Der Schmerz der Überlebenden

Der Roman „Heimatlos“ von Judit Kováts ist ein trauriges Kriegsmärchen über die Karpatendeutschen

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Historikerin Judit Kováts hat in ihrer Heimat Ungarn bereits drei Romane veröffentlicht. Sie sind Texte zu Traumata des 20. Jahrhunderts, in denen sie sich mit dem Schicksal ungarischer Frauen im Krieg und im Kommunismus und der ‚Kollektivschuld‘ der ungarischen und der deutschen Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Der dritte dieser Romane ist auf Grund seiner Thematik als erster ins Deutsche übersetzt worden: Heimatlos erzählt das grausame Kapitel der Vertreibung der Karpatendeutschen aus der Sicht der jungen Käsmarkerin Lili Hartmann. 

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wird die Situation für die deutsche Minderheit in der Slowakei mit dem Partisanenaufstand immer brenzliger. Deutsche Schulkinder, so auch Lili, und ihr Lehrkörper werden unter Heimatschutz- und Wehrmachtbegleitung in sogenannte Kinderlandverschickungslager nach Österreich in (an-)geordnete Ferien gebracht. Als die Kämpfe näher kommen, werden sie weiter Richtung Deutschland, nach Bad Reichenhall, evakuiert. Als Lili vom Vater wieder abgeholt wird, geht es zunächst zu den Verwandten im mährischen Olmütz. Dort ist die Stimmung längst gekippt und die Deutschen sind Zielscheibe des Hasses. Lili wird auf der Straße beschimpft, bespuckt und verprügelt.

Die Gräueltaten gegen Deutsche werden auch in der Slowakei nicht mehr geahndet: In der Heimatstadt Käsmark, unterhalb der Hohen Tatra, steht die Familie nicht nur vor dem enteigneten Haus, der Vater wird zudem festgenommen. Die Mutter, Großmutter und die schwangere Schwester Polli werden mit Lili in das berüchtigte slowakische Gefangenenlager Nováky gebracht. Sie sind im doppelten Sinne weit weg von der Zips, wo unlängst noch „ein Satz auf Deutsch begonnen, auf Slowakisch fortgesetzt und auf Ungarisch beendet“ wurde und man mit Dekreten nicht hätte erreichen können, „dass man jemanden einzig und allein für seine Herkunft hasst“. Von der Familie erleben nur noch Lili und ihre Mutter die Deportierung nach Bayern. Das Schicksal dort heißt Hunger, Schwarzmarkt, Überleben am Existenzminimum in einem Vertriebenenlager, das zuvor zur Vernichtung der Juden benutzt wurde. Sonst dreht sich in der Nachkriegszeit alles, da schöpft die Autorin ganz aus dem herkömmlichen Motivrepertoire, um die großzügigen amerikanischen Besatzer, Kaugummi und Zigaretten als Währung, Jugendliche, die in Abwesenheit ihrer Väter deren Rolle übernehmen und Kriegsgefangene, die sich nach ihrer Rückkehr in der eigenen Familie fremd vorkommen.

Als „engagierte Verfechterin der oral history“, wie ihr Verlag Judit Kováts beschreibt, hat sie die Vertreibung der Karpatendeutschen aus der Slowakei aus Zeitzeugenerzählungen unter Einbeziehung historischer Fakten und Persönlichkeiten nun auch literarisch aufgearbeitet. So war der Lehrer Alfred Grosz, mit dem Lili in der Schule den Grünen See, den sagenumwobenen Berg Karfunkelturm und damit auch die Märchen und Legenden der Hohen Tatra kennen und lieben lernt, als Bergsteiger und Vermittler zwischen Ungarn, Deutschen und Slowaken in Késmárk/Käsmark/Kežmarok eine lokale Berühmtheit. Lilis Freundin Elsi ist hingegen als einzige dem Kriegsverbrecher Karol Pazúr entkommen: Er war für das Massaker von Prerau/Přerov verantwortlich, bei dem 1945 mehr als 200 Flüchtlinge aus einem angehaltenen Zug verschleppt und getötet wurden. Auch auf das familiäre und gesellschaftlich-kulturelle Leben der Zipser Deutschen unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg kann man aus Lilis Rückblenden Rückschlüsse ziehen. Doch je weiter man ihren Schilderungen sowohl des Alltagsgeschehens als auch der Grausamkeiten folgt, desto dringender stellt sich die Frage, welche Repräsentation die Zeitgenossen angesichts der Verheerungen der Nachkriegszeit, die für die Nachwelt zu dokumentieren und aufzubereiten ohne Zweifel notwendig sind, erfahren? Und nicht zuletzt: Kann ein Konstrukt aus persönlichen Erinnerungen und historischen Eckpfeilern mit der Gattungsbezeichnung Roman gegenwärtig ein differenziertes Epochenbewusstsein befördern?

Die 15 Jahre vom nahenden Kriegsende bis in die Nachkriegszeit schildert die Autorin linear und ausschließlich aus der Sicht ihrer jungen Protagonistin. Als Lili sich Ende der 1950er Jahre aus München mit ihrer kleinen Familie in die Tschechoslowakei aufmacht, um die Gräber der Großmutter und der Schwester sowie Käsmark und die geliebte Hohe Tatra zu besuchen, schwärmt der patriotische Kutscher, während er sie zum ehemaligen Lager fährt, unerwartet vom „Goldenen Zeitalter“ der Zipser Deutschen. Doch die von deutschen Siedlern seit dem Mittelalter geprägte Kultur und multikulturelle Gesellschaft der Zips ist Vergangenheit. Der Krieg hat das historisch Gewachsene der Region in kürzester Zeit ausgelöscht. Wie schwer es ist, das Erlebte und Ertragene, das Gesehene und Empfundene zu erzählen oder schlicht aufzuschreiben, erkennt die Erzählerin, als sie von ihrer traumatisierten Freundin gebeten wird, sich als Journalistin ihrer „Prerau-Geschichte“ anzunehmen. „Worte schaffen das Vergangene neu“, stellt sie fest, aber „[w]en soll Elsi bitten, wenn nicht mich [die Überlebende]?“. 

Judit Kováts versucht mit ihrem Roman Heimatlos die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus einer in der Gegenwart weniger fokussierten Region des östlichen Europas nachzuerzählen und in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs einzufügen. Deutlich vernehmbar ist dabei ihr Appell, den Stimmen der Zeitzeugen bei diesem Akt stärker Gehör zu verschaffen. Dem widerspricht teils das Erzählverfahren der Autorin, dem eine monoperspektivische Darstellungsweise der Erfahrungen und ein eher homogenisierender Blick auf Deutsche, Tschechen und Slowaken zu eigen ist. Sie vermag es durch ihre jugendliche Erzählfigur ebenfalls kaum, historische Zusammenhänge zu vermitteln, sodass ein unrühmliches Kapitel der slowakischen Geschichte, die Kollaboration eines klerikal-nationalistischen Regimes mit NS-Deutschland, und die brutale Niederschlagung des Slowakischen Nationalaufstandes nur am Rande Erwähnung finden.

Was nach der Lektüre zurückbleibt, ist die unfreiwillige Erinnerung an leitmotivisch wiederkehrende Schilderungen der durch Rachegefühle der Tschechen und Slowaken gespeisten Gewalt, an Hass und Angst. Vor diesem Hintergrund scheint der Roman vor allem im Hinblick auf die Emotionalisierungsstrategien literarischer Repräsentationen der Kriegs- und Nachkriegszeit dennoch aufschlussreich.

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Judit Kováts: Heimatlos.
Aus dem Ungarischen von Eva Zador.
Nischen Verlag, Wien 2020.
430 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783950390674

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