Gedichte und Sprachspiele als Weltöffner und Sprachschlüssel
Die Wiener Lyrikerin Margret Kreidl schreibt mit „Schlüssel zum Offenen“ Schlüsselgedichte gegen die Banalisierung und Krisenhaftigkeit der Welt
Von Stephan Wolting
Die in Salzburg geborene, in Wien lebende Lyrikerin und Sprachperformerin Magret Kreidl gilt innerhalb der deutschsprachigen poetischen Welt noch immer als eine Art Geheimtipp, auch wenn sie in lyrischen Insiderkreisen inzwischen durchaus einigen Bekanntheitsgrad erreicht hat. Raoul Schrott empfahl die Hausübungen im Literaturclub vom 23.04.2019 im Schweizer Fernsehen (veröffentlicht in der Anthologie Jahrbuch der Lyrik 2019, hg. von Christoph Buchwald und Mirko Bonné, Schöffling & Co 2019). In der Sendung werden von Schrott Ausschnitte aus Kreidls Hausübungen vorgestellt und interpretiert. Eine davon lautet: „Ein Bild ist kein Vergleich / Schreib diesen Satz auf den Küchentisch. / Dann stell eine rote Tulpe in eine langstielige Vase. / So wird das Licht nach oben brennen.“ Schrott erwähnt in diesem Zusammenhang, dass der deutsche Wortschatz aus 300.000 Wörtern besteht und dass es nur 700 Wörter gibt, die nur sich selbst bedeuten, die Welt direkt benennen, und die so den Grundwortschatz der deutschen Sprache bilden. Alle anderen Wörter leiten sich davon ab, indem sie „Vergleiche“ bilden (das ver- kommt vom mhd. per, was so viel bedeutet wie über etwas hinausgehen). So gehen die Begriffe über sich selbst hinaus und werden zu figurativen Bedeutungen, zu „historisch gewachsener Poesie“.
Kreidl geht es in ihrer Poesie nun darum, den Lesenden diese Vorstellungen zu „entrücken“, die Begriffe auf diese Weise zugleich nah und neu zu machen, sodass die ursprüngliche Bedeutung „wie ein Feuerball nach oben zischt“, und nach Schrott so ein „reines Bild“ entsteht, nicht mehr der Vergleich.Sie versucht in ihrer Lyrik das sprachlich Unverstellte zu realisieren, unter anderem in Bezug auf die Person im Sinne des personare, des Hindurchtönens, was in der Regel durch gesellschaftliche Masken und Sprechkonventionen verstellt ist.
Neben den Hausübungen ist die Autorin vor allem mit dem Band Einfache Erklärung. Alphabet der Träume (2014) einem größeren Publikum bekannt geworden. In den erwähnten Werken zeichnet die Autorin ihr eleganter Umgang auch mit „alten Formen“ aus (wie dem Sonett) und ihre Selbstironie, wie er in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen sucht. Es handelt sich zudem um performative Gedichte, die von Kreidl auch häufig in öffentlichen Auftritten oder im Radio in Zusammenhang mit Vertonungen vorgetragen oder deklamiert werden. Diese Art besonderen Esprits, im besten Sinne des Begriffs, scheint ein Alleinstellungsmerkmal ihrer Lyrik zu sein. Gerade ihr Formwille erzeugt eine Offenheit zur Integration des Disparaten bzw. inhaltlich schwer zu Integrierenden.
Auch wenn sie in ihrem neuen Werk Schlüssel zum Offenen aufgrund der Corona-Krise etc. etwas ernster daherkommt, so bleibt die Autorin doch auch in den 107 Kurzgedichten ihrem Sprachspiel und -witz treu, allein schon mit der Idee, den Begriff Gedicht als Akrostichon, als Leistengedicht, zu benutzen, wie sie etwa selbst „definiert“: „G bedeutet G. / E ist sich ähnlich. / D fällt aus der Reihe. / I enthält sich selbst. / C ist unendlich. / H dehnt sich aus. / T ist eine Idee.“
Sie nimmt dabei ein altes lyrisches „Sprachspiel“, jenes des Regelgedichts auf, das schon in der Antike und im Barock (u.a. bei Opitz) eine besondere Rolle spielte. Diese Form des Gedichts bietet für sie heute eine Möglichkeit, phänomenologisch zu den Dingen selbst vorzustoßen, was schon ihr erstes Gedicht verrät, das in Schreibschrift dem Werk wie eine Art Motto vorangestellt ist:
Gedicht, das im Entstehen begriffen ist,
ein Gerüst, das arbeitet, eine Struktur,
die freigelegt wird, von außen nach
innen führend. Die Montage, die das
Chaos, das hundearmig nach dir greift
hymnisch in die Höhe treibt und das
totgesagte Wort zum Klingen bringt.
Gleichfalls finden sich in ihrem neuesten Werk Kürze und Prägnanz als schon angedeutete Charakteristika ihrer Poesie sowie jene Art der ebenfalls schon erwähnten Anti-Logik. Im Sinne einer Art von Gegenteilsdenken entwickelt Kreidl strenge Form- wie (Sprach-)Spielart zugleich und macht so „Möglichkeiten lyrischen Sprechens“ sichtbar, zusammengestellt aus freien Versen, Reimen, Listen oder Zeilensprüngen in dem Sinne, „das totgesagte Wort zum Klingen zu bringen“, wie sie es beinahe poetologisch in einem der Gedichte nennt.
Interessanterweise lässt sich bei genauer Lesart unter den Gedichten eine Art von intertextuellen Bezügen zwischen ihnen herstellen: entweder z.B. dadurch, dass einige Gedichte, die aufeinander folgen gleich beginnen: „Geh in den Garten und schreib“, „Geh über das Rapsfeld und schreib“, „Geh in die Küche und schreib“ oder „Geh in den Wald und schreib“. Damit scheint zugleich eine horizontale wie vertikale rhythmische Struktur auf. Im Weiteren geschieht das zudem dadurch, dass zu Beginn gebrauchte Begriffe wie Gedichte, Gedanken, Glück, Gibt etc. in immer neuen Schattierungen, Amalgamierungen und Zusammenstellungen oszillieren.
Inhaltlich führt die Autorin die Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die in der Corona-Zeit noch stärker in die (Sprach-)Krise geraten ist. Kreidl setzt ein lyrisches Sprechen dagegen, mit einer sich wie mit einem Schlüssel öffnenden Sprache als erkenntnisreichem Trost in durch Kontaktbeschränkung stumm gewordenen Zeit. Motive der Krise und deren „Blühen in der Krise“ werden immer wieder von neuem intoniert:
Gesundheit und Gesundheit,
es gibt keine Alternative.
Die weißen Schwäne sind schwarz.
In der Krise bilden sich Schlangen.
Chefsache Kurve, Abstand
halten, Maske ins Backrohr,
Tote auf den Balkon.
Die Alltäglichkeit der Krise findet bei Kreidl ihren Gegenhall in der ganzen Nichtalltäglichkeit der lyrischen Sprache, wo dann „Teiche als Sprachgewebe zu Teppichen“ mutieren, auf denen sich „davonfliegen“ lässt. Die alte Vorstellung des Textbegriffs als Gewebe findet hier eine völlig neue Kontextualisierung und sprachliche Anwendung. Immer wieder von neuem werden alltägliche Dinge evoziert und mit weniger frequenten Begriffen wie beispielsweise dem „Gehäuse“ kontrastiert. Dieser Begriff erinnert an Dürers berühmtes Gemälde des Heiligen Hieronymus in seinem Gehäuse, hier allerdings nicht freiwillig oder selbstgewählt:
Gehäuse, ausgepolstert, abgeschlossen.
Es bleibt nichts anderes übrig.
Die Frau ist sich selbst überlassen.
Ihre Dinge heißen Tisch und Bett und
Couch und Teppich. Aufgehoben im Dunkeln
hört sie die Rosen wachsen auf den
Tapeten: Rosen, Trost der Wiederholung.
Im Sinne des κρίνειν werden Sprachbilder alsfein unterscheidende, trennende einer genauen lyrischen Betrachtung unterzogen und somit in einen anderen Fokus gestellt, etwa die Verwandlung des Worts Grenze und dessen Ablösung des „heimischen Worts Mark“, was Anlass zum Weiter- und Darüberhinausdenken bietet. Kreidls Gedichte entwerfen Denkbilder:
Grenze: aus dem westlawischen granica
entlehnt, mittelhochdeutsch greniz, hat
das heimische Wort Mark verdrängt.
Identifiziert wirst du immer vor Ort.
Chauvinismus ist ein Fremdwort.
Herkunft kommt von gehen, schau,
trau, genau, ehrlich. wahr, Ende.
Zwei der nach Meinung des Verfassers schönsten Gedichte thematisieren gleichfalls die Weise der Bezeichnung (heißt, Chiffre), worin das Gesicht bzw. die Bezeichnung des Antlitzes eine besondere Rolle spielt: im Sinne der Darstellung der arbiträren Bezeichnung des Begriffs als des fremdwerdenden Gesichts:
Gesicht, das mir fremd ist, aber
es ist dein Blick der mich trifft.
Das Entgegenblickende heißt Antlitz.
Ist es noch dein Gesicht oder schon
Chiffre, die ich übersetzen muss.
Hippokratisches Gesicht, das sich dem
Tod nähert, das überfließt, vergessen ist.
In Anknüpfung an die Bemerkungen Schrotts lässt sich hier der Ausdruck Adornos assoziieren, wonach ein Wort so lange angeschaut werden soll, bis es fremd zurückblickt. Zudem wird im Text dem Gesichtssinn, dem Sehen, besonderer Sinn zugesprochen, der nach neueren neurophysiologischen Forschungen in der Tat fast 10 Millionen von insgesamt 11 Millionen Impulsen der Sinneseindrücke für sich in Beschlag nimmt.
In dem anderen, die Leserin oder den Leser direkt anvisierenden Gedicht wird das „Glück in Zeiten von Corona“ thematisiert, nicht als Glück und Glas, das bekanntlich so leicht bricht, sondern im Sinne von Gras, das darüber wächst, was im veränderten Gebrauch erneut die alltägliche assoziative Zuschreibung transzendiert:
Glück, das heißt, du wirst
eine Lücke finden,
die dich fest umschließt,
in der du endlich allein bist,
Chef, der sich selbst genügt im
Homeoffice und der Liveticker tickt,
tickt, tickt, während das Gras sprießt.
Glück ist hier auch im Sinne einer (falschen) Hoffnung zu sehen, die für Nietzsche bekanntlich das schlimmste Übel der Büchse der Pandora darstellt.
Dazu richtet die Lyrikerin immer wieder die Frage zurück an den Ursprung der Bezeichnung, der „Göttin des Begriffs“, auf die alles zurückgehen könnte:
Gibt es eine stumme Göttin des Begriffs,
eine verborgene Herrscherin über
das Ding an sich? Mit der Maske
im Gesicht verstehst du nichts.
Cindy Klink will deine Lippen lesen.
Hörst du mich? Das Mundbild fehlt. Wie
teile ich meine Gebärden mit dir?
Als eine Quintessenz ihres Schreibens dieses Gedichtbands könnte das folgende Gedicht angesehen werden:
Gedanken in eine Form bringen,
einen Sinn suchen – vergiss es,
das sagenhafte Ganze. Lass dich
in die Irre führen von einem Satz:
Clementinen sind leicht zu schälen.
Handgriff oder Kunstgriff – du kannst wählen:
Tempus, Modus, Kasus, Genus, Genuss.
Wenn man abschließend Robert Gernhardts wiederum selbst lyrischen Befund des gelungenen Gedichts „Gut gefühlt / Gut gefügt / Gut gedacht / Gut gemacht“ herbeizitieren möchte, so ist Magret Kreidl nicht nur allein unter dieser Optik ein großer Wurf gelungen, sondern nicht zuletzt deshalb, weil jedes Gedicht in der Akrostichon-Form zugleich doch wieder völlig unterschiedlich wirkt und auf seine jeweils eigene Weise zum Denken (wie zum „mittönenden Empfinden“) anregt. Insofern stellt das Werk selbst ein besonderes Plädoyer für eine solche hohe Dichtkunst in dürftiger Zeit dar.
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