Kinder ohne Kindheit
In „Ukrainekind“ lässt uns Martin Kreuels am Leben einer ukrainischen Familie in der seit drei Jahren herrschenden Kriegssituation teilhaben
Von Ina Karg
Das Buch Ukrainekind erzählt vom Alltag in der Ukraine nach der russischen Invasion vom 24. Februar 2022. Protagonist und meist auch Ich-Erzähler ist der 10-jährige Danylo, der mit seiner Familie in Fastiw westlich von Kiew lebt. Das erzählte Geschehen setzt kurz nach dem Angriff der russischen Armee ein, als Danylos Vater die Familie verlassen und an der Front kämpfen muss. Danylos Mutter fällt nach dem Abschied des Vaters monatelang in eine Lethargie. Sie raucht, schaut aus dem Fenster und isst kaum noch etwas. Die Großeltern, die in der Nähe wohnen, kümmern sich um ihre Tochter und ihren Enkel. Der geht wie gewöhnlich zur Schule, trifft sich mit seinem Freund Mykyta, und der Krieg ist zwar präsent, aber zunächst nicht unmittelbar gefährlich für die Familie.
Doch bald kommt die Nachricht, dass Danylos Vater gefallen ist. Der Mutter geht es daraufhin noch schlechter. Nachts schlafen Mutter und Sohn im Flur auf einer Matratze, um möglichst rasch aus der Wohnung zu kommen, wenn es nötig sein sollte – was sehr bald der Fall ist. Die Wohnung wird bombardiert und eine Wand abgerissen. Danylos Freund Mykyta, der in der Nähe wohnt, hat bei dem Bombardement einen Teil seines Beines verloren. Die Großeltern nehmen Danylo und seine Mutter auf; sie haben einen Garten, bauen einige Lebensmittel selbst an und halten Hühner. Eine ältere Dame, die ein kleines Geschäft betreibt, ist bei den Kindern sehr beliebt, da sie ihnen immer wieder Süßigkeiten zusteckt.
Auch in der Schule ist der Krieg mittlerweile präsent: Die Lehrerin stellt Koffer für Kinder auf, die weggezogen sind, und zündet Kerzen für diejenigen an, die umgekommen sind.
Irgendwann wird die Situation auch bei den Großeltern zu gefährlich. Und so packt die Familie das Nötigste zusammen (einschließlich Danylos Puppe Tilly) und flieht durch ein Inferno von Ruinen, Trümmern, Tierkadavern und Menschenleichen nach Westen. Danylo, seine Mutter und die Großeltern erreichen die polnische Grenze und fühlen sich erleichtert.
Das Erzählgeschehen umfasst einen Zeitraum von etwas über einem Jahr. Ereignisse und Vorgänge werden zwar in ihrer chronologischen Abfolge erzählt, sind jedoch immer wieder durch Wahrnehmungen, kleine Alltagsminiaturen, längere Berichte und Reflexionen unterbrochen. Gelegentlich wird an vorher Erzähltes angeknüpft und dieses weitergeführt.
Die Erzählweise ist gekonnt unemotional. Schreckliches wird auf distanziert-sachliche Weise vorgetragen und provoziert so Reaktionen beim Leser.
Solange sie noch im Land sind, zeigen alle Personen der Handlung, am Ende auch Danylos Mutter, einen ungebrochenen Überlebenswillen. Gerade in dieser Situation, so die Botschaft des Autors, muss man „etwas machen“: Die Großeltern teilen der Mutter Aufgaben zu, um deren Trance zu überwinden – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Dem Jungen erteilt seine Großmutter den Rat, sich zusammen mit seinem Freund, der nicht mehr Fußball spielen kann, etwas auszudenken, was beide beschäftigt. Darüber lässt der Autor Danylo reflektieren:
Opa zum Beispiel geht gerne in den Garten zu seinen Hühnern, Oma kocht, Papa ist früher Angeln gegangen, Mama hatte eine Sportgruppe mit anderen Frauen. Dahin ist sie aber schon lange nicht mehr gegangen. Erst kam der Krieg, dann war Papa weg, ab diesem Zeitpunkt hatte sie keine Lust mehr. Mittlerweile ist auch die Sporthalle kaputt.
Als ruhender Pol erweist sich stets der Großvater: Er macht einfach weiter, besorgt, was nötig ist, und „ersetzt“ sogar einmal die Hühner, als sie bei einem Bombardement durch Knall und Druck tot umfallen.
Solange es die Familie in der Heimat noch aushält, resignieren auch die Kinder nicht, sondern entwickeln immer wieder neue Pläne: Danylo sammelt zwischen Häuserruinen und herumliegenden Trümmern bunte Scherben von zerbrochenen Flaschen und Teile von Fensterscheiben, um daraus ein Mosaik zu gestalten. Er fotografiert es, um es seiner Mutter, den Großeltern und dem Freund zu zeigen. Mykyta verfällt trotz seines amputierten Beines nicht etwa in Verzweiflung, sondern hat sogar noch eine weiter reichende Idee, nämlich einen Plan für ein „Unfall-Erschrecken-Landkartengesichterprojekt“. Als sich anlässlich eines kleinen, aber nicht ganz ungefährlichen Unfalls mehrere Erwachsene erschreckt über ihn beugen, erinnern Mykyta die Falten in ihren Gesichtern an Landkarten. Er fasst den Plan, Gesichter von verschiedenen Menschen zu fotografieren. Gemeinsam mit Danylo bearbeitet er die Bilder, um damit eine Ausstellung in der Schule zu gestalten. Schritt für Schritt wird das Projekt von der Idee bis zur Präsentation beschrieben. Ein ehemaliger Kunstlehrer unterstützt die Kinder; sie sind erfolgreich, bekommen viel Zuspruch und sogar einen Preis.
Man mag überlegen, ob Reflexionsniveau und Ausdrucksweise immer authentisch für ein 10-jähriges Kind sind. Meist ist dies der Fall, denn eine große Rolle spielt das Alltagsleben des Kindes, die Schule, die vertrauensvolle Beziehung zu den Großeltern, der Garten und die Hühner. Danylo versteht die Trauer der Mutter auf seine Weise: Als der Großvater ihm erklärt, sie müsste „erschrecken“, um aus der Lethargie herauszukommen, „erschreckt“ Danylo sie, wie er das eben kennt. Gemeint ist jedoch ein lebensbedrohender Schock, der sich dann, kurz bevor die Familie ihre Heimat verlässt, tatsächlich auch einstellt,
Ukrainekind ist kein Sachbuch, sondern ein fiktionaler Text. Damit ist er jedoch alles andere als unverbindlich. Vielmehr nutzt er die Chancen von Literatur ähnlich einem historischen Roman. Ein Beispiel:
Unter der Überschrift „Schmetterlinge“ wird erzählt, dass die Kinder bunte Flugkörper in großer Zahl langsam vom Himmel zur Erde schweben sehen. Sie sind fasziniert, halten sie für Spielzeug und laufen ihnen entgegen, Mykytas Vater kann Danylo am Arm packen und ihn herumreißen, so dass er vor Schmerz laut aufschreit und ärgerlich wird. Doch andere Kinder erreicht er nicht, und die Faszination zu zerstören gelingt ihm zunächst auch nicht. Als Danylo später die blauen Flecken an seinen Armen entdeckt, die die starke Hand des Erwachsenen verursacht haben, lässt ihn der Erzähler dankbar sein, denn ein Mädchen, das für den schmerzhaften Griff des Mannes zu weit entfernt war, hat keine Arme mehr.
Der Autor bezieht sich hier auf real existierende sogenannte Schmetterlingsbomben, die in Kriegsgeschehnissen im 20. und 21. Jahrhundert eingesetzt wurden. Die Flugkörper haben eine Größe von 12 cm mal 6 cm, sehen wie Spielzeug aus, können aus der Luft abgeworfen werden und detonieren beim Kontakt mit dem Boden oder mit Personen. Es gibt Berichte, dass solche Bomben in der Ukraine verwendet wurden, allerdings beschuldigt jede Seite die andere, damit begonnen zu haben. Man mag die Episode im Ukrainekind als Anlass für eine Fiktionalitätsdebatte nehmen. Doch wichtig ist hier nicht, ob das erzählte Geschehen tatsächlich und genau so stattgefunden hat. Wichtig sind der Kriegsterror und seine Wirkung auf die Kinder.
Den erzählten Begebenheiten und Reflexionen des eigentlichen Textes stellt der Autor einen Prolog voran, der mit dem Datum des 24.2.2022 beginnt. Warnungen vor einem Angriff, meint er, seien nicht ernst genommen worden. Er attestiert Präsident Selenskyj eine enorme Entwicklung und kritisiert Kanzler Scholz` vorsichtige Haltung nicht. Das Buch habe er, wie er meint, für Kinder geschrieben, denen der Krieg die Kindheit genommen hat. Denn von Heimat, Geborgenheit und Zukunftsperspektive ist nichts mehr geblieben. Es ist, so kann man das sehen, ein bleibender Erinnerungstext jenseits von flüchtigen Alltagsnachrichten.
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