Expertenleid

Merle Krögers „Die Experten“ und die Nachkriegskarrieren von Hitlers Raketenspezialisten in Ägypten

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Thriller ist ein Thriller ist ein Thriller – und nichts ist so aufregend wie die Wirklichkeit. Das Problem ist, sie ist nach anderen Kriterien inszeniert als ein Thriller, was eine/n Thrillerautor/in dazu zwingt, der Wirklichkeit einigen Zwang anzutun. Das hat man seinerzeit an einer Serie sehen können (24), in der in 24 Stundensequenzen die Handlung eines einzigen Tages vorgeführt wurde. Damit die hinreichend aufregend war, musste in diese 24 Stunden an Ereignissen gepackt werden, was sonst selbst – sagen wir für Top-Agents – in ein ganzes Jahr passt. Viele Ereignisse in kurzer Zeit heißt viele Entscheidungen unter Zeitdruck, was dann zu vielen, vielen weiteren aufregenden Ereignissen führt etc. Der Rest ist eben Schnitttechnik.

Dass Schnitte im Erzählen (filmisch oder literarisch) eine zentrale Rolle spielen, lässt sich – nebenbei bemerkt – am Nachfolgeprodukt von 24 beobachten, Designated Survivor (wieder mit Kiefer Sutherland in der Hauptrolle). Dort werden dieselben Schnitte auf deutlich größere Zeitabschnitte angewandt – was zu demselben Erzähltempo, zu denselben Überraschungsmomenten und zur selben Handlungsdichte führt. Und Und all das braucht ein Thriller heutzutage, um halbwegs genrekonform zu sein und um eben Leser/innen oder Zuschauer/innen zu binden.

Was uns schließlich doch zu Merle Krögers vorgeblichen Thriller Die Experten führt: Dieser Roman ist freilich kein Thriller, sondern mehr als Versuch anzusehen, eine internationale Affäre aufzunehmen, in die Anfang der 1960er Jahre die Bundesrepublik, Ägypten, Israel und eine Handvoll ehemaliger Flugzeugbau- und Raketeningenieure verwickelt waren, die schon für Hitlers Rüstungsprogramm aktiv gewesen waren.

Mit der Niederlage sind die Karrieren der meisten dieser „Experten“ besiegelt. Das Raketen- und Flugzeugprogramm des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser gibt ihnen eine neue Chance, vorgeblich mit Billigung bundesdeutscher Politikgrößen wie Franz-Josef Strauß, die das technische Know-how der deutschen Ingenieure erhalten wissen wollen. So gehen die deutschen Experten nach Ägypten und entwickeln für den jungen und ehrgeizigen Staat Waffen- und Flugsysteme. Wovon sich Israel, wohl nicht ohne Grund, bedroht fühlt. Das wiederum führt zu weiteren politischen Komplikationen, denn Know-how ist das eine, die Aussöhnung mit Israel, die dringend geboten ist, das andere. Und schwupp, steht das informelle Joint Venture mit Ägypten auf der Kippe. Hinzu kommt, dass Israel ernsthafte Anstrengungen unternimmt, das ägyptische Programm zu torpedieren, bis hin zu Entführungen und Anschlägen, denen unter anderem ein junger ägyptischer Ingenieur zum Opfer fällt.

Womit wir dann bei der Inszenierung dieses knapp zusammen gefassten Wikipedia-Artikels wären. Denn ein Roman, vielleicht ein Thriller, solls ja sein, und ohne eine Handlung mit Handlungsträgern läuft das eben nicht.

Dafür wählt Kröger die Tochter (Rita Hellberg) eines jener Experten (Friedrich Hellberg). Rita Hellberg geht mit Vater, Mutter und Schwester nach Ägypten (der Bruder Kai bleibt daheim) und arbeitet dort als Sekretärin im Raketenprogramm. Sie verliebt sich in einen der smarten Ägypter, die an dem Programm beteiligt sind. Als der aber an einem der Attentate stirbt, steigt sie aus und arbeitet stattdessen für einen jungen Journalisten, der aus Ägypten unter anderem über diese Rüstungsprogramme schreibt. Auch er ist, wie so viele Akteure im Ensemble, am Ende doch ein israelischer Agent – was, nebenbei bemerkt, Ritas Entscheidung, für ihn tätig zu werden, wenig plausibel macht. Bei aller Moral wechselt sie damit immerhin die Seiten, auf die es – wie auch ihr nicht entgehen kann – mehr und mehr ankommt, bis sie schließlich wieder nach Deutschland zurückkehrt, um mit ihrem Bruder Kai, der in Deutschland zurückgeblieben war, einen Jazz-Club zu eröffnen. Immer also am Nabel der Zeit.

Allerdings ist Krögers inszenatorisches Problem, dass sie die politische Affäre nicht nahtlos auf die Ebene der handelnden Personen herunterbrechen kann. Um das auszugleichen, verschneidet sie die subjektive Ebene der Akteure mit der politischen, in dem sie etwa Berichte von BND-Agenten und Presseberichte in die Handlung einblendet, damit also die politische Auswirkung dessen, was die Einzelnen tun, immer einblendet. Was für eine erzählerisch tragfähige Engführung von politischem und persönlichen Geschehen fehlt, ist jedoch die Entwicklung über die Handlung selbst: Sie plätschert vor sich hin, die Affäre wird vorgeführt, der Skandal wird vorschriftsmäßig aufgetischt, aber er erfährt keinen Mehrwert aus der Erzählung selbst. Alle Bemühungen Krögers, das Ganze durch familiäre Stressproben, die aufsteigende Popkultur (über den Bruder Kai), die beginnende Studentenrevolte oder andere alltagskulturelle Entwicklungen aufzuwerten, scheitern letztlich daran, dass sie nur wenig mit der Handlung verbunden werden.

Zwar ist ihre Überlegung, die einzelnen Erzählabschnitte über Schnappschüsse, also Fotos, die vor allem von Rita gemacht und die jeweils zu deren Beginn geschildert werden, zu entwickeln, interessant. Die Wirkung verpufft jedoch, weil hinter dem gesamten Projekt offensichtlich die Absicht steht, die skandalöse Verwicklung der bundesdeutschen Politik in ein neuerliches Raketen- und Flugzeugprogramm wieder ins Bewusstsein zu rücken. Der wahre Thriller eben, kein Zweifel. Der müsste aber, um literarisch zu wirken, anders inszeniert werden. So bleibts Wirklichkeit, halbwegs abgepaust.

Titelbild

Merle Kröger: Die Experten. Thriller.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
688 Seiten, 15,95 EUR.
ISBN-13: 9783518469972

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