Erschreckende Kontinuitäten
Ursula Krechel erzählt in „Geisterbahn“ vom Schicksal einer Sinti-Familie und zeichnet ein Trierer Gesellschaftspanorama
Von Beat Mazenauer
Drei Jahre nach Kriegsende gab das Landeskriminalamt Baden Württemberg einen Leitfaden zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens heraus, worin Hilfe geboten wurde für die „endgültige Lösung des Zigeunerproblems“. Für Sinti und Roma wie die Schaustellerfamilie Dorn sollte der Spuk weitergehen. Ursula Krechel erzählt davon in ihrem Roman Geisterbahn und erwähnt dabei auch jenen Leitfaden von 1948. Die Vergangenheit wurde bewältigt, indem sie verdrängt wurde. Kein Wunder, denn 37,7 Prozent aller Beamten hätte anfangs der 1950er Jahre auf eine NSDAP-Mitgliedschaft zurückblicken können, hätten sie es nur gewollt. Entsprechend schwer war es für Sintis wie Alfons und Lucie Dorn, die KZ und Arbeitslager überstanden und dabei fünf Kinder verloren hatten, ihre „Entschädigungswürdigkeit“ nachzuweisen. Die Bürokratie fand genügend Ausreden, um dies zu verzögern.
In der Seele wund und körperlich beschädigt versuchten Alfons und Lucie Dorn nach dem Krieg ohne Unterstützung und Entschädigung neu anzufangen. Alfons Dorn baute seinen Schaustellerbetrieb erfolgreich wieder auf. Doch „die Angst lag in der Luft“, schreibt Krechel, die Dorns waren „eine Insel in einem Meer von Traurigkeit“, die in Zeiten des Wiederaufbauwunders niemand sehen durfte. Jahre später sollte eine Geisterbahn mit zum Geschäft gehören, gewissermaßen als Antwort auf die familiäre Geisterbahnfahrt durch die deutsche Nachkriegsepoche.
Lucie und Alfons Dorn bilden mit ihren Kindern das Zentrum von Krechels Roman Geisterbahn über die Jahre vor, während und nach dem Krieg, in denen auch die „Zigeunerfrage“ gemäß einem Erlass von 1938 „endgültig gelöst“ werden sollte. Für Kontinuität über die historischen Bruchstellen hinweg setzt die Autorin eine Figur namens MEINVATER ein, einen allgegenwärtigen Polizeibeamten, der in den 1930er Jahren seinen Dienst zur Zufriedenheit der Vorgesetzten verrichtet und es zwei Jahrzehnte später noch immer tut. Im Sommer 1947 kommt der Ich-Erzähler Bernhard Blank als dessen Sohn zur Welt, fast zeitgleich mit Aurelia, der Tochter der Kommunisten Maria und Willi Torgau; mit Annchen, der jüngsten Tochter von Alfons und Lucie Dorn; mit Iris, deren Vater ein unbekannter französischer Offizier ist, und mit Cecilia, der Tochter des Mitläufers und Karrieristen Franz Neumeister, der nach 1945 eine heuchlerische Frömmelei annimmt.
Es ist jener Sommer, in dem Wilhelm Furtwängler „wieder dirigiert“, wie der Emigrant Peter Weiss im schwedischen Exil reportiert. Furtwänglers großes Berliner Konzert leitete die Normalisierung ein als, wie Weiss schrieb, „Ausdruck eines überwältigenden Gefühls: Wir leben noch!“ – Wir, die rechtschaffenen Deutschen, die selbst nur Opfer waren. Dieser beklemmende Überschwang bildet in der Buchmitte die Achse, über der Krechel ihren Roman aufspannt. Geisterbahn bildet den Abschluss einer Zweite-Weltkriegs-Trilogie, zu der Schanghai fern von wo (2008) und Landgericht (2012) gehören. Schauplatz in diesem dritten Band ist Trier, wo 1947 auch die Autorin zur Welt kam. In fünf zeitlichen Etappen (und Kapiteln) schildert sie, wie sich Mitte der 1930er Jahre die Verhältnisse für die Familie Dorn verschärfen und ihre wirtschaftliche Existenz systematisch zerstört wird – wer will schon beim Zigeuner Karussell fahren? Die Mitglieder der Familie Dorn werden in Arbeitslager deportiert, ebenso ergeht es der Familie Torgau, treuen Kommunisten, die von der mörderischen NS-Politik niedergeknüppelt wurden.
„MEINVATER verkörperte die Ordnung“, erinnert sich der Ich-Erzähler, wenn nötig mit dem Knüppel, wie alle seine Kollegen. „Niemals sprach MEINVATER über das Lager“, ebenso wenig tun es auch später Lucie und Alfons Dorn. Hin und wieder „haben sie Lager“, wenn sie die Geister der Erinnerung überkommen, aber sie versuchen sich im neuen Leben einzurichten.
Mitte der 1950er Jahre lernen sich Annchen Dorn, Aurelia Torgau, Iris Berghausen, Cecilia Neumeister und Bernhard Blank in der Volksschule kennen. Sie spielen miteinander, um sich im Lauf der Jahre wieder zu zerstreuen, doch nie ganz aus den Augen zu verlieren. In der Erzählgegenwart, in der Bernhard seine Erinnerungen niederschreibt, eröffnen Annchen, aus der Anna geworden ist, und ihr Bruder Ignaz eine Gaststätte in einem alten Bahnhof. Hier kehrt hin und wieder auch der Erzähler ein – bis die Gaststätte von Neonazis verwüstet wird. Die Geschichte will kein Ende nehmen. Die Nachfolger MEINESVATERS, der inzwischen verstorben ist, haben es mit den Ermittlungen nicht sonderlich eilig, zumal es, wie einer von ihnen unumstößlich weiß, in „unserer Stadt“ keine Nazis gibt.
Dieses Erzählgerüst baut Krechel zu einem Epochenbild aus, das zum einen geduldig und genau die psychologischen Tiefen und Abgründe ihrer Protagonisten auslotet, zum anderen mit präzisen Strichen ein Bild der politischen Verhältnisse zeichnet. Es ist dieser subtile Wechsel zwischen innerem Erleben und äußeren Zwängen, der Geisterbahn zu einem großartigen Buch macht, das gleichermaßen differenziert wie souverän erzählt ist. Immer wieder hält die Autorin inne bei familiären Szenen, um ja kein Detail auszulassen, etwa wenn sie die Kinder bei ihren gemeinsamen Spielen beobachtet.
Dann wieder greift sie nüchtern auf biografische Dokumente und amtliche Verlautbarungen zurück, um die gesellschaftliche und politische Stimmung zu beschreiben. Die Dorns werden von den Ärzten penibel befragt und von den Beamten misstrauisch beäugt, um ja jeden erahnten Betrug auszuschließen. Es ist daher kein Zufall, dass ihnen ein jüdischer Heimkehrer, der Jurist Cobler, nach langen Kämpfen zu einer Entschädigung verhelfen kann. Doch die Zerstörung des Restaurants bringt Anna und Ignaz Dorn doch dazu, die Stadt zu verlassen und auf dem Land ein Ausflugslokal zu übernehmen.
Ursula Krechel erzählt nüchtern und sachlich ebenso wie feinfühlig und mit Humor, ohne je das eine gegen das andere auszuspielen. Sie hält stets eine feine Balance zwischen recherchierten Fakten und poetischen Fiktionen, zwischen den fließend ineinander übergehenden Stilen und Stimmungen, die ihr Alter Ego Bernhard Blank als Ich-Erzähler mit eigenen Reflexionen zum Schreiben abrundet. Ein Spitalaufenthalt macht ihm, der Grundschullehrer wurde, bewusst, dass er ein alter Mann geworden ist. Er nutzt die bittere Erkenntnis, um „über das Gelingen von Leben, das Gelingen von Büchern, den Gewinn von Erinnerung und die gnädigen Verluste“ nachzudenken. „Naja, ich bemühe mich“, bilanziert er über sich: „Ich kann erinnern. Ich kann vergessen. Ich kann anfangen, aber nicht aufhören.“ So ergeht es ihm mit dieser Erzählung, Philippe Lejeunes Der autobiographische Pakt steht ihm dabei zur Seite. Vor dem inneren Auge sieht er die Schulfreunde von früher wieder: Iris, Aurelia, Anna, Cecilia, Kurt oder Gerwin. Gegenwart und Vergangenheit gehen ineinander auf; letztere geht über die Elterngeneration zurück in die 1930er Jahre. „Bloß keine Fälschung“, nimmt sich Bernhard Blank vor. Seine zurückhaltende Erzählung aus der Hand von Krechel rundet alle die Erinnerungen und Recherchen zu einem eindrücklichen epochalen Trierer Gesellschaftspanorama. Vielleicht ist es ein Trost, dass am Ende der hochbetagte und vergessliche Alfons Dorn das letzte Wort behält: „Dann ist es gut. Bring mich nach Hause.“
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