Krieg, Frieden, Aufklärung und Emotionalisierung

Lessings Literaturtheorien, Nathan der Weise und Sigmund Freuds Pazifismus

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Krieg und Emotionen

Eine schon immer bemerkenswerte Herausforderung zur Reflexion über Emotionen waren und sind Kriege.[1] Nicht zuerst und nicht zuletzt Gotthold Ephraim Lessing und Sigmund Freud lieferten dafür exemplarische Beispiele, die auch noch im 21. Jahrhundert relevant sind.

Am 9. September 2009 war in einem der vielen Zeitungsberichte über die Debatte im Bundestag zum deutschen Afghanistan-Einsatz und über die Regierungserklärung der Kanzlerin Folgendes zu lesen:

Bundeskanzlerin Merkel (CDU) und Außenminister Steinmeier (SPD) haben in einer Bundestagsdebatte am Dienstag im Bundestag ihr Bedauern über mögliche unschuldige Opfer durch einen von der Bundeswehr in Afghanistan angeforderten Luftschlag ausgedrückt, aber „Vorverurteilungen“ durch das In- und Ausland zurückgewiesen. „Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel“, sagte die Bundeskanzlerin unter dem Beifall des ganzen Hauses in einer Regierungserklärung.[2]

Der offensichtlich in hohem Maße konsensfähige Satz enthält eine Implikation, die man in der gängigen Rede von ‚unschuldigen Opfern‘ des Krieges – gemeint sind damit in der Regel Zivilisten und unter ihnen besonders Kinder und Frauen – auch heute noch meist selbstverständlich und unwidersprochen antrifft. Die Rede von ‚unschuldigen‘ Kriegsopfern evoziert Empörung über den Krieg oder bestimmte Arten der Kriegsführung. Aber sie enthält eine fragwürdige Nebenbedeutung, weil da eine Klasse von ‚schuldigen‘ Menschen mitgedacht wird, deren gewaltsamen Tod man nicht bedauern muss, weil er zum Krieg nun einmal dazugehört. ‚Schuldige‘ Menschen verdienen nach dieser Rhetorik, wenn sie gewaltsam getötet werden, kein Mitleid, und die Empörung über den Krieg darf sich angesichts ihres Todes in Grenzen halten oder sogar der Genugtuung weichen. Je ‚schuldiger‘ die Getöteten, desto gerechtfertigter erscheint das Töten. Diese Affektlogik, die jeder Rechtfertigung eines Krieges irgendwie zugrunde liegt, wird auch noch von der kriegskritischen Rede über die ‚unschuldigen‘ Opfer von Gewalt bestätigt.

Emotionen, so zeigt das zitierte Beispiel – und ein Wissen darüber ist antiken und psychoanalytischen Emotionstheorien gemeinsam –, sind abhängig von kognitiven Einschätzungen und narrativen Repräsentationen jener Szenarien und der an ihnen beteiligten Akteure, auf die sie sich beziehen. Die emotionalen Reaktionsmuster sind dabei tief in uns verankert und folgen weitgehend automatisierten, reflexartig verlaufenden Prozessen. Einige davon werden in unseren Phantasien stimuliert, nicht zuletzt durch Literatur und Kunst, seit Jahrhunderten immer wieder durchgespielt, eingeübt, modifiziert, reflektiert und gelegentlich auch auf dann allerdings auffällige, wenn nicht anstößige Art unterlaufen.

Als Prinzipien der ,poetischen Gerechtigkeit‘, nach denen etwa die Bösen sterben müssen, weil sie nichts anderes verdienen, haben sie bis heute ihre Wirksamkeit nicht verloren. Schon Aristoteles, auf den sich sowohl Freud als auch der von Freud geschätzte Lessing wiederholt beriefen, bezog sich auf sie und integrierte sie in seine komplexe Poetik der Tragödie. Diese Poetik formuliert bekanntlich mit einer viele Jahrhunderte überdauernden Plausibilität die Bedingungen, unter denen die Präsentation von Unglücks- und Todesszenarien dazu geeignet ist, beim Zuschauer Mitleid hervorzurufen, sowie diejenigen, unter denen dies nicht der Fall ist. Demnach darf der Tragödiendichter nicht zeigen, wie „der ganz und gar Verkommene vom Glück ins Unglück stürzt“; denn Mitleid „empfinden wir nur mit dem, der es nicht verdient hat, im Unglück zu sein“.[3]

In ihrem 2009 erschienenen Band Krieg und Affekt geht Judith Butler, Inhaberin des Lehrstuhls für Rhetorik und Komparatistik an der University of California, der Frage nach, wie Texte und Bilder über gegenwärtiges Kriegsgeschehen Affekte regulieren und uns nahelegen, „um welche Leben wir trauern und um welche nicht“[4]. Der Krieg, so Butler weiter, „lässt sich als ein Geschehen verstehen, das Bevölkerungen aufteilt in einerseits diejenigen, um die getrauert werden kann, und andererseits diejenigen, um die nicht getrauert werden kann.“[5] Auch Butlers Beobachtungen und Überlegungen dazu beziehen sich gelegentlich auf die Antike, namentlich auf das Antigone auferlegte Verbot öffentlicher Trauer um ihren Bruder, und auch auf die Psychoanalyse. Das ist nicht weiter verwunderlich, weil die Psychoanalyse der antiken Literatur und Philosophie nicht zuletzt durch einen Interessenschwerpunkt verbunden ist: die Interessen am potentiell therapiebedürftigen Umgang des Subjekts mit Emotionen, mit den Emotionen anderer und vor allem mit den eigenen. Von ihnen hängt nach antiken Vorstellungen das Glück, nach psychoanalytischen die psychische Gesundheit des Menschen ab.

Bevorzugt um Krieg geht es dabei in antiken Zeugnissen und psychoanalytischen Schriften in mehrfacher Hinsicht: in einem ganz konkreten Sinn sowie in einer metaphorischen Bildlichkeit, die die Seele als Kriegsschauplatz von Machtkämpfen im Inneren des Subjekts konfiguriert. Freuds Essays, die 1915 unter dem Titel Zeitgemäßes über Krieg und Tod erschienen, enthalten auch explizit und implizit etliche wichtige Bestandteile psychoanalytischer Emotionskonzepte und beziehen sich in diesem Zusammenhang wiederholt auf die Antike. Freuds Verehrung Lessings, mit der sich Liliane Weissberg in ihrem 2016 erschienenen Aufsatz Freuds Ringe[6] ausführlich befasst hat, ist damit eng verbunden:

Wie in vielen jüdischen Familien seiner Zeit wurde auch in der freudschen Familie Lessing gelesen und als Autor sehr geschätzt; Freuds jüngerer Bruder erhielt sogar den Namen Alexander Gotthold Ephraim. Und obwohl Freud vor allem seinen Vater verehrte und selbst der Vater von drei Söhnen wurde, war ihm sicherlich auch der Mädchenname seiner Mutter mehr als vertraut; sie hieß Nathansohn. Freud war also geradezu prädestiniert dazu, Lessing zu rezipieren. Seine eigene Identifikation mit der Figur des Nathan war dabei vielleicht nur eine natürliche Konsequenz.[7]

Lessings bzw. Nathans Ringparabel hatte hier eine zentrale Bedeutung. „Ein Ring“, so erläutert Weissberg, „hat aufgrund seiner Kreisform weder Anfang noch Ende und wurde daher schon früh zu einem Symbol der Unendlichkeit. Liebende schenken einander Ringe als Zeichen ihrer immerwährenden Liebe und Treue, etwa bei einer Verlobung, einer Hochzeit oder einfach als Freundschaftsring.“ Weissberg erinnert dabei an Freuds realen Umgang mit Ringen in seiner Beziehung zu seiner Geliebten, heimlichen Verlobten und späteren Frau Martha Bernays sowie in der Gruppe von Freud nahestehenden Psychoanalytikern, die 1912/13 ein „Geheimes Komitee“ bildeten. Freud nahm „Anfang 1913 einen von ihm getragenen Ring mit einer in Silber gefassten antiken römischen Gemme. Er ließ weitere Ringe mit antiken Gemmen aus seiner Sammlung anfertigen und überreichte sie den Mitgliedern des Komitees, die gleichzeitig die Psychoanalyse in den drei Städten Wien, Budapest und Berlin vertraten“.[8]

Für Lessing hatten die Ringe in seiner Parabel und in seinem zur Zeit des Dritten, des kriegerischen Kreuzzuges in Jerusalem spielenden Drama eine ähnliche Gemeinschaft und Frieden stiftende Funktion wie die von ihm postulierte Literatur selbst. Und für Freud eine ähnliche Funktion wie die Psychoanalyse. Die kollektive Rückkehr zu archaischen Umgangsformen mit den eigenen Affekten, nicht in der Phantasie, in Nacht- oder Tagträumen, sondern in der Realität, hat Sigmund Freud angesichts des Ersten Weltkrieges zutiefst verstört. In seinen Kriegsessays bekundete er so vehement und entschieden wie sonst in kaum einer anderen Veröffentlichung sein Unbehagen an Erscheinungsformen der Kulturlosigkeit. Seine Äußerungen waren politisch so anstößig, dass ihr Nachdruck in literarischen Zeitschriften von der Kriegszensur verhindert wurde.

Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus, und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte […]. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wiederanknüpfung derselben für lange Zeit unmöglich machen wird. Er brachte auch das kaum begreifliche Phänomen zum Vorscheine, daß die Kulturvölker einander so wenig kennen und verstehen, daß sich das eine mit Haß und Abscheu gegen das andere wenden kann.[9]

Freuds Interesse am Krieg ist eng gekoppelt mit dem am Traum, an Neurosen, am ‚Seelenleben der Wilden‘ (Totem und Tabu), an kollektiven, durch Mythen, Literatur und Kunst freigesetzten Phantasien und an allen Zuständen, in denen die Kontrolle des Bewusstseins und die im Prozess der Zivilisation (Freud bevorzugt die Rede vom ‚Kulturprozess‘) mühsam angeeignete Modellierung der Affekte, vor allem aggressiver und destruktiver (Wut, Erbitterung, Hass, Abscheu), weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Der Krieg, erklärt er,

streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen.[10]

Wie andere Konfrontationen mit dem Unbewussten werden die mit dem Krieg als episodisch wiederkehrender Ausnahmezustand und dabei gelegentlich auch als Reise verbildlicht. Ausdrücklich vergleicht Freud den Krieg mit Zuständen des Schlafes oder der Geisteskrankheit und führt sie als Belege für die Plastizität der seelischen Entwicklung an. Höhere Entwicklungsstufen können verlassen werden, primitive wiederhergestellt werden.

Das Wesen der Geisteskrankheit besteht in der Rückkehr zu früheren Zuständen des Affektlebens und der Funktionen. Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Plastizität des Seelenlebens gibt der Schlafzustand, den wir allnächtlich anstreben. Seitdem wir auch tolle und verworrene Träume zu übersetzen verstehen, wissen wir, daß wir mit jedem Einschlafen unsere mühsam erworbene Sittlichkeit wie ein Gewand von uns werfen – um es am Morgen wieder anzutun.[11]

Ähnlich verhält es sich mit dem Krieg:

Wenn das wilde Ringen dieses Krieges seine Entscheidung gefunden hat, wird jeder der siegreichen Kämpfer froh in sein Heim zurückkehren, zu seinem Weibe und Kindern, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die Feinde, die er im Nahkampfe oder durch die fernwirkende Waffe getötet hat.[12]

Der Krieg ist demnach eine Regression in archaische Regionen unseres Unbewussten, die sich der Psychoanalytiker zunutze macht, um etwas über dieses Unbewusste zu erfahren und dessen Macht dadurch in Schranken zu halten.

Der Krieg liefert in Freuds Perspektive vielfältiges Anschauungsmaterial für die kollektive Wiederbelebung alter, nur scheinbar überwundener Entwicklungsstufen des Gefühlslebens. Der Krieg zeigt, dass diese nicht verschwunden, sondern nach wie vor präsent, in Friedenszeiten dagegen nur verdrängt oder auf fragile Weise kultiviert sind.

Wie Lessing in seinen programmatischen Reflexionen zur Tragödientheorie griff Freud auch in seinen kriegskritischen Veröffentlichungen immer wieder auf antike Auseinandersetzungen mit Emotionen zurück. In seinem späteren Briefwechsel mit Albert Einstein aus dem Jahr 1932, veröffentlicht unter dem Titel Warum Krieg?, in dem sich beide als „Pazifisten“ bezeichnen, kommt Freud darauf zurück und beschreibt erneut das antike Griechenland als eine Mischung von archaischen und kultivierten Bestandteilen:

Die panhellenische Idee z. B., das Bewußtsein, daß man etwas Besseres sei als die umwohnenden Barbaren, das in den Amphiktyonien, den Orakeln und Festspielen so kräftigen Ausdruck fand, war stark genug, um die Sitten der Kriegsführung unter Griechen zu mildern, aber selbstverständlich nicht imstande, kriegerische Streitigkeiten zwischen den Partikeln des Griechenvolkes zu verhüten, ja nicht einmal, um eine Stadt oder einen Städtebund abzuhalten, sich zum Schaden eines Rivalen mit dem Perserfeind zu verbünden.[13]

In Freuds Rekursen auf die Antike überwiegt jedoch die Berufung auf philosophische Theorieelemente oder literarische Texte, die dazu geeignet sind, die eigenen Theorien zu bestätigen und zu autorisieren. In dem Brief an Einstein stehen die Sätze:

Darf ich Ihnen aus diesem Anlaß ein Stück der Trieblehre vortragen, zu der wir in der Psychoanalyse nach vielem Tasten und Schwanken gekommen sind? Wir nehmen an, daß die Triebe des Menschen nur von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen – wir heißen sie erotische, ganz im Sinne des Eros im Symposion Platos, oder sexuelle mit bewußter Überdehnung des populären Begriffs von Sexualität –, und andere, die zerstören und töten wollen; wir fassen diese als Aggressionstrieb oder Destruktionstrieb zusammen.[14]

Eine kohärente, einheitliche Emotionstheorie und eine streng definierte Begrifflichkeit im Umgang mit Wörtern wie Pathos, Affekt, Gefühl oder Emotion enthält weder die antike Philosophie noch die Psychoanalyse Freuds. Es liegen hier wie dort Bestandteile von Emotionstheorien und schwache Definitionen der verwendeten Begriffe vor. Zur Explikation bestimmter Begriffe werden, wie Christof Rapp hervorgehoben hat, Definitionen immer wieder durch Beispiele ersetzt.[15] So schreibt etwa Aristoteles in der Nikomachischen Ethik: „Als Affekte bezeichnen wir: Begierde, Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt alles, was mit Lust oder Unlust verbunden ist“.[16]

Emotionen in Literatur und Wissenschaften um und nach 1900

Vor mehr als einem Jahrhundert expandierte das Interesse an Emotionen in den Künsten und Wissenschaften in auffälliger Weise, u.a. in der Psychoanalyse. Der Titel von Wilhelm Diltheys Schrift Das Erlebnis und die Dichtung (1905) bezieht sich auf Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin) und steht dabei zugleich dem Selbstverständnis avancierter Kunst- und Literaturtheorien in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nahe.[17]

Die Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Wilhelm Dilthey weist die gleiche lebensphilosophische Prägung auf wie die gesamte literarische Moderne. Diltheys Erlebnisbegriff hatte eine Bedeutung, die auf Transindividuelles verwies, ohne das literarische Kommunikation nicht möglich ist. Dominierte später in der Literaturwissenschaft die Vorstellung, dass ein der Sprachgemeinschaft gemeinsamer Code, ein den Sprechern und Hörern gemeinsames Inventar von Zeichen und von Regeln ihrer Verknüpfung, die sprachliche und literarische Verständigung ermöglicht, so schöpfen nach literaturtheoretischen Vorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Erleben des Dichters wie das Nacherleben des Lesers aus dem alle Subjekte gemeinsam durchströmenden Fluss des Lebens. Kommunikation findet demnach zwischen dem mehr oder weniger bewussten Erleben des Autors und dem des Rezipienten statt. Ausgetauscht werden nicht primär Bedeutungen, sondern Emotionen. Das Verstehen literarischer Werke eröffnet nach Dilthey einen Zugang zum „Geheimnis des Lebens“. „Erleben, Ausdruck und Verstehen“ sind nach Dilthey die zentralen Komponenten literarischer Kommunikation, wobei Verstehen eng mit ‚Nacherleben‘ assoziiert ist.[18]

Die von Dilthey artikulierten Vorstellungen waren zu seiner Zeit längst weit verbreitet. Um und nach 1900 zirkulierten in verschiedenen Disziplinen ähnliche Versuche, in Opposition zu dominanten Theorien und Methoden der Naturwissenschaft Formen der Erkenntnis von Wirklichkeit zu etablieren, die unter anderem mit dem Begriff des Erlebens belegt werden. Eng assoziiert damit waren Begriffe wie ‚Einfühlung‘, ‚Verstehen‘, ‚Intuition‘ oder ‚Empfindung‘. Erkenntnistheorie wird hier als eine Erlebnistheorie oder als eine Theorie der Einfühlung und des Verstehens zu formulieren versucht.

Seit den ‚neusachlichen‘ 1920er Jahren gerieten der Begriff ‚Erlebnis‘ und die mit ihm bezeichneten Formen der emotionalen Wahrnehmung in avancierten Kunstprogrammen und kunstwissenschaftlichen Theorien nachhaltig in Misskredit, konnten sich aber im Umkreis geisteswissenschaftlicher Traditionen bis in die 1960er Jahre hinein behaupten. Während ‚Erlebnis‘ in den Kunstwissenschaften danach über mehrere Jahrzehnte hinweg zumeist allenfalls als Phänomen eines unprofessionellen Umgangs mit Kunst akzeptiert, doch als bloß intuitive und methodisch unkontrollierbare Erkenntnisleistung aus dem Terrain wissenschaftlicher Rationalität ausgeschlossen wurde, war jener Neologismus, mit dem der amerikanische Psychologe E.B. Titchener das deutsche Wort 1909 ins Englische übertrug (‚empathy‘), in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften fest etabliert. Der ‚emotional turn‘ in der zuvor auf kognitive Leistungen des Bewusstseins konzentrierten Psychologie der 1980er Jahre, der seit den späten 1990er Jahren auch die Kulturwissenschaften erfasste, hat, u.a. mit dem Konzept ‚Emotionaler Intelligenz‘, das der Tradition von Lessings Mitleidsästhetik und einer aufgeklärten Empfindsamkeit nahesteht, das Prestige von Empathie wieder gefördert und damit dem Begriff wie dem Phänomen der Emotionalisierung neue Möglichkeiten zu einer partiellen Rehabilitation in den Kunstwissenschaften eröffnet. Die aufsehenerregende Entdeckung von Spiegelneuronen in den 1990er Jahren, die schon bei bloßer Beobachtung von Verhaltensweisen anderer ähnliche Aktivitäten zeigen wie ‚normale‘ Nervenzellen bei entsprechenden eigenen Verhaltensweisen, verwies auf die neuronale Basis von Empathie und verschaffte ihrer wissenschaftlichen Erforschung zusätzliche Dignität. Emotionen  sind inzwischen als Bestandteile künstlerischer Kommunikation zum Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung geworden. Ob und wie psychoanalytische Kunst- und Literaturinterpretationen dabei am Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis in reflektierter Weise beteiligt sein können, bleibt umstritten.

Emotionsforschung in der Gegenwart und ihre Verbundenheit mit Lessings Aufklärung

Die seit gut zwei Jahrzehnten interdisziplinär forcierte Emotionsforschung, an der sich auch die Literaturwissenschaft intensiv beteiligt, entspricht einer Einsicht, die von der Wissenschaft, die sich vorher in den Zustand einer künstlichen Gefühlskälte, einer rationalen Anästhesie zu begeben versuchte, vernachlässigt wurde. Dieser blieben wesentliche Dimensionen von Kunst und Literatur weitgehend verschlossen.

Mit paradox anmutenden Titelformulierungen wie Die Rationalität des Gefühls (Ronald de Sousa)[19] oder Emotionale Intelligenz (Daniel Goleman)[20] wurden herkömmliche Entgegensetzungen von Rationalität und Gefühl in den 1990er Jahren gerne dekonstruiert.[21] 1998 veröffentlichte die Philosophin und Psychotherapeutin Carola Meier-Seethaler ihr luzides Plädoyer für die emotionale Vernunft.[22] Es scheint sich mittlerweile ein wissenschaftlicher Konsens herauszubilden, dass, so formuliert es der Psychologe Dietrich Dörner in seinem Buch Bauplan für eine Seele vorsichtig, „Gefühle irgendeine Funktion für den Intellekt haben und daß sich beide irgendwie ergänzen.“ Obwohl sie Panik und Hilflosigkeit auslösen können, seien sie „im großen und ganzen sinnvoll und steigern die Effektivität des [psychischen] Systems.“[23]

Das von Goleman popularisierte Programm der Erziehung des Menschen zur „emotionalen Intelligenz“ hat unübersehbare literarische und literaturtheoretische Traditionen. Historisch gesehen, ist dieses Programm eine Rückkehr ins 18. Jahrhundert, nämlich zu jener empfindsam erweiterten, gefühlskultivierten Form der Aufklärung, die in Lessing einen ihrer hervorragendsten Repräsentanten hatte. Nach Lessing war vornehmlich die Tragödie dazu geeignet, Empathie einzuüben. In der Terminologie Golemans gesprochen, schrieb Lessing der Kunst und Literatur überhaupt den hohen Rang zu, „emotionale Intelligenz“ auszubilden. Und Lessings Nathan der Weise setzte alle Gefühle so weit in ihr Recht, als sie sich beherrschen lassen und dem sozialen Zusammenleben förderlich sind. Neben dem Plädoyer zur Toleranz gehört auch das zur weisen Botschaft, die Lessings Nathan verbreitete.

Ein Versuch, den Affinitäten, aber auch den Differenzen zwischen Lessings literaturprogrammatischen Konzepten und literarischen Praktiken auf der einen Seite und den gegenwärtigen Positionen der Emotionsforschung, die auch von der Psychoanalyse inspiriert wurden, auf der anderen Seite genauer nachzugehen, kann hier nur in Ansätzen erfolgen. Daniel Golemans 1996 in deutscher Übersetzung erschienener Sachbuch-Bestseller Emotionale Intelligenz[24] versteht sich als eine Art wissenschaftsjournalistische Bilanz des erst seit den achtziger Jahren vollzogenen Aufschwungs in der wissenschaftlichen Erforschung von Emotionen. Die Art, wie Goleman sein ethisches und zugleich psychologisches Programm zusammenfasst, liest sich wie eine Umschreibung von Positionen, die das 18. Jahrhundert immer wieder verfochten hat:

Vieles spricht dafür, daß ethische Grundhaltungen im Leben auf emotionalen Fähigkeiten beruhen. Das Medium der Emotionen sind Impulse, und der Keim aller Impulse ist ein Gefühl, das sich unkontrolliert in die Tat umsetzt. Wer seinen Impulsen ausgeliefert ist – wer keine Selbstbeherrschung kennt –, leidet an einem emotionalen Defizit: die Fähigkeit, Impulse zu unterdrücken, ist die Grundlage von Wille und Charakter. Auf der anderen Seite beruht der Altruismus auf Empathie, auf der Fähigkeit, die Gefühlsregungen anderer zu erkennen; wo das Gespür für die Not oder Verzweiflung eines anderen fehlt, gibt es keine Fürsorge. Und wenn in unserer Zeit zwei moralische Haltungen nötig sind, dann genau diese: Selbstbeherrschung und Mitgefühl.[25]

Dass Literatur in der Tat dazu geeignet sein könnte, emotionale Kompetenzen zu fördern, war eine an Schulen und Universitäten noch wenig verbreitete Einsicht. Um zu durchschauen, wie sie das zu leisten vermag, sind allerdings Literaturwissenschaft und Psychologie gefordert zu kooperieren. Das setzt voraus, dass sich Literaturwissenschaft von den Symptomen der ‚Alexithymie‘ befreit, die ihr eigen sind. ‚Lexis‘ heißt Wort, ‚thymos‘ Gefühl. ‚Alexithymiker‘ finden für ihre Gefühle keine Worte. Sie sind, so Goleman, „außerstande, ihre Gefühle genau zu erkennen und vor allem, sie in Worte zu fassen. Was ihnen völlig fehlt, ist die grundlegende Fähigkeit der emotionalen Intelligenz, die Selbstwahrnehmung – zu wissen, was man empfindet, wenn Emotionen einen aufwühlen.“[26]

Trauer, Mitleid und Frieden

Lessings Brief an seinen Freund Friedrich Nicolai vom November 1756 über das Trauerspiel[27] ist eines der bekanntesten Beispiele über Versuche, sich und andere von Symptomen der ›Alexithymie‹ zu befreien. Der Brief mit der Anrede „Mein liebster Freund“, dem nach dieser Anrede am Anfang des zweiten Absatzes vorgeworfen wird, ihn zu verhöhnen („Erstlich hunzen Sie mich aus, eine ganze Seite lang!“[28]), ist (nicht nur hier) selbst emotional auf komische Weise widersprüchlich, geht dann aber relativ differenziert auf emotionalisierende Möglichkeiten des Trauerspiels und ihre Funktionen ein. Unterschieden wird zunächst zwischen dem Zweck von Trauerspielen („Das Trauerspiel soll bessern[29]) und den für sie konstitutiven Mitteln, mit denen sie den Zweck erreichen. Die These „Die Tragödie soll Leidenschaften erregen[30] hält Lessing für angemessener, weil sich aus ihr der Zweck der Besserung erkennen lasse; aber auch die Erregung von Leidenschaften erklärt er als noch zu undifferenziert:

Das meiste wird darauf ankommen: was das Trauerspiel für Leidenschaften erregt. In seinen Personen kann es alle mögliche Leidenschaften wirken lassen, die sich zu der Würde des Stoffes schicken. Aber werden auch zugleich alle diese Leidenschaften in den Zuschauern rege? Wird er freudig? wird er verliebt? wird er zornig? wird er rachsüchtig? Ich frage nicht, ob ihn der Poet so weit bringt, daß er diese Leidenschaften in der spielenden Person billiget, sondern ob er ihn so weit bringt, daß er diese Leidenschaften selbst fühlt, und nicht bloß fühlt, ein anderer fühle sie?

Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden. Sie werden sagen: erweckt es nicht auch Schrecken? erweckt es nicht auch Bewunderung? Schrecken und Bewunderung sind keine Leidenschaften, nach meinem Verstande. Was denn? […]

Das Schrecken in der Tragödie ist weiter nichts als die plötzliche Überraschung des Mitleides.[31]

Und die Bewunderung? Dazu Lessing:

Der Held ist unglücklich, aber er ist über sein Unglück so weit erhaben, er ist selbst so stolz darauf, daß es auch in meinen Gedanken die schreckliche Seite zu verlieren anfängt, daß ich ihn mehr beneiden, als bedauern möchte.

Die Staffeln sind also diese: Schrecken, Mitleid, Bewunderung. Die Leiter aber heißt: Mitleid; und Schrecken und Bewunderung sind nichts als die ersten Sprossen, der Anfang und das Ende des Mitleids. […] Das Schrecken braucht der Dichter zur Ankündigung des Mitleids, und Bewunderung gleichsam zum Ruhepunkte desselben. Der Weg zum Mitleid wird dem Zuhörer zu lang, wenn ihn nicht gleich der erste Schreck aufmerksam macht, und das Mitleiden nützt sich ab, wenn es sich nicht in der Bewunderung erholen kann. […] Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß.[32]

Der Zweck dieser Art von Emotionalisierung wird dann durch den bekannten Satz bestimmt:

Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.[33]

Lessings letztes Drama Nathan der Weise ist zwar keine Tragödie, aber manche Reflexionen Lessings zur literarischen Emotionalisierung durch die Tragödie tangieren es trotzdem. Zwei für literarische Emotionalisierungen generell zentrale Motivbereiche spielen im Nathan eine wichtige Rolle: Liebe und Tod.

Auch darüber ist in der Emotionsforschung der Gegenwart viel geschrieben worden. Zu den von der Literaturwissenschaft derzeit viel beachteten soziologischen Emotions- und Liebesforschern gehört die israelische Soziologin Eva Illouz, deren Buch Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen 2018 in deutscher Übersetzung erschien.[34] Liebe stand schon im Zentrum ihrer früheren Bücher Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung (2012) oder Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus (2007).[35] Zu den beliebtesten narrativen Mustern in literarischen Liebesgeschichten, die meist mit Glücks- und Unglücksgefühlen bei den Figuren und auch bei der Rezeption gekoppelt sind, gehören Trennungs- und Wiedervereinigungsszenarien. Nicht nur in Lessings Nathan sind dabei unterschiedliche Arten der Liebe zu beachten: familiäre Liebe (Liebe zwischen Eltern und Kindern, Geschwisterliebe), erotische Liebe, religiöse oder allgemeine Nächstenliebe.

Schon der Beginn des Ersten Auftritts im Ersten Aufzug von Lessings Nathan und auch das darauf gleich Folgende enthalten solche Szenarien. Nathan kommt von einer längeren Reise zurück. Daja, die christliche Erzieherin von Nathans Adoptivtochter Recha, die als Frau eines Kreuzfahrers nach Jerusalem kam und nach dessen Tod dort blieb, war offensichtlich besorgt, dass ein Unglück Nathans Rückkehr hätte verhindern können, und begrüßt ihn nun erleichtert mit den Worten:

Er ist es! Nathan! – Gott sei ewig Dank,
Daß Ihr doch endlich einmal wiederkommt.[36]

Der von Rezipienten des Dramas mitempfundenen emotionalen Erleichterung Dajas folgt ein von Rezipienten ebenfalls mitempfundener Schrecken Nathans. Er hatte zwar vor seiner Rückkehr schon gehört, dass sein Haus gebrannt hatte, erfährt aber jetzt erst von Daja, dass seine geliebte Adoptivtochter Recha beinahe mit verbrannt wäre:

Doch Recha wär‘ bei einem Haare mit
Verbrannt.[37]

Nathan fürchtet Schlimmeres:

NATHAN.       Verbrannt? Wer? meine Recha? sie? –
Das hab ich nicht gehört. – Nun dann! So hätte
Ich keines Hauses mehr bedurft. – Verbrannt
Bei einem Haare! – Ha! sie ist es wohl!
Ist wirklich wohl verbrannt! – Sag nur heraus!
Heraus nur! – Töte mich: und martre mich
Nicht länger. – Ja, sie ist verbrannt.[38]

Recha ist tatsächlich nicht verbrannt, aber weiter traumatisiert. Daja berichtet:

Noch zittert ihr der Schreck durch jede Nerve.
Noch malet Feuer ihre Phantasie
Zu allem, was sie malt. Im Schlafe wacht,
Im Wachen schläft ihr Geist: bald weniger
Als Tier, bald mehr als Engel.

NATHAN.                         Armes Kind!
Was sind wir Menschen!

DAJA                            Diesen Morgen lag
Sie lange mit verschloßnem Aug‘, und war
Wie tot. Schnell fuhr sie auf, und rief: „Horch! horch!
Da kommen die Kamele meines Vaters!
Horch! seine sanfte Stimme selbst!“ – Indem
Brach sich ihr Auge wieder: und ihr Haupt,
Dem seines Armes Stütze sich entzog,
Stürzt auf das Küssen.[39]

„Armes Kind!“ bemitleidet Nathan seine geliebte Tochter. Die Erregung von Mitleid und das von Lessing postulierte Ziel, „unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, [zu] erweitern“[40], ist auch diesem Drama inhärent. Am Anfang des Zweiten Auftritts tritt Recha selbst auf, beklagt sich selbstmitleidig in Erinnerung an den beinahe tödlichen Hausbrand und erregt beim Vater ebenfalls wieder Mitleid:

Die arme Recha, die indes verbrannte!
Fast, fast verbrannte! Fast nur. Schaudert nicht!
Es ist ein garstiger Tod, verbrennen. Oh!

NATHAN.  Mein Kind! mein liebes Kind![41]

Vor dem Brand, so berichtet Recha, hat sie um das Leben ihres Vaters gebangt:

RECHA.                              Ihr mußtet über
Den Euphrat, Tigris, Jordan; über – wer
Weiß was für Wasser all? – Wie oft hab ich
Um Euch gezittert, eh das Feuer mir
So nahe kam![42]

Der Mitleid erregenden Angst vor dem Tod des geliebten Vaters folgt wie zu Beginn nun die Erleichterung. Der erlittenen und gefürchteten, bemitleidenswerten Trennung der Liebenden steht nun das freudige Wiedervereinigungsszenarium gegenüber:

[…]                                Doch Ihr seid
Ja nicht ertrunken: ich, ich bin ja nicht
Verbrannt. Wie wollen wir uns freun, und Gott,
Gott loben![43]

Aber hier kündigt sich bereits eine weitere emotionalisierende Liebesgeschichte an: die zwischen Recha und ihrem Retter, dem jungen Tempelherrn. Auf diese möchte ich hier nicht mehr näher eingehen, aber zumindest mit einigen Hinweisen an Mitleid erregende Vorgeschichten der eigentlichen Dramenhandlung erinnern, zu der auch die des Tempelherrn gehört.

Der christliche Tempelherr kam als Kreuzritter nach Palästina, wurde dort zusammen mit etlichen anderen Rittern während einer Schlacht gefangengenommen und sollte zusammen mit diesen getötet werden, wurde aber als einziger von dem moslemischen Sultan Saladin, dem Herrscher in Jerusalem, begnadigt, weil Saladin sich beim Anblick des jungen Mannes an seinen im Krieg gestorbenen Bruder erinnert fühlte. Saladins Bruderliebe rettet also dem Tempelherrn das Leben. Zu den traurigen Vorgeschichten gehören weiterhin: Der jüdische Nathan hatte, bevor er Recha als Adoptivkind aufnahm, seine Frau und seine sieben Söhne verloren. Sie wurden von Christen in einem Haus verbrannt. Recha, ein Kind christlicher Eltern, wurde von Nathan als Kleinkind adoptiert, nachdem ihre Mutter gestorben war und ihr Vater in den Krieg ziehen musste. Und Daja, ihre christliche Erzieherin, war die Frau eines Kreuzfahrers, der im Heer Kaiser Friedrichs nach Palästina aufgebrochen war und zusammen mit diesem in einem Fluss ertrank.

Um Liebe und Tod, Schmerz und Mitleid geht es schließlich aber auch in der Ringparabel, um die Liebe eines Vaters zu seinen drei Söhnen,

Die alle drei er […] gleich zu lieben
Sich nicht entbrechen konnte.

[…]

Es kam zum Sterben, und der gute Vater
Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei
Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort
Verlassen, so zu kränken. Was zu tun?
Er sendet in geheim zu einem Künstler,
Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes,
Zwei andere bestellt, und weder Kosten
Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich,
Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt
Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt,
Kann selbst der Vater seinen Musterring
Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft
Er seine Söhne, jeden insbesondre;
Gibt jedem insbesondre seinen Segen,
Und seinen Ring, und stirbt.[44]

Das Mitgefühl mit dem Vater in dieser von Nathan erzählten Parabel bewegt den Zuhörer Saladin schließlich zu den Worten: „Nathan, lieber Nathan! […] sei mein Freund.“[45] Und entsprechend endet das Drama dann mit der Regieanweisung: „Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang“.[46]

Was Nathan hier an Friedfertigkeit erreicht, hat manche Parallelen zu dem, was Freud später von der Psychoanalyse erhofft. Freuds Pazifismus zeigt sich auch in seiner theoretischen Modellierung des Seelenlebens. Dem scheint zunächst der Sachverhalt zu widersprechen, dass die Psyche von ihm immer wieder als Schauplatz eines Kampfes zwischen antagonistischen Mächten verbildlicht wird. Zusammen mit ‚Unterdrückung‘, ‚Widerstand‘ oder ‚Abwehr‘ gehört auch ‚Kampf‘ zum festen Inventar des psychoanalytischen Vokabulars. Freuds Gradiva-Analyse z.B. beschreibt das, was sich in den Protagonisten dieser Novelle von Wilhelm Jensen „abspielt“, als „Kampf zwischen der Macht der Erotik und den sie verdrängenden Kräften; was sich von diesem Kampf äußert, ist ein Wahn.“[47] Vom „Kampf mit dem mächtigen Triebe“ oder „Kampf gegen die Sinnlichkeit“ spricht Freud etwa in seiner 1908 erschienenen Schrift „Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität“.[48]

Psychoanalytische Beschreibungen des Seelenlebens sind Beschreibungen eines Kampfes – allerdings mit dem Ziel, ihn zu entschärfen, wenn nicht zu beenden. Das zeigt vielleicht am besten eine Passage aus den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Auch sie beschreibt die Seele als Schauplatz von Machtkämpfen, weist dem ‚Ich‘ jedoch die Aufgabe zu, in ihnen eine befriedende Funktion einzunehmen:

Ein Sprichwort warnt davor, gleichzeitig zwei Herren zu dienen. Das arme Ich hat es noch schwerer, es dient drei gestrengen Herren, ist bemüht, deren Ansprüche und Forderungen in Einklang zu bringen. Diese Ansprüche gehen immer auseinander, scheinen oft unvereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherren sind die Außenwelt, das Über-Ich und das Es. […] So vom Es getrieben, vom Über-Ich eingeengt, von der Realität zurückgestoßen, ringt das Ich um die Bewältigung seiner ökonomischen Aufgabe, die Harmonie unter den Kräften und Einflüssen herzustellen, die in ihm und auf es wirken, und wir verstehen, warum wir so oft den Ausruf nicht unterdrücken können: Das Leben ist nicht leicht! Wenn das Ich seine Schwäche einbekennen muß, bricht es in Angst aus, Realangst vor der Außenwelt, Gewissensangst vor dem Über-Ich, neurotische Angst vor der Stärke der Leidenschaften im Es.[49]

Das von Freud so beschriebene Ich leistet befriedende Kulturarbeit, es sucht nicht Konfrontationen, sondern Kompromissbildungen, ihm kommt die Aufgabe zu, Harmonie unter den Kräften, die im Seelenleben Dominanz erstreben, herzustellen. Das Ich ist in Freuds Theorie, was der Autor der Kriegsessays und des Briefes an Einstein erklärtermaßen selbst war: ein Pazifist – wie Lessings Nathan in den kriegerischen Konfrontationen zwischen drei Religionen.

Anmerkungen

Der Beitrag ist die etwas modifizierte Fassung eines im Juli 2022 in Freiburg gehaltenen Vortrags, der Ende 2022 in den von Dominic Angeloch und Ortrud Gutjahr herausgegebenen und  im Verlag Königshausen & Neumann gedruckten „Freiburger literaturpsychologische Gesprächen“, Bd. 41 (Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse), über Gotthold Ephraim Lessing erschienen ist. Wir danken den Herausgebern und dem Verlag für die Genehmigung zu einer zweiten, gekürzten Veröffentlichung in literaturkritik.de .

[1] Vgl. dazu Thomas Anz: Freunde und Feinde. Kulturtechniken der Sympathielenkung und ihre emotionalen Effekte in literarischen Kriegsdarstellungen, in: Søren R. Fauth/Kasper Green Krejberg/Jan Süselbeck (Hg.): Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 335–354.

[2] FAZ: Bundesregierung verwahrt sich gegen »Vorverurteilungen«. Debatte über Afghanistan-Einsatz im Bundestag/Karzai erstmals über 50 Prozent, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.9.2009, S. 1–2, hier S. 1.

[3] Aristoteles: Poetik, übers. und erl. v. Arbogast Schmitt, Berlin 2008, S. 17.

[4] Judith Butler: Krieg und Affekt, hg. v. Judith Mohrmann et al., Zürich 2009, S. 18. Vgl. auch Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.M. 2010.

[5] Butler, Krieg und Affekt, S. 18.

[6] Liliane Weissberg: Freuds Ringe, in: Achim Aurnhammer/Giulia Cantarutti/Friedrich Vollhardt (Hg.): Die drei Ringe. Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur, Berlin 2016, S. 247–266.

[7] Ebd., S. 251.

[8] Ebd., S. 260.

[9] Sigmund Freud (1915b): Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: GW, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1999, S. 323–355, hier S. 328f.

[10] Ebd., S. 354.

[11] Ebd., S. 337f.

[12] Ebd., S. 349.

[13] Sigmund Freud (1933b): Warum Krieg?, in: GW, Bd. 16, Frankfurt a.M. 1999, S. 11–27, hier S. 19.

[14] Ebd., S. 20.

[15] Christof Rapp: Aristoteles. Bausteine für eine Theorie der Emotionen, in: Hilge Landweer/Ursula Renz (Hg.): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin u.a. 2008, S. 45–68, hier S. 49.

[16] Aristoteles: Nikomachische Ethik, auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hg. v. Günther Bien, Hamburg 41985, S. 33.

[17] Vgl. dazu Thomas Anz: Gefühle in Literatur und Wissenschaft. „Einfühlung“ als (alter) neuer Weg der Erkenntnis?, in: Karl Ermert (Hg.): Und noch mal mit Gefühl … Die Rolle der Emotionen in Kultur und Kulturvermittlung, Wolfenbüttel 2011, S. 6–27.

[18] Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M. 1990, S. 263.

[19] Ronald de Sousa: Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt a.M. 1997.

[20] Daniel Goleman: Emotionale Intelligenz, Münche 1997 [1995].

[21] Vgl. dazu Thomas Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung, in: Karl Eibl/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen, Poetogenesis 5, Paderborn 2007. S. 207–239.

[22] Carola Meier-Seethaler: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1998.

[23] Dietrich Dörner: Bauplan für eine Seele, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 555f.

[24] Goleman, Emotionale Intelligenz.

[25] Ebd., S. 12f.

[26] Ebd., S. 72.

[27] Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel, in ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 4: Dramaturgische Schriften, bearbeitet von Karl Eibl, Darmstadt 1996 [1973], S. 153–227, hier Brief an Friedrich Nicolai „im Nov. 1756“, S. 159–165.

[28]   Ebd., S. 160.

[29]   Ebd.

[30]   Ebd., S. 161.

[31]   Ebd., S. 161f.

[32]   Ebd., S. 162f.

[33]   Ebd., S. 163.

[34]   Eva Illouz: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, Berlin 2018.

[35]   Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M./New York 2003; Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung, Berlin 2011. 

[36]  Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, in: ders.: Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 2: Trauerspiele, Nathan, Dramatische Fragmente, Kommentar: Gerd Hillen, Textredaktion: Maria Elisabeth Biener, Darmstadt 1996 [1971], S. 205–347, hier S. 207 (Erster Aufzug, V. 1–2). 

[37]  Ebd., S. 207 (Erster Aufzug, V. 19–20).

[38] Ebd., S. 207f. (Erster Aufzug, V. 21–27).

[39] Ebd., S. 209 (Erster Aufzug, V. 67–77). 

[40] Siehe oben das Zitat mit Anm. 32.

[41] Lessing, Nathan der Weise, S. 213 (Erster Aufzug, V. 175–178).

[42] Ebd. (Erster Aufzug, V. 179–182).

[43] Ebd. (Erster Aufzug, V. 179–182).

[44] Ebd. (Dritter Aufzug, V. 416–438).

[45] Ebd., S. 277 (Dritter Aufzug, V. 542 u. 445).

[46]  Ebd., S. 347 (Fünfter Aufzug).

[47]  Sigmund Freud (1907a): Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva, in: GW, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1999, S. 29–125, hier S. 75.

[48]  Sigmund Freud (1908d): Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität, in: GW, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1999, S. 141–167, hier S. 159.

[49] Sigmund Freud (1933a): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1999, hier S. 84f. (XXXI. Vorlesung).