Argumente statt Gefühle

Der von Sandra Kostner herausgegebene Band „Wissenschaftsfreiheit“ macht sich für eben diese stark

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor nunmehr gut zwei Jahren schlossen sich 750 deutsche WissenschaftlerInnen aller möglichen Disziplinen im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zusammen, um „die Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen zu verteidigen und zur Stärkung eines freiheitlichen Wissenschaftsklimas beizutragen“, wie es im Gründungsmanifest heißt. Nicht weniger breit als das wissenschaftliche ist das politische Spektrum der UnterzeichnerInnen. So hat es etwa die Politologin und altgediente Feministin Barbara Holland-Cunz ebenso unterschieben wie der Linguist und stockkonservative Kritiker des Genderns Peter Eisenberg. Zur ersten Vorsitzenden wurde die Historikerin und Soziologin Sandra Kostner gewählt, die nun den Sammelband Wissenschaftsfreiheit herausgegeben hat, dessen Beiträge dem Untertitel zufolge erklären, „warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist“.

Im einleitenden Text beklagt Kostner die ihr zufolge auch an deutschen Hochschulen um sich greifenden Normierungs- und ideologischen Verengungsbestrebungen des Erforsch- und Sagbaren. Allerdings sei es nicht etwa der Staat, der versuche, die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, sondern Hochschulangehörige oder externe AktivistInnen. Erstere folgten dabei einem „ideologisch motivierten Konformitätsdrucks“, der die geforderten Einschränkungen damit begründe, dass die angegriffenen Personen moralisch als „(antimuslimischer) Rassist“, „Rechter/ Nazi“, „Sexist“ oder „Transphober“ stigmatisiert werden. Dabei führten die AnklägerInnen insbesondere Gefühlsverletzungen ins Feld, „um weltanschauliche Interessen durchzusetzen“. Abgesehen davon, dass Gefühle keine Argumente sind, wie Mithu Sanyal unlängst in der Sendereihe Sternstunde Philosophie zu Recht konstatierte, können Gefühlsverletzungen natürlich immer behauptet, aber nie empirisch negiert werden. Mehr noch, eine behauptete Gefühlsverletzung zu hinterfragen ist den AktivistInnen zufolge selbst schon wieder eine weitere Gefühlsverletzung. Eine Immunisierungsstrategie par excellence. Gerade aber in Institutionen, die sich der Wissenschaft verschrieben haben, ist „dem Schutz von Argumenten Priorität gegenüber dem Schutz vor Argumenten“ einzuräumen, wie Kostner prägnant formuliert.

Doch werde von aktivistischer Seite ein „moralischer Furor“ entfacht, der insbesondere in jenen Fällen erfolgreich sei, in denen sich Hochschulleitungen gegen Wissenschaftsfreiheit entscheiden, da sie, wie Kostner vermutet, fürchten, „selbst ins Visiert von (aggressiven) Aktivisten zu geraten“. Als Beispiel nennt sie einen auf Druck von Studierenden hin abgesagten Vortrag der Biologiedoktorandin Marie-Luise Vollbrecht, zu dem sie von der Berliner Humboldt Universität (HU) zuerst ein-, nach Protesten aber wieder ausgeladen wurde, da sie eine „überkommene biologistische und starr zweigeschlechtliche Sichtweise“ vertrete, „die heute auch in der Biologie eine Randmeinung“ darstelle. Selbst wenn dem tatsächlich so wäre, rechtfertigte das keineswegs die Ausladung der Vortragenden, sind es doch seit jeher gerade nicht selten ‚Randmeinungen’ der Forschung, welche die Wissenschaft entscheidend voranbringen. Besonders fatal ist, dass sich die Unileitung der HU in Person ihres Präsidenten Peter Frensch auf die Seiten der cancelnden Studierenden stellte, statt die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen, wie dies etwa an der Goethe Universität in Frankfurt der Fall war, wo AktivistInnen erfolglos versuchten, eine von der Ethnologin und Sozialwissenschaftlerin Susanne Schröter initiierte Tagung zum islamischen Kopftuch zu verhindern.

Forschung und Lehre, die nicht „agendakonform“ sind, seien zwar noch immer möglich, doch können sie der Herausgeberin zufolge schnell die Karriere gefährden, wenn nicht gar beenden. Eine Gefahr, die insbesondere für Forschende zu Beginn ihrer Laufbahn bestehe; zumal dann, wenn ihre Fälle nicht öffentlich werden bzw. erst nachdem sie bereits einen Karriereeinschnitt verursacht haben.

Die Kostners allgemeineren Ausführungen folgenden zehn Beiträge beleuchten die Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit aus verschiedenen Perspektiven. Die Religionswissenschaftlerin Inken Prohl thematisiert etwa das Verhältnis von Religionswissenschaft und Identitätspolitik, während der Politikwissenschaftler Stefan Luft das „Verschwinden des Pluralismus“ beklagt und im Typus des engagierten Wissenschaftlers einen „Missionar und Politiker“ ausmacht.

Der Politologe und Demokratieforscher Richard Traunmüller beleuchtet wiederum die „Cancel Culture“-Hypothese, die ihm zufolge eine enge Verknüpfung von „Normen der Intoleranz“, der „Praxis des De-Platforming“ und einer „Verhaltensstrategie der Selbstzensur“ postuliert. Eine in 55 US-amerikanischen Universitätskontexten durchgeführte Befragung von insgesamt 20.000 Studierenden untermauert ihm zufolge die Hypothese einer virulenten Cancel Culture.

Die Philosophin Marie-Luisa Frick erörtert hingegen, inwieweit Wissenschaft „die Welt verstehbar machen und erklären und dadurch menschliche Handlungsmöglichkeiten erweitern“ soll und inwieweit sie dazu beitragen soll, „besser in dieser Welt zu leben“, wobei sie zugleich die Frage aufwirft, was ‚besser’ in diesem Zusammenhang überhaupt bedeutet. Ihre instruktive Antwort lautet, dass in Demokratien die grundsätzliche Aufgabe von Wissenschaft darin besteht, mittels der „Methoden der Kritik, offene[r] Diskurse, Austausch und Wettstreit von Ideen und Meinungen“ zur Stabilisierung der Grundsätze der Demokratie beizutragen. Daher sei die strenge Trennung von Wissenschaft und Agenda für die demokratische Wissenschaftsfreiheit substanziell. Die Maxime „wer sich verletzt fühlt, hat immer schon Recht“ führe hingegen auf eine „abschüssige Bahn in die Unfreiheit nicht nur der Wissenschaft, sondern der Gesellschaft als solcher“.

Auch der Beitrag von Barbara Holland-Cunz erweist sich als erhellend. Sie zeichnet die Entwicklung der feministischen Politikwissenschaft von ihren Anfängen Ende der 1970er Jahre bis heute konzis nach. Dabei speist sich ihre Expertise auch aus dem reichen Erfahrungsschatz ihrer eigenen Tätigkeit auf diesem Gebiet, die sich ebenfalls über nicht weniger als vier Jahrzehnte erstreckt. Am Anfang dieser Entwicklung machte der von Maria Mies 1978 veröffentlichte Text Methodische Postulate zur Frauenforschung – dargestellt am Beispiel der Gewalt gegen Frauen Furore. An Mies’ in den ersten Jahren nach seinem Erscheinen überaus wirkmächtigen Text kritisiert Holland-Cunz nicht zuletzt den „apodiktische[n] Habitus“, dessen Impuls „gänzlich wissenschaftsfeindlich“ sei, da er die „Hermetik der androzentrischen Institution“ mit „Gegenforderungen“ beantwortete, die selbst hermetisch waren und davon ausgingen, „(frauenforschende) Wissenschaft“ unterstehe dem Primat der „(Frauenbewegungs)-Politik“. Aus der von Holland-Cunz eingenommenen „Perspektive eines professionellen, reflektierten Wissenschaftskonzepts“ sei diese Forderung nicht aufrecht zu erhalten. So wurde Mies’ Konzept um 1990 denn auch in den Kreisen feministischer Wissenschaft zu Gunsten von Sandra Hardings Wissenschaftstheorie verworfen, welche die Maxime „weniger Politik, mehr Wissenschaft, bessere Wissenschaft“ vertrat.

Zwar glichen sich Hardings und Mies’ Konzepte darin, dass beide das Verhältnis von Wissenschaft und Politik als höchst politisiert erkannten. Doch während Mies zufolge, „(Unterdrückungs-)Erfahrungen […] automatisch Erkenntnisse über Herrschaft produzieren“, beharrt Harding darauf, dass „Patriarchatskritik in/an der Wissenschaft wissenschaftlich sein“ müsse. Hardings bedeutendsten Beitrag zur feministischen Wissenschaftstheorie macht die Autorin in dem Versuch aus, „Objektivitätskritik mit einem neuen Verständnis von Objektivität zu koppeln“, das dem herkömmlichen Konzept von Objektivität einen Relativismus entgegenhielt, der zwar nicht erkenntnistheoretisch, wohl aber „historisch-soziokulturell[]“ begründet war. Denn Harding zufolge ist eine „bewusste und systematische Reflexion machtvoller Hintergrundüberzeugungen“ die Möglichkeitsbedingung „echte[r] bzw. strenge[r] Objektivität“.

Wie Holland-Cunz bedauert, war die Erfolgsgeschichte von Hardings wissenschaftstheoretischem Ansatz allerdings nur kurz. Schon in den 1990er Jahren wurde sie durch Donna Haraways „fabulierende, als genialisch empfundener Präsentationsweise“ beendet, fataler aber noch wirkte sich der Autorin zufolge das Erscheinen von Judith Butlers Buch Gender Trouble (1990, dt. 1991) aus. Im Zuge seiner Rezeption wurden zahlreiche „materiale Untersuchungen im Kontext weiblicher Körperlichkeit (von Gewaltfragen bis zu Arbeits- und Reproduktionsverhältnissen)“ abgebrochen und stattdessen Forschungen über „die Macht der Sprache und Zeichen“ begonnen. Zugleich sei mit dem aufkommenden Aktivismus der Queer Politics eine „(Re-)Politisierung und Moralisierung der Wissenschaft“ einhergegangen, dessen „sektenförmige Struktur“ bis heute „nach außen hin eine ausgeprägte Hermetik und nach innen eine Atmosphäre der zirkulären Selbstaffirmation [erzeugt]“.

Nicht ganz so überzeugend unternimmt es Alexander Zinn, zu zeigen, dass die „gefühlten Wahrheiten“ des LGBTI-Aktivismus die Wissenschaftsfreiheit bedrohten, wobei „vor allem Trans-Aktivisten gegen unliebsame Professoren“ vorgingen und dabei „besonders harte Bandagen“ anlegten. Als Beispiele eines solchen unliebsamen Professors nennt er den Kasseler Evolutionsbiologen und Pflanzenphysiologen Ulrich Kutschera, der von der Philipps-Universität in Marburg eingeladen worden war, einen Vortrag zu halten, dann aber aufgrund eines Protestes des dortigen Zentrums für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung wieder ausgeladen wurde. Nun weiß auch Zinn, dass Kutscheras Thesen „Fragen auf[werfen], nicht zuletzt die, ob sie nicht ihrerseits ideologischen Prämissen folgen“. Doch statt Kutscheras Vortrag zu canceln hätte es „nahegelegen“, ihn „mit der Inkonsistenz seiner Argumentation zu konfrontieren“. Aber genau das haben die Angehörigen des Marburger Gender-Zentrums getan; zwar nicht in einer persönlichen Diskussion nach seinem Vortrag (den er ja gar nicht halten durfte), aber immerhin in einer nachgereichten Online-Publikation. Das rechtfertigt aber keineswegs, seinen Vortrag zuvor verhindert zuhaben, sondern wirkt fast schon etwas peinlich, zumindest aber wenig souverän.

Daneben steht im Zentrum von Zinns Beitrag die Diskussion um das Ravensbrücker Lesben-Denkmal, dessen Errichtung ihm zufolge nicht gerechtfertigt war. Zwar räumt er ein, dass nicht nur Schwule, sondern auch Lesben von den Nazis wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden, anders als jene seien sie jedoch nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in KZs verschleppt worden. Im Unterschied zu Schwulen gebühre ihnen daher auch kein solches Denkmal. In seinem Beitrag unternimmt er einige Anstrengungen, um den „Verfolgungsmythos“ der Lesben und die „jahrzehntelang durch Forschungsliteratur und Presseberichte [geisternden Nachweisversuche]“ von Frauen, die wegen ihres Lesbischseins in ein KZ verbracht wurden, in Frage zu stellen.

Der Historiker Vojin Saša Vukadinović wiederum unternimmt es, die „Cancel-Culture-Skeptiker“ zu widerlegen, die meist dem „gefühlslinken Lager“ entstammen, und stellt fünf Cancel-Beispiele aus dem Bereich der Gender Studies vor. Wenig plausibel ist hingegen der Versuch des Wissenschaftsphilosophen und medial bekannten Kritikers der Corona-Maßnahmen Michael Esfeld, anhand der Corona-Krise zu zeigen, „wie der Gebrauch von Wissenschaft als Machtmittel […] die Freiheit der Wissenschaft unterminiert“. Als Beispiel dient ihm die Forderung „Follow the Science“, die sich „direkt gegen die Freiheit der Wissenschaft“ richte. Dieses Beispiel ist aber schon allein darum untauglich, weil sich die Forderung eben nicht an die Wissenschaft richtet, sondern an die Politik. Im umgekehrten Falle müsste sie ja auch „Serve the Politics“ lauten. Diese würde die Wissenschaftsfreiheit tatsächlich einschränken. Da überzeugt es auch nicht, wenn Esfeld erklärt, Wissenschaft verlöre ihre Freiheit, wenn sie von der „Politik gebraucht wird, um ein bestimmtes Programm durchzusetzen“.

Ungeachtet solcher einzelner Ausfälle und der einen oder anderen Schwäche anderer Beiträge ist der Band insgesamt als Beitrag zum Erhalt der Wissenschaftsfreiheit zu begrüßen. Von ihrer Wiedergewinnung wird man noch nicht sprechen müssen.

Titelbild

Sandra Kostner: Wissenschaftsfreiheit. warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022.
241 Seiten , 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783848784295

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