Eine Kindheit in Zeiten des Umbruchs

In seinem Debütroman „Ostkind“ blickt Arne Kohlweyer auf die unmittelbare Nachwendezeit aus der Perspektive eines neunjährigen Jungen zurück

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marko Wedekind wird im Juni 1992 neun Jahre alt. In Schweden befindet sich die deutsche Mannschaft auf dem Weg ins Finale der Fußball-Europameisterschaft. In Berlin-Hohenschönhausen fahren nach dem anfänglichen Jubel über die Wiedervereinigung die einen immer noch Trabant, während sich ihre Nachbarn bereits die schicken Autos aus dem Westen leisten können. Freundschaften sind über die plötzliche soziale Ungleichheit auseinandergegangen  –  Markos Vater Alfred Wedekind nennt seinen Nachbarn und ehemals besten Kumpel Heiner plötzlich einen „Opportunisten“, während der behauptet, Alfred sei ein „Ewiggestriger“ geblieben – und auch innerhalb der eigenen Familie gibt es zu erbittertem Streit und Tränen führende Probleme.

Da ist Markos 16-jährige Schwester Melanie, die sich ihr Zimmer immer noch mit dem kleinen Bruder zu teilen hat. Da ist die ihre Nachmittage vor dem Fernseher verbringende arbeitslose Mutter, die erfolglos von Vorstellungsgespräch zu Vorstellungsgespräch eilt und eines Tages erfahren muss, dass sich ein Krebsgeschwür in ihr eingenistet hat. Und da ist der nach dem Aus seiner akademischen Karriere Taxi fahrende Vater, der nicht genug Geld verdient, damit die Eltern Marko zu seinem Geburtstag das heiß ersehnte Fahrrad schenken können.

Arne Kohlweyer (Jahrgang 1981), geboren in Wolgast und aufgewachsen in Berlin-Hohenschönhausen, hat sich nach dem Studium von Fotografie, Literaturwissenschaft und Filmtheorie bis dato vor allem als Drehbuchautor, Regisseur und dramaturgischer Berater für verschiedene Film- und Fernsehprojekte einen Namen gemacht. Ostkind ist sein Romandebüt. Zur Zeit, in der es spielt, war er nur wenig älter als der Junge, aus dessen Perspektive erzählt wird. Diese persönliche Nähe zu Held und Zeit sowie die ausgeprägte Fähigkeit, szenisch zu denken, und das damit einhergehende Gefühl für pointierte Dialoge machen die Stärken dieses kleinen Romans aus. Seine tagebuchartige Struktur – das Buch spielt innerhalb von zwei Wochen, zwischen dem 13. und dem 27. Juni 1992 – und das nur selten ein wenig überstrapazierte Bemühen, mit seinem Ton Denken und Sprache eines Neunjährigen zu treffen, tragen ein Übriges dazu bei, diesen Rückblick auf die Zeit des deutsch-deutschen Umbruchs zu einem Lesevergnügen zu machen.

Dabei versteht Marko beileibe nicht alles, was ihm begegnet. Doch da sein Vater einst Vorlesungen und Seminare über die Herren Marx und Lenin abhielt und Mutter Marion fleißig ihr „Fülosofie“-Studium vorantrieb, sind genug Bücher im Haushalt der Wedekinds vorhanden, mit deren Hilfe man sich schlau machen kann. Außerdem besitzt der Junge das in der DDR beliebte Kinderlexikon Von Anton bis Zylinder und für die heiklen Fragen, mit denen er sich weder an die Eltern noch an die Schwester wenden will, bedient er sich des Nummer-1-Aufklärungswerks für ostdeutsche Männer und Frauen, Siegfrieds Schnabels Mann und Frau intim, das er versteckt unter Heftern und Zeitschriften auf Melanies Schreibtisch entdeckt hat.

Derart gerüstet, geht er das Erwachsenwerden an. Denn Marko findet, dass man ihn schon viel zu lange nur als Kind behandelt hat. Aber was gehört dazu, damit man ihn endlich zu den „Großen“ zählt? Eine schnell geschriebene Liste soll weiterhelfen: „Kaffee trinken, dicke Bücher lesen, den Regenwald retten, lange aufbleiben, den Walfang stoppen … “. Später setzt er noch das Rauchen dazu und, nachdem er eine neue Klassenkameradin nicht mehr aus den Augen lassen kann, „Heiraten > Anna“. Doch genauso wie beim Kaffeetrinken kommt er auch im Umgang mit den Zigaretten nicht über einen ersten Versuch hinaus. Und Dostojewskis Schuld und Sühne, für das Teilprojekt „dicke Bücher lesen“ ausgewählt, bereitet ihm auch mehr Probleme, als er erwartet hat.

Ostkind beginnt an dem Tag, an dem die erstmalig bei einem großen Turnier mit Spielern aus Ost und West auflaufende deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihr Gruppenspiel Nummer 1 zu bestreiten hat, und endet am Tag des Göteborger Finales. Warum die beiden Spiele im Roman nicht an den Tagen ausgetragen werden, an denen sie tatsächlich stattfanden (12. und 26. Juni), sondern jeweils einen Tag später (13. und 27. Juni), erschließt sich dabei nicht. Eine fiktionale Notwendigkeit für die abweichende Datierung ist jedenfalls nicht zu erkennen. Und daran, dass die deutsche Mannschaft das Göteborger Finale verloren geben musste, ändert das auch in Kohlweyers Roman nichts.

Marko Wedekind schaut das Spiel übrigens gemeinsam mit seiner Familie im Krankenhaus an, wo es gute Nachrichten bezüglich der Krebserkrankung seiner Mutter gegeben hat, die der Vater lange versuchte, vor dem Jungen geheim zu halten. Und wenn der Neunjährige bei diesem Anlass die zahlreichen Aufregungen der letzten beiden Wochen noch einmal überdenkt, dann kommt er zu einem durchaus nachvollziehbaren Schluss: „Das Leben als Erwachsener ist eben auch nicht einfacher, dachte er sich. Und wenn er es sich recht überlegte, wollte er lieber noch eine Weile Kind bleiben. “

Titelbild

Arne Kohlweyer: Ostkind. Roman.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2022.
168 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783865328069

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