Die Verlorenen

In ihrem eindrücklichen Debüt „Sperling“ erzählt Katharina Korbach von jungen Menschen auf der Suche nach sich selbst

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende der achtziger Jahre löste Frank Schirrmacher mit einer Schelte der jungen deutschen Literatur in der Literaturbeilage der FAZ zur Frankfurter Buchmesse eine Diskussion über den Stand der Gegenwartsliteratur aus. Seine Kritik nahm den Ausgang von der sehr subjektiven Beobachtung, dass die jungen Autorinnen und Autoren, denen durch unterschiedlichste Förderprogramme der Weg zu ihrem ersten Roman geebnet wurde, nur gleichförmige Prosa zustande bringen. Dieser zudem theorielastigen Literatur fehlt nicht nur die Erfahrungstiefe und die unverwechselbare Stimme, sie ist zudem selbstreflexiv und stellt Einsiedler in den Mittelpunkt, die in einer Gesellschaft leben, in der es keinen sozialen Raum mehr gibt, sondern lediglich Zwangsvorstellungen, die diese bestimmen.

Schirrmachers Text hat viel Widerspruch hervorgerufen, aber auch Zustimmung erfahren. Unter anderem hat Maxim Biller einen neuen Realismus in der Gegenwartsliteratur gefordert. Aufbauend auf Schirrmachers Analyse warf der 31-jährige Autor den jungen Kolleginnen und Kollegen in einem Beitrag für die Weltwoche aus dem Juni 1991 vor, Akademikerliteratur zu schreiben. Darunter versteht er Texte, denen wirkliche Erfahrung fehlt, da die Autorinnen und Autoren selbst noch nichts erlebt haben, aber zugleich auch nicht in der Lage sind, ähnliche wie Journalisten für eine Geschichte zu recherchieren und so dem eigenen oder fremden Leben eine packende Geschichte zu entlocken. 

Der Debütroman Sperling von Katharina Korbach liest sich wie ein später Kommentar zu dieser vor dreißig Jahren geführten Debatte, auch wenn gleich vorweggenommen werden muss, dass das Urteil dieser Rezension am Ende alles andere als vernichtend ausfallen wird. In der Biografie der 1995 geborenen Korbach fällt als erstes die lange Liste der Preise und Stipendien auf, die sie bereits vor der Veröffentlichung ihres Romandebüts erhalten hat. Auch ihre Protagonisten passen in das von Schirrmacher und Biller entwickelte Schema: Charlotte und Wolfgang sind beides Jungakademiker. Sie leben zu Romanbeginn erst seit kurzer Zeit in Berlin. Ihre Wohnungen befinden sich jeweils im Hinterhaus zweier nebeneinander liegender Häuser. So wird Wolfgang auf die Nachbarin aufmerksam, als er sie abends beim Zeichnen in der erleuchteten Wohnung beobachtet. Beide erinnern an moderne Einsiedler, leben sie doch recht zurückgezogen. Es ist nur der Berufsalltag, der sie mit anderen Menschen in Verbindung bringt. Charlotte studiert Kulturwissenschaften und jobbt in einer französischen Weinstube in Berlin. Wolfgang hat nach einem Promotionsstipendium an der renommierten amerikanischen Universität Yale seine erste Stelle an einer Berliner Universität angetreten und schreibt an einer Promotion zur Bedeutung der Blumen in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Beide sind noch nicht so wirklich angekommen in der Metropole Berlin. Charlotte versucht sich durch One-Night-Stands und erfundene Biographien von ihren psychischen Problemen abzulenken. Wolfgang begegnet seiner Einsamkeit dadurch, dass er abends die Nachbarn im Neuköllner Hinterhaus beobachtet. Bald verbringt er mehr Zeit am Fenster denn am Schreibtisch und beginnt zu befürchten, dass er seine Promotion nicht wie geplant abschließen kann. Da diese symbolisch für die gelungene Ablösung von seiner Herkunftsfamilie steht, wäre dieses Scheitern zugleich ein existentielles. 

In Anlehnung an Maxim Biller könnte man nun die Frage stellen, wie die Autorin um diese Figuren, die selbst noch nicht viel erlebt haben, einen Roman entwirft, der den Leser in seinen Bann zieht und mehr bietet als schnöde Akademikerprosa. Aber halt: Wer sagt, dass ein Mensch mit Mitte zwanzig noch nicht genug erlebt haben könnte, um eventuell auch Stoff für mehrere Romane zu liefern?

Charlottes Biografie wird anhand ihrer Therapiesitzungen bei dem Psychiater Doktor Szabó erzählt. Sie hat ihn selbst aufgesucht, als sie bemerkte, dass ihre Magersucht von einer gefährlichen depressiven Phase überschattet wird. Die Therapiesitzungen, die zum heimlichen Zentrum ihres Lebens werden, geben ihr die Sicherheit und Stabilität, die ihrem Alltag fehlt. Und doch scheint die Beziehung zum Psychiater problematisch: 

Ich habe gedacht, ich könnte in Berlin neu anfangen. Die Krankheit hinter mir lassen. Eine andere sein. Charlotte denkt, dass es Doktor Szabós Aufgabe wäre, sie drauf hinzuweisen, dass das nicht möglich ist. Ihr klarzumachen, dass es eine Illusion ist, zu glauben, man könne die eigene Vergangenheit abstreifen, sich eine neue Identität zulegen, einfach so. Aber er bleibt stumm, wie so oft.

Dem Leser wird die lebensbedrohliche Situation, in der sich Charlotte befindet, erst langsam bewusst. Die Figur wirkt sehr reflektiert. In der Verbindung aus unmarkierter direkter Rede und der internen Fokalisierung ihrer beiden Hauptfiguren gelingt es Katharina Korbach geschickt, den Zustand ihrer Protagonistin zu verschleiern – auch wenn die Rückblicke auf ihre Familiengeschichte und ihren ersten Aufenthalt in der Psychiatrie den Leser langsam verstehen lassen, dass die Figur unter einer psychischen Erkrankung leidet, die sie zunehmend beeinträchtigt. Sie isst kaum und bringt immer häufiger nicht die Energie auf, das Haus zu verlassen.

Trotz der realistischen Erzählweise, die sich ganz an den Figuren, ihren Gedanken und Gefühlen orientiert, gelingt es Korbach mit Andeutungen und versteckten Bezügen eine zweite Bedeutungsebene zu generieren. Neben dem Bezug zu Proust ist es bei Charlotte der Roman Die Glasglocke von Sylvia Plath, der dem Leser Aufschlüsse über ihre Erkrankung gibt. Ihre Unnahbarkeit und die Schwierigkeit, sich anderen zuzuwenden, klingen an, wenn Wolfgang sie wiederholt mit dem Mädchen mit dem Perlenohrgehänge aus dem Gemälde aus dem 17. Jahrhundert von Jan Vermeer vergleicht.

Auch Wolfgang ist kein unbeschriebenes Blatt. Er kommt aus einer Unternehmerfamilie, die im Tabakgeschäft erfolgreich war. Sein Großvater sieht im einzigen männlichen Erben denjenigen, der das Familienunternehmen in die Zukunft führt, doch Wolfgang ist nicht bereit, den vorgezeichneten Weg einzuschlagen. Er verfolgt seine geisteswissenschaftliche Promotion und verkauft nach dem Tod der Großeltern das Unternehmen. Als Alleinerbe und kurzzeitiger Chef muss er die Gespräche mit den Mitarbeitern führen und die Entlassungen aussprechen. Eine dramatische Erfahrung für den jungen Mann – zumal sein bester Freund gerade Vater geworden ist und er keine Unterstützung, keinen Gesprächspartner hat. Mit seinem Umzug nach Berlin gewinnt er Abstand. Eine Phase der Apathie und Antriebslosigkeit überwindet er langsam und glaubt die Vergangenheit hinter sich lassen zu können. 

Gemeinsam ist allen Figuren im Roman ihre Einsamkeit. Den Wunsch, alle Verbindungen zu ihrem früheren Leben zu kappen, teilen sie. Zugleich verbindet sie das Gefühl, noch nicht angekommen zu sein. Dieses emotionale wie räumliche Dazwischen fängt Korbach sehr geschickt in kurzen Beschreibungen ein. Das Beispiel der Wohnungseinrichtung von Charlottes Kollegin aus der Weinbar könnte so auch von den anderen Figuren gezeichnet werden: 

Zwei Zimmer, das Bad, die Küche mit Zugang zum Balkon. Das größere der beiden Zimmer stand leer bis auf ein Bett, eine Kleiderstange. Graue und schwarze Pullover an Bügeln, eine Bluse für die Arbeit, eine verwaschene Jeans. Nirgendwo Bilder, Postkarten, Fotos. Nur gräuliche Rechtecke an den Wänden im Flur, an Stellen, an denen wohl einmal Rahmen hingen. Im zweiten Raum eine rote Schlafcouch und ein Schreibtisch, ein Regal, dicke Leitzordner, Bücher und Gesetztestexte. Vera hatte erzählt, dass sie Jura studiert, das Studium nach zwei Semestern aber abgebrochen habe. Sie habe anschießend eine Weile im Ausland gelebt, in Genf, in Maastricht. Dann war sie verstummt.

Das Gefühl der Verlorenheit entsteht durch die Erzählweise, die nur ganz sparsam Adjektive einsetzt und den Beobachtungen so keine persönliche Note verleiht. Persönliches ist nur in der Abwesenheit von Erinnerungen und in dem Hinweis auf das Scheitern zu finden. Wolfgang ändert in den fünf Monaten, die er in einer Wohnung zur Zwischenmiete lebt, nichts an der Einrichtung. Auch bei Charlotte sind es lediglich ihre gut verstauten Zeichnungen, die ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. Selbst bei Dr. Szabo sind es die Notizbücher, die auf die Möglichkeit gelebten Lebens hinweisen. Da sie gut verschlossen im Regal stehen, sind die Erzählungen nicht zugänglich und auch Charlotte fragt sich im Lauf der Sitzungen, was der meist stumme Psychiater notiert und ob er sich an wichtige Stationen aus ihrem Leben erinnert.

Die beiden zentralen Figuren Charlotte und Wolfgang scheinen seelenverwand. Die Annäherung gelingt, als Charlotte bei Wolfgang ein Seminar besucht und erste Gespräche durch die Institution Universität vermittelt stattfinden. Die Stärke des Romans besteht darin, dass Katharina Korbach keine klassische Liebesgeschichte erzählt. Die Figuren suchen Nähe und haben doch Angst diese zuzulassen, wieder verletzt zu werden. In kurzen Sätzen, die versuchen, jede Emotion zu unterdrücken, schildert Korbach die Nöte ihrer Figuren und entwirft zugleich ein ebenso realistisches wie beeindruckendes Porträt der Depression. Dadurch entsteht ein zartes Textgewebe, das den Leser oftmals nur zwischen den Zeilen an den Ängsten, Sorgen und existentiellen Bedrohungen der Figuren teilhaben lässt. 

Es entsteht nie der Eindruck eines gleichförmigen Textes oder gar der von Maxim Biller heraufbeschworenen Akademikerprosa. Der jungen Autorin gelingt es vielmehr in ihrem Debütroman einen eigenen Sound zu entwickeln, der den Leser zwar scheinbar einen Blick auf die Emotionen der Figuren gewährt, ihm aber gleichzeitig durch die sprachliche Distanz nur eine Ahnung davon vermittelt, was die Figuren in ihrem Innersten bewegt. Diese psychologisch ausgefeilte Gestaltung konfrontiert den Leser auf subtile Weise mit der Frage nach der Bedeutung von Freundschaft und Liebe. So begibt er sich mit ihnen auf die Suche nach einer Alternative für die in ihren Herkunftsfamilien erfahrenen Familienmodellen.

Die wahren Gefühle sind so flüchtig wie der Sperling. Damit ist nicht nur der kleine Stadtvogel gemeint, der sich gerne in der Nähe der Menschen aufhält und von den Krümeln ernährt, die in Parks und Cafés auf dem Boden zu finden sind. Mit dem Vogel wird zugleich auf ein Tattoo angespielt, dass sich Charlotte während eines längeren Aufenthalts in Paris hat stechen lassen. Der Vogel ist nicht nur in den Körper eingraviertes Zeichen ihres Wunsches, sich von der Herkunftsfamilie zu befreien. Er wird zugleich zum Gradmesser ihres Gesundheitszustandes. Hat sie ihre Krankheit im Griff, dann scheint der auf die Haut gezeichnete Vogel zu fliegen, andernfalls droht er abzustürzen und die Figuren mit ihm. Und so kreist der Roman um die Fragen, ob es Wolfgang möglich ist, seine Promotion abzuschließen, und wem es gelingen kann, Charlotte aus ihrer Depression zu retten und den Vogel wieder zum Fliegen zu bringen.

Titelbild

Katharina Korbach: Sperling. Roman.
Berlin Verlag, Berlin/ München 2022.
352 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783827014481

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