Scharfer Blick auf das große Ganze, scharfer Blick auf die Einzelheiten
Florian Krobbs Buch „Realismus-Lektüren“ bietet einen sehr reichhaltigen Einstieg in diese literarische Epoche
Von Martin Lowsky
Dieses Werk, ein Sammelband, in dem der Germanistik-Professor Florian Krobb Studien der letzten zwanzig Jahre vereint, enthält interessante, scharfsinnige und auch spitzfindige Interpretationen. Auch wenn das Buch natürlicherweise nicht aus einem Guss ist, so bietet es doch eine grundsolide Einführung in die Literatur des Realismus – vor allem durch den einleitenden Beitrag. Die Epoche des Realismus, also die Jahre von ungefähr 1850 bis 1900, war die Zeit der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und der sozialen Neuerungen („die Bestände des Wissens vermehrten sich exponentiell“), was sich in der Belletristik abgebildet hat. Dabei fand eine Entwicklung statt; die frühen Realisten wollten die „Vielfalt und Unerbittlichkeit“ noch „bändigen“, während die späteren angesichts der Umwälzungen und neuen Unsicherheiten in „Resignation“ verfielen. Der Zugriff zu den Realitätspartikeln – oder so gesagt: „die Fähigkeit, Ressourcen zu finden und zu nutzen“ – bildete „das Kapital der Autor:innen“ dieser Zeit. Die eigentliche Kunst der Realisten lag darin, zu dieser Wirklichkeit samt ihren Einflüssen Stellung zu nehmen und sie zum Anlass für innertextliche Debatten zu sehen. Diese Kunst nennt Krobb den ‚reifen Realismus‘; seine Vertreter sind Berühmtheiten wie Theodor Fontane, nicht aber Karl May. Der reife Realismus nimmt die Ambivalenzen wahr, die von der Wirklichkeit ausgehen und die sich „zwischen Stabilisierung und Aufstörung“ bewegen. Dementsprechend bietet das Erzählen mal Erhellung, mal Verrätselung.
In einem ‚verrätselnden‘ Sinne – um Krobbs spezielle Interpretationen vorzustellen – bringt Fontane in Cécile das prekäre Thema der Homosexualität zur Sprache. „Ist es etwas, das man wissen muß?“, lässt er die Titelheldin fragen, die von ihrem Mann, der sich als Zensor ausspielt, nicht recht informiert wird – so dass dieser Moment der Erzählung in die „Fragilität von gesellschaftlichen Ordnungen und Konventionen schlechthin“ einführt. Krobb geht ebenso auf Fontanes Der Stechlin und dessen Thema ‚Prinz Heinrich und die Perversion‘ ein: Ein Thema, mit dem Fontane – Stichwort Erhellung – kühn eine denkbare „alternative Geschichte“ andeutet, die Friedrich den Großen von seinem Sockel holt; dieser hatte ja seinen Bruder Heinrich kaltgestellt. In Cécile unternimmt Fontane auch, so Krobb, eine „dualistische Vermessung der Welt“. Ausgangspunkt sind hier die Begriffe Hochmut und Demut, die zwei vielleicht in Einklang zu bringende Lebenshaltungen benennen.
Mehrfach geht es in diesem Band um Wilhelm Raabe. Krobb vergleicht ihn mit Karl Gutzkow; beide waren darauf aus, die Totalität der gesellschaftlichen Erfahrung zu erfassen. Gutzkow tat dies mit einer aberwitzigen Fülle von Motiven, mit einer „panoramischen Simultanität“, während Raabe auf das „kondensierte“ exemplarische Erzählen (etwa in den Leuten aus dem Walde) setzte.
Krobb berichtet auch ein Stück Rezeptionsgeschichte. Kurz nach 1900, als der damals junge ‚Heimatkünstler‘ Gustav Frenssen mit Jörn Uhl seinen großen Erfolg hatte, begannen die (jungen) Frenssen-Verehrer und die (alten) Raabe-Verehrer sich zu verbünden und „wechselseitig aufzuschaukeln“ mit dem Ziel, das deutsche Volk im konservativen Sinne zu erziehen. Allerdings schätzten sie Raabe falsch ein. Denn dieser schrieb auf vieldeutige Weise; Krobb spricht zum Beispiel von „einander aufhebenden Sinngebungen“.
Zwei Aufsätze befassen sich mit Karl May, wobei dieser als Vertreter einer ‚kolonialistischen‘ Literatur verstanden wird. Mays weltläufiger Hauptheld „diszipliniert“ den „kolonialen Raum gewissermaßen auf der Durchreise“, und dabei kennzeichnet ihn „eine Überfülle“ an Problemlösung. Krobbs Beurteilung passt gut dazu, dass er May, wie erwähnt, einen ‚unreifen Realismus‘ zuschreibt. Aber, so ist Krobb vorzuhalten, ist May überhaupt Realist? Über den punktuellen Rettungstaten seines Helden schwebt doch eine elende Atmosphäre der Vergeblichkeit, die May seinen Lesern auch mitteilt: Die Indigenen werden weiter ausgerottet (in Amerika), die Dörfer werden weiter überfallen und versklavt (in Subsahara-Afrika), die Behörden sind weiterhin korrupt (weltweit; dies ein Thema in dem Roman Satan und Ischariot, der Krobb besonders interessiert). Statt vom ‚Realisten May‘ wäre eher vom ‚kafkaesken May‘ zu sprechen. Tatsächlich haben Interpreten, als erster Hermann Wiegmann, May in die Nähe Kafkas gerückt.
Ein Höhepunkt des Bandes ist der Essay über Raabes Fluss-Erzählung Die Innerste. Krobb deutet sie – obwohl sie sich nicht auf in Geschichtsbüchern genannte Ereignisse bezieht – erstaunlicherweise als eine historische Erzählung. Sie zeige eine tiefe Skepsis gegenüber der gängigen plausibel und autoritär daherkommenden Historiografie samt der gründerzeitlichen Hochstimmung und zugleich doch wieder einen „trotzigen Geschichtsoptimismus“. Dieser Optimismus beruhe auf der persönlichen kreativen Vorstellung von einer neuen Geschichte mit neuen Zielen, insbesondere dem des weltweiten Friedens. Krobb (der sich hier ganz in der Nähe von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung bewegt) beruft sich auf die Lehre von Hayden White, derzufolge bei historischen Stoffen schon der Erzählstil historischen Sinn liefert. Krobbs Argumentation, die zwischen den Begriffen ‚poetische Darstellung‘ und ‚historische Darstellung‘ springt, ist detailreich, klar und schlüssig; auch wenn er Wortungetüme wie „Exemplarizität“ und „Leser:innenbeeinflussungsmechanismus“ benutzt.
Andere Autoren, die der Band behandelt, sind Gustav Freytag, Gottfried Keller und Ferdinand von Saar. Festgehalten sei noch, dass Florian Krobb trotz seines scharfen Beobachtens uns Leser doch auch zu einem entspannten Lesegenuss aufruft. Im Zusammenhang mit dem Motiv Musik im Stechlin spricht er einmal, von Fontane inspiriert, locker von der „Lächerlichkeit menschlichen Sinngebungsbestrebens“. Und als begeisterter Leser stellt er an anderer Stelle klar: „Natürlich schaffen die Texte neue Welten“, Welten, die uns erfreuen. Es lohnt sich sehr, diesen Band zu studieren.
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