, die „ein Reich der Gesetzlosigkeit, der Willkür, der Anomie, das sich aller zeitgemäßen Mittel von Organisation, Planung, Mobilisierung, Propaganda usw. bediente“, möglich machte. Damit schuf sie  „ein institutionalisiertes Chaos, das nur durch die Institution eines obersten Führers gesichert und verklammert werden konnte.“ Das war der „Charismarch“ Lenin. Ob die hier sich andeutende Vergleichbarkeit mit dem faschistischen Führertypus angemessen ist, erläutert Koenen nicht weiter.

So reiht der Autor am Ende vor allem eine Fülle historischen Materials aneinander und verliert dabei den Making Sense-Aspekt aus den Augen. Worauf gründet das bis heute wirkende antisemitisches Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“? Wie erklärt sich die Gleichzeitigkeit einer euphorischen Bewunderung für das neue fortschrittliche Russland, in dem es möglich ist, Flüsse rückwärts fließen zu lassen und Berge zu versetzen, mit dem reibungslos funktionierenden „großen Terror“ Stalins in den 1930er Jahre?

Dem einen roten Reich folgte ein zweites – China. Koenen stellt fest, dass die Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert die Geschichte der beiden roten Reiche Sowjetunion und China ist. Für Chinas Geschichte bleiben dann – fast möchte man aufatmen – nicht mehr ganz so viele Seiten übrig.

Titelbild

Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
1133 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406714269

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